IV

Sos sah durch seine geschlossenen Lider einen zitternden Lichtschein und erwachte. Sol lag neben ihm. Er schien noch am Leben zu sein. Im flackernden Rot eines vor dem Zelt brennenden Feuers sah er Sola. Sie war nackt.

Jetzt bemerkte er, daß sie alle nackt waren.

»Die Kleider hängen auf der Leine neben dem Feuer«, hörte er sie sagen. »Ihr habt vor Kälte so gezittert, daß ich euch das triefende Zeug ausziehen mußte. Meine Sachen waren ebenfalls naß.«

»Du hast recht getan«, sagte er. Er fragte sich, wie sie es wohl geschafft hatte, ihm die Sachen auszuziehen. Das mußte für sie eine ordentliche Plackerei gewesen sein.

»Jetzt müßten die Sachen schon trocken sein«, sagte sie. »Aber die Falter . . .«

Er sah, daß das Zeltleinen sie vor den Biestern schützte. Sola hatte das Feuer so angelegt, daß der Schein durch das dünne Netz am Eingang einfiel und das Innere erwärmte, ohne daß sie dabei vom Rauch behelligt wurden. Sie hatte die beiden Männer mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gelegt. Sie selbst kauerte zwischen ihnen und beugte sich so weit vor, daß die Zeltplane ihren Rücken nicht berührte. Keine bequeme Lage, dachte Sos, obwohl er aus diesem Blickwinkel ungehindert ihren Busen betrachten konnte.

Er schalt sich im stillen, daß ihn zu so unpassender Zeit sinnliche Gedanken bewegten. Doch lief es immer auf dasselbe hinaus. Er konnte Sola nicht ansehen, ohne daß er sie begehrte. Das hatte ihn schon im Traum erschreckt: Daß er die Frau eines Gefährten nahm und dadurch der Unehre verfiel. Sola hatte sehr vernünftig und besonnen gehandelt und ihren Mut bewiesen. Ihrem Verhalten ein sexuelles Motiv zu unterstellen, war eine Beleidigung. Sie war nackt und begehrenswert, aber sie trug den Armreif eines anderen.

»Vielleicht sollte ich lieber die Sachen hereinholen«, sagte er.

»Nein. Die Falter schwirren überall, viel dichter als je zuvor. Dummerchen platzt schon fast, so viele hat er gefressen. Aber wir dürfen nicht einmal die Hand hinausstrecken.«

»Ich werde aber das Feuer neu schüren müssen.«

Draußen war es kalt, das spürte er trotz der Treibhausatmosphäre in dem geschlossen Zelt. Und er sah, daß sie ebenfalls fröstelte.

»Wir könnten uns dichter zusammendrängen«, sagte sie. »Das wird uns warmhalten, wenn Ihr mein Gewicht aushalten könnt.«

Wieder sehr vernünftig von ihr. Das Zelt bot nicht genügend Platz für drei. Wenn Sola sich auf die beiden Männer legte, gab es mehr Platz und mehr Wärme. Beides war dringend notwendig.

Und sie verhielt sich betont sachlich.

Sollte er schwächer sein als sie?

Ihre Schenkel berührten seinen Fuß, ein wunderbares Gefühl. Dann hatte sie ihr Gewicht richtig verlagert. Verbotene Gefühle bewegten ihn jetzt.

»Ich glaube, er hat das Fieber überstanden«, sagte sie. »Wenn wir ihn heute nacht warmhalten können, hat sich sein Zustand bis morgen erheblich gebessert. . .«

»Möglich, daß das Gift der Mäuse dem Faltergift entgegengewirkt hat«, sagte er, froh darüber, das Thema wechseln zu können. »Wo sind wir eigentlich? Ich kann mich an den Weg hierher nicht erinnern.«

»Hinter dem Hügel auf der anderen Seite des Flusses. Ich glaube nicht, daß die Mäuse uns hier einholen können. Heute Nacht jedenfalls nicht. Oder wandern sie in der Nacht etwa auch?«

»Das glaube ich nicht. Bestimmt nicht, wenn sie tagsüber unterwegs waren. Irgendwann müssen sie auch rasten.« Er machte eine Pause. »Wir sind flußaufwärts gegangen? Das würde bedeuten, daß wir uns noch tiefer im Ödland befinden.«

»Aber Ihr habt doch gesagt, die Strahlung wäre nicht mehr vorhanden!«

»Ich habe nur gesagt, daß sie immer schwächer wird. Wie rasch und wie weit das geht, weiß ich nicht. Wir befinden uns vielleicht schon wieder im Strahlungsgebiet.«

»Ich spüre nichts«, sagte sie nervös.

