VI

»Schlagt eure Zelte am Abhang auf, immer zwei Männer pro Zelt oder eine Familie. Die Reserveausrüstung lassen wir am anderen Ufer«, befahl Sos seiner Gruppe, als sie im Tal angekommen waren. »Zwei Männer werden Tag und Nacht das Lager abschreiten. Die übrigen arbeiten am Tag und bleiben während der Nacht ohne Ausnahme in ihren Zelten. Die Nachtwachen werden sich durch Netze schützen und müssen jeden Kontakt mit den weißen Faltern vermeiden. Wir stellen jeden Tag vier Männer ab, die auf die Jagd gehen. Sie werden von vier Trägern begleitet. Die übrige Mannschaft wird den Graben ausheben.« »Warum?« fragte einer. »Was soll dieser Unsinn?« Das war Nar, ein prahlerischer Dolchkämpfer, der Befehle nicht gern befolgte. Sos erklärte den Grund.

»Erwartet ihr wirklich, daß wir einem Waffenlosen diese phantastische Geschichte glauben sollten?« rief Nar verärgert.

»Einen Mann, dem Vögel wichtiger sind als Kämpfe?«

Sos beherrschte sich. Er hatte gewusst, es würde zu diesem Auftritt kommen. Immer gab es ein paar Flegel, die glaubten, Ehre und Ritterlichkeit wären nur auf den Ring beschränkt. »Du wirst heute nacht Wache halten. Wenn du mir nicht glauben willst, brauchst du es ja nur darauf ankommen zu lasse. Laß dich doch von den Insekten stechen!« Er gab weitere Anweisungen, und die Männer machten sich daran, das Lager aufzubauen.

Tyl kam auf ihn zu. »Falls es Ärger mit den Leuten gibt, dann . . .« murmelte er.

Sos verstand. »Danke«, sagte er grimmig.

Nachmittags wurde es höchste Zeit, den Graben zu vermessen, den Sos plante. Sos wählte ein paar Leute aus und legte eine Schnur auf den Boden, die er an Pflöcken, die in den Boden gerammt waren, befestigte. Auf diese Weise grenzten sie einen weiten Halbkreis ab, der die am Flußufer gelagerte Ausrüstung umschloß. Der Radius betrug vierhundert Meter.

Als die Dämmerung hereinbrach, verpflegten sie sich aus ihren Vorräten. Sos inspizierte persönlich alle Zelte und bestand darauf, daß Ritzen und Spalten zwischen den Planen sofort zugestopft wurden. Sinn und Zweck dieser Anordnung war es, alles sicher abzudichten. Kein einziger Falter durfte in die Zelte hinein. Es erhob sich zwar ein allgemeines Murren; man befolgte aber Sos' Anweisungen. Als sich die Nacht über das Tal senkte, zogen sich alle Leute bis auf die zwei Wachen in die Zelte zurück.

Sos legte sich zur Ruhe. Er war zufrieden. Das war ein guter Anfang gewesen. Er fragte sich, wo sich wohl die Falter untertags verbergen mochten. Es mußte ein sicherer Ort sein, wo weder die Sonne noch die Mäuse sie erreichen konnten.

Sav, der mit ihm das Zelt teilte, war nicht so optimistisch. »Im Red River Valley wird es Ärger geben«, bemerkte er.

»Im Red River Valley?«

»Na, nach dem Lied, das Ihr immer summt. Ich kenne sämtliche Strophen.«

»Na schön«, sagte Sos, peinlich berührt.

»Den Leuten wird das Graben und Tragen bald über sein«, fuhr Sav fort. Sein sonst so freundliches Gesicht war ernst. »Die Kinder werden über Nacht nicht in den Zelten bleiben wollen. Die kümmern sich um keine Lagerordnung. Falls ein Kind gestochen wird und stirbt . . .«

». . . dann werden die Eltern mich dafür verantwortlich machen. Ich weiß.«

Disziplin war unbedingt nötig. Es war nötig, ein Exempel zu statuieren, bevor ihm die Zügel aus der Hand glitten.

Die Gelegenheit dazu ergab sich früher, als ihm lieb war. Am Morgen wurde Nar in seinem Zelt ertappt. Er hatte keinen Stich von den Faltern abbekommen. Er hatte die Wache im Zelt verschlafen.

Sos berief sofort eine Versammlung ein. Er suchte sich drei Männer aufs Geratewohl heraus. »Ihr seid offizielle Zeugen. Gebt acht auf alles, was ihr heute morgen zu sehen bekommt, und merkt es euch.« Sie nickten verwundert.

»Führt die Kinder weg«, befahl er als nächstes. Jetzt regten sich die Mütter auf, weil sie merkten, sie würden etwas Wichtiges versäumen. Ein paar Minuten später waren nur noch die Männer und die Hälfte der Frauen anwesend.