»Das kann man nicht spüren.« Eine Debatte darüber war zwecklos. Es gab keine Möglichkeit, der Strahlung auszuweichen, wenn man einmal in ihr Randgebiet gekommen war. »Wenn die Pflanzen hier keine Veränderungen aufweisen, ist alles in Ordnung. Die Strahlen töten alles.« Doch die Insekten waren hundertmal unempfindlicher als die Menschen, und die Zahl der Falter hatte unermeßlich zugenommen.

Jetzt war die Unterhaltung verstummt. Er wusste, warum. Obwohl sie beide wussten, daß sie Wärme erzeugen mußten, wäre es doch peinlich gewesen, die Situation schamlos auszunützen. Er konnte sie nicht einfach einladen, ihre üppigen Brüste an seinen nackten Körper zu drücken, und sie konnte sich nicht ohne besonderen Grund auf ihn legen. Was dem Verstand nach durchaus berechtigt war, blieb in Wirklichkeit peinlich. Um so peinlicher, als ihn schon die Vorstellung einer solchen Berührung erregte, wenn sie auch aus noch so sachlichen Gründen geschah. Er war sicher, daß sie ihm die Erregung anmerken würde. Vielleicht hatte sie aber ein ebenso starkes Interesse daran. Sie wussten ja beide, daß Sol sie nie zur Frau machen würde.

»Der größte Beweis von Mut, den ich je erlebt habe«, murmelte sie, »zurückzugehen und das Zelt zu holen!«

»Das mußte sein. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Nur noch, daß du mich unbarmherzig angetrieben hast.« Das hatte nicht sehr freundlich geklungen. »Du hattest natürlich recht. Das hat mich in Trab gehalten. Ich wusste ja gar nicht mehr, was ich tat.«

»Ich habe nur einmal >weiter< gerufen.«

Also war das auch nur eine Halluzination gewesen?

»Aber du hast mich vor den Mäusen gerettet«, sagte er.

»Ich hatte Angst vor ihnen. Und Ihr habt Sol einfach auf die Schultern genommen und seid mir nachgegangen. Ich dachte schon, Ihr seid erledigt, als Ihr gestrauchelt seid. Aber Ihr habt Euch wieder hochgerappelt.«

»In den Büchern nennt man das die Kraft der Hysterie.«

»Ihr seid sehr stark«, stimmte sie ihm bei, ohne ihn zu verstehen. »Mit den Händen nicht so geschickt wie er - aber viel stärker. «

»Trotzdem - du hast die Ausrüstung getragen«, erinnerte er sie. »Und du hast alles wieder aufgebaut.« Er betrachtete das Zelt. Sie hatte neue Pflöcke schnitzen müssen. Die alten waren beim überstürzten Abbruch während der Mäuseinvasion verlorengegangen. Diese Pflöcke hatte sie dann mit einem Stein in den Boden gerammt. Das Zelt stand zwar nicht ganz fachgerecht da, und sie hatte auch vergessen, einen Entwässerungsgraben zu ziehen. Doch die Stangen standen fest, und die Zeltklappe war verschlossen. Mit etwas Glück und Umsicht würde es gelingen, die Falter fernzuhalten, und die Anlage des Feuers war geradezu genial. »Ausgezeichnet gemacht. Du bist geschickter, als ich dir ursprünglich zugetraut habe.«

»Danke«, sagte sie und senkte den Blick. »Es mußte sein.«

Wieder Schweigen. Das Feuer sank in sich zusammen. Er sah nur noch die Umrisse ihres Gesichtes und die Konturen ihrer Brüste. Sehr hübsch. Jetzt war es Zeit, sich zusammen hinzulegen. Doch sie warteten beide noch ab.

»Manchmal haben wir im Freien kampiert - damals, als ich noch mit meiner Familie zusammen war«, sagte sie. »Deswegen weiß ich, daß man ein Zelt am Abhang aufstellt. Für den Fall, daß es regnet.« Also hatte sie tatsächlich an die Notwendigkeit der Entwässerung gedacht! »Wir haben am Lagerfeuer immer Lieder gesungen - meine Brüder und ich. Wir wollten abends immer möglichst lange aufbleiben.«

»Wir auch«, sagte er, in Erinnerungen schwelgend. »Aber jetzt kann ich mich nur noch an ein Lied erinnern.«

»Sing es mir vor!«

»Das kann ich nicht«, weigerte er sich verlegen. »Meine Stimme ist nicht gut genug dafür.«

»Meine doch auch nicht. Wie heißt das Lied?«

»Greensleeves - eine Liebesballade.« Er stimmte den sehnsüchtigen Refrain an.

»Kann ein Mann eine Frau wirklich so lieben?« fragte sie nachdenklich.

»Manchmal. Das hängt vom Mann ab. Auch von der Frau, nehme ich an.«

»Das müßte nett sein«, sagte sie traurig. »Niemals hat mir jemand seinen Armreif nur aus Kameradschaft überlassen. Außer . . .«

Sos merkte, daß sie zu Sol hinübersah. Er unterbrach ihre Gedankengänge. »Was suchst du bei einem Mann?«

»Vor allem den Führer. Mein Vater hat in seinem Stamm nur eine zweitrangige Rolle gespielt. Er wurde nie ein Stammesherr. Außerdem war unser Stamm nicht sehr groß. Schließlich wurde er schwer verwundet und hat sich zu den Irren zurückgezogen. Ich schämte mich dessen so sehr, daß ich mich selbständig gemacht habe. Ich möchte einen Namen, den jeder bewundert. Das wünsche ich mir mehr als alles andere.«

»Vielleicht hast du diesen Namen schon. Sol ist ein überragender Krieger und möchte ein eigenes Reich schaffen.«

Was sein Name ihr nicht geben konnte, sprach er auch jetzt nicht aus. »Ja.« Das klang nicht sehr glücklich.

»Und wie heißt dein Lied?«

»Red River Valley. Ich glaube, diesen Ort hat es tatsächlich gegeben - vor dem Weltenbrand.«

»Das stimmt. In Texas, glaube ich.«

Ohne daß er sie dazu drängte, stimmte sie das Lied an. Ihre ungeübte Stimme war viel besser als seine.

Denk an den Red River und denk an das Mädchen, das treu dich geliebt . . .

»Wie kommt es, daß Ihr ein Gelehrter seid?« fragte sie dann, als wollte sie die Vertraulichkeit, die das Lied geschaffen hatte, wieder verdrängen.

»Die Irren haben im Osten eine Schule«, erklärte er. »Wißbegierig war ich schon immer. Ich habe Fragen gestellt, die niemand beantworten konnte - zum Beispiel die Frage nach der Ursache des Weltenbrandes. Schließlich haben mich meine Eltern zu den Irren geschickt. Ich sollte für sie arbeiten, und sie sollten mir dafür eine Erziehung angedeihen lassen. Also schleppte ich ihre Geräte und machte ihre Stuben sauber. Sie brachten mir dafür das Lesen und Rechnen bei.«

»Das muß schrecklich gewesen sein!«

»Es war herrlich! Ich hatte einen breiten Rücken, deswegen hat mir die Arbeit nichts ausgemacht. Als sie merkten, daß ich wirklich lernen wollte, steckten sie mich den ganzen Tag in die Schule. Die alten Bücher, die enthielten unglaubliche Dinge! Ich habe eine ganze Weltgeschichte gefunden - die Geschichte vor dem Weltenbrand, die Tausende von Jahren zurückreichte. Es hat früher Nationen und Reiche gegeben, die viel größer waren als heutzutage die Stämme. Und so viele Menschen, daß die Nahrung für sie nicht ausreichte! Man hat sogar Raumschiffe gebaut und wollte hinaus ins All zu den anderen Sternen, die wir am Himmel sehen . . .«