Er ließ Nar vortreten. »Du wirst beschuldigt, deine Pflichten vernachlässigt zu haben. Man hat dir die Wache übertragen. Statt dessen hast du im Zelt geschlafen. Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?«

Nar war wütend, daß man ihn erwischt hatte. Seine Verteidigung war auf Frechheit aufgebaut. »Na, Vogelmann, was wirst du jetzt unternehmen?«

Das war eine peinliche Situation. Sos konnte nicht sein Schwert ziehen und gleichzeitig seinem Eid treu bleiben, obwohl er keinen Zweifel hegte, gegen diesen Mann im Ring leicht bestehen zu können. Er konnte es sich auch nicht leisten, wochenlang zu warten, bis Sol wieder auftauchte. Er mußte sofort handeln.

»Durch deine Nachlässigkeit hätten die Kinder im Lager den Tod finden können«, sagte er. »Zelte hätten undicht werden, oder die Mäuse hätten während der Nacht kommen können. Solange wir uns gegen diese Gefahren nicht genügend abgesichert haben, kann ich nicht zulassen, daß die Nachlässigkeit eines einzigen Mannes die ganze Gruppe gefährdet.«

»Welche Gefahr? Wie kommt es, daß keiner von uns bis jetzt diese Tierchen zu Gesicht bekommen hat?« erklärte Nar lachend. Auch unter den Zuschauern schienen einige erheitert. Sav lachte nicht. Er hatte genau das kommen sehen.

»Trotzdem garantiere ich dir ein ordentliches Verfahren«, sagte Sos ruhig. »Einen Zweikampf.«

Noch immer lachend zog Nar seine zwei Dolche aus dem Gürtel. »Ich werde mir einen großen Vogel zurechtschneiden.«

»Tyl, du übernimmst den Fall«, sagte Sos und drehte sich um. Er bemühte sich, seine Erregung niederzukämpfen. Sonst wäre er als Feigling gebrandmarkt gewesen.

Tyl trat vor und zog sein Schwert. »Bildet einen Kreis«, sagte er.

»Augenblick!« protestierte Nar beunruhigt. »Ich soll doch mit Sos kämpfen, mit dem Vogelhirn!«

Dummerchen hockte auf der Schulter von Sos. Im Moment hätte sich Sos allerdings gewünscht, die Treue des Vögelchens würde sich nicht so augenfällig äußern.

»Du stehst im Dienst von Sol«, sagte Tyl, »und bürgst mit deinem Leben dafür wie wir alle. Er hat Sos zum Führer dieser Gruppe ernannt, und Sos hat mich beauftragt, für Disziplin zu sorgen.«

»Na schön!« rief Nar unverschämt, obwohl er Angst hatte. »Dann bekommst eben du meinen Dolch in den Leib!«

Sos blickte weg, als das Kampfgetümmel anfing. Er war weder stolz auf sich noch auf das, was er hatte tun müssen. Doch hatte er keine andere Möglichkeit gesehen. Falls dieser Vorfall ein für allemal Disziplinlosigkeiten unterband, war die Sache den Aufwand wert. Es mußte sein.

Ein Schrei und Gurgeln ertönte, gefolgt vom dumpfen Aufprall eines Körpers auf dem Boden. Tyl stand neben dem Toten und wischte das helle Blut von seinem Schwert. »Er ist schuldig gesprochen worden«, sagte er leise.

Warum fühlte Sos sich jetzt ebenfalls schuldig?

Nach einer Woche war der Graben fertig, und die Leute schütteten bereits einen Wall hinter dem Graben auf. Sos hatte darauf bestanden, den Graben ganz flach anzulegen.

»Ein so kleines Rinnsal wird die Biester kaum aufhalten«, bemerkte Sav zweifelnd. »Habt Ihr nicht gesagt, daß sie schwimmen können?«

»Richtig!« Sos inspizierte die bewachten Feuerstellen, die am Innenrand des Grabens in Abständen von hundert Metern angelegt worden waren.

Inzwischen schleppten Träger Alkoholfässer aus allen Herbergen in der Nähe des Ödlandes herbei. Der Alkohol war aber nicht zum Trinken bestimmt. Die Fässer wurden in regelmäßigen Abständen am Wall aufgestellt.

Wieder verging eine Woche. Keine einzige Maus ließ sich blicken. Eine Reihe von Kampfringen wurde angelegt, ein riesiges Hauptzelt aus zusammengenähten Einzelzelten hergestellt. Doch die Gruppe übernachtete weiterhin in den kleinen Zelten am anderen Flußufer.

Dort waren sie besser geschützt. Die Jagdgruppen meldeten, daß Wild jetzt häufiger anzutreffen war: Rotwild, wilde Ziegen, Wölfe und Großkatzen, ein paar Wildschweine und viele Nagetiere. Auf jeden Fall gab es genug frisches Fleisch für alle.