»Ach«, meinte sie enttäuscht, »das sind doch nur Sagen.«

Er gab es auf. Von den Irren abgesehen, kümmerte sich niemand um die Vergangenheit. Für den Durchschnittsmenschen begann die Welt mit dem großen Brand. Weiter zurück reichte die Wißbegierde nicht. Auf dem Erdkreis gab es zwei Gruppen, die Krieger und die Irren, sonst nichts. Die Krieger bildeten Nomadenfamilien und Stämme, die von Herberge zu Herberge zogen und von Lager zu Lager. Sie hatten sich eine eigene Satzung geschaffen und erzogen ihre Kinder danach. Die Irren hingegen waren Denker und Planer, die sich aus erfolglosen Kriegern und solchen, die sich im Ruhestand befanden, zusammensetzten.

Sie verwendeten große, vor dem Weltenbrand erfundene Maschinen, um Herbergen zu bauen und Wege durch die Wälder zu bahnen. Sie lieferten Waffen, Bekleidung und andere Gebrauchsgegenstände, behaupteten jedoch, diese Dinge nicht selbst zu erzeugen. Niemand wusste, woher diese Güter kamen. Kein Mensch machte sich auch deswegen Gedanken. Die Menschen hatten nur Sinn für die Aufgaben des Alltags, für die Probleme des Augenblicks. Solange dieses System funktionierte, kümmerte sich niemand um die Zusammenhänge. Wer sich mit den Studien der Vergangenheit abgab und mit unpraktischen Dingen beschäftigte, war irr. Daher der Name »Irre«. Das waren Männer, die den Nomaden sehr ähnlich waren, oft die Wahrheit kannten und alles andere als verrückt waren.

Sos hatte die Irren mit der Zeit achten gelernt. Die Vergangenheit war Sache der Irren - und, wie er vermutete, auch die Angelegenheiten der Zukunft. Sie allein führten nicht nur ein kontemplatives, sondern auch ein produktives Leben. Die gegenwärtige Situation war wohl zum Untergang verurteilt. Wie die Geschichte lehrte, war die Anarchie mit der Zeit immer von einer Zivilisation abgelöst worden.

»Warum seid Ihr kein . . .« Sie unterbrach sich. Jetzt war der letzte Funken des Feuers erloschen. Nur ihre Stimme zeigte noch ihren Standort an. Durch seine sitzende Haltung hatte er seine Körperwärme ihr vorenthalten. Er spürte es, obwohl sie sich nicht beklagt hatte.

». . . kein Irrer?« Das hatte er sich selbst schon oft gefragt. Doch das unbekümmerte Nomadenleben hatte auch seinen Reiz und seine schönen Momente. Auch war es gut, wenn man den Körper übte und sich als Krieger Ansehen verschaffte. Die Bücher enthielten viele Wunder. Aber auch die Welt von heute war voller Wunder. Er wollte beides - das Erlebnis des Geistes und des Körpers. »Ich glaube, ich bin auch glücklich mit einem Mann kämpfen zu können, wenn ich das will, und eine Frau zu lieben, wenn ich sie begehre. Es ist gut, einfach das zu tun, was ich will, ohne auf jemanden angewiesen zu sein, nur auf die Kraft meiner Arme im Ring vertrauend.«

Doch das stimmte ja nicht mehr! Er war seiner Rechte im Ring verlustig gegangen, und die Frau, die er begehrte, hatte sich an einen anderen gebunden. Seine eigene Dummheit hatte ihn in diese unbefriedigende Lage gebracht.

»Wir müssen schlafen«, sagte er schroff und legte sich hin.

Sie wartete, bis er sich zurechtgelegt hatte, und rollte sich dann, ohne ein Wort zu sagen, auf ihn. Sie legte sich mit dem Gesicht nach unten auf die Rücken der Männer. Sos spürte ihren Kopf mit den weichen Haaren auf der rechten Schulter. Ihre Flechten kitzelten ihn zwischen Arm und Rumpf. Doch er wußte, daß die Frauen sich der sexuell anregenden Wirkung von langen Haaren nicht immer bewusst waren. Ihre warme linke Brust lag auf seinem Rücken, der weiche Schenkel an seinem Knie. Ohnmächtig ballte er in der Dunkelheit die Fäuste.