Tyl sorgte weiter für Disziplin; gewöhnlich mit dem Stock. Eine einzige Exekution, obwohl von zweifelhafter Berechtigung, hatte genügt. Doch die scheinbare Sinnlosigkeit der Arbeit machte die Leute mürrisch. Sie waren ehrenhafte Kämpfer, nicht an manuelle Arbeit gewöhnt, und wollten von einem »Feigling«, der keine Waffe trug, nur ungern Befehle entgegennehmen.

»Besser wäre es, Ihr führt Sie selbst aus«, sagte Sav. Er meinte damit eine von Tyls Anordnungen. »Das muß erledigt werden - das wissen wir alle -, doch wenn Tyl es tut, wird er zum Anführer. Kein Mensch respektiert Euch. Na, und der Vogel ist ja auch gerade kein Pluspunkt.«

Sav war ein so harmloser, unbekümmerter Kerl, daß man sein Gerede unmöglich als Beleidigung auffassen konnte. Er hatte ja recht. Sos führte seine Pläne auf Kosten seines Ansehens aus, das von vornherein schon kein gutes gewesen war. Keiner dieser Menschen kannte die Umstände, unter denen er seine Waffen verloren hatte, oder den Vertrag, der ihn an Sol band, und er hatte kein Interesse, es jedem auf die Nase zu binden.

Tyl war jetzt praktisch zum Führer der Talgruppe aufgerückt.

Falls Sol nicht zurückkam, würde Tyl sicherlich die Macht an sich reißen. Er hatte ja ursprünglich einen eigenen Stamm aufbauen wollen und war ein äußerst geschickter Kämpfer. Wie Sol, hatte er unfähige Leute nicht als Gefolgsmänner angenommen und während seiner Wanderungen nur einen Krieger gewonnen. Wie Sol, wusste er aber auch zu würdigen, was man aus Durchschnittskämpfern machen konnte, wenn man sie richtig trainierte. War seine Hilfsbereitschaft echt, oder wartete er nur seine Zeit ab, während er bereits eine Gruppe von Anhängern um sich scharte?

Sos durfte keine Waffe tragen. Er war von Tyls gutem Willen und seinen eigenen geistigen Fähigkeiten abhängig. Er mußte ein Jahr Lehensdienst ableisten und hatte die Absicht, die Zeit ehrenhaft abzudienen. Danach . . .

In der Nacht sah er Solas Gesicht und spürte ihren Körper. Ihr Haar lag an seiner Schulter. Auch bei ihr würde er als Mann ohne Waffe nichts ausrichten. In Wahrheit war er Sols ehrgeizigen Plänen ebenso gefährlich wie Tyl, weil er das anstrebte, was nur die absolute Führerschaft erreichen konnte. Sola würde nie den Armreif des zweiten Kriegers im Stamm oder gar des dritten oder vierten annehmen. Daran hatte sie keinen Zweifel gelassen.

Selbst wenn er eine Waffe gehabt hätte, wäre er Sol und auch Tyl im Ring nicht gewachsen gewesen. Auf einen Sieg zu vertrauen, wäre lebensgefährlich und unrealistisch gewesen. Bis zu einem gewissen Grad stellte sein waffenloser Status sogar einen Schutz für ihn dar.

Und da kam der Tag, wo die Spitzmäuse doch zuschlugen Am Spätnachmittag brodelten sie über den Abhang herunter und strömten auf die Abwehranlagen des Lagers zu. Sos war sogar froh, als er sie sah. Ihr Auftauchen würde wenigstens seine Vorsichtsmaßnahmen rechtfertigen. Die Biester waren schon länger nicht hiergewesen, wie das Wiederauftauchen des Wildes bewies. Wenn sie überhaupt nicht gekommen wären, hätte das paradoxerweise sein Programm empfindlich gestört.

»Die Fässer herunter!« rief er, und die für diese Aufgabe bestimmten Leute stachen die Plastikbehälter an und schüttete die Flüssigkeit in den flachen Graben.

»Frauen und Kinder in die Zelte!« Unter schrillem Protestgeschrei, weil sie etwas Aufregendes zu versäumen fürchteten, durchwateten die Familien den Fluß und erklommen den Abhang.

»Mit den Waffen aufstellen!« Alle nicht anderweitig Beschäftigten stellten sich in Abwehrformation auf. Als sie die Größe des Schwarmes ihres Gegners sahen, waren sie doch peinlich berührt. Es waren fünfzehn Männer und ein paar halbwüchsige Jungen versammelt. Die Jagdabteilung war noch unterwegs. Männer an den Fässern schüttelten den letzten Tropfen Alkohol heraus, nicht ohne bedauernde Blicke auf die verschwendete Flüssigkeit. Dann stellten sie sich neben den Holzgriffen der Brandwerfer auf. Sos wartete noch, in der Hoffnung, die Jäger würden auftauchen. Doch keiner von ihnen tauchte in der Nähe des Lagers auf.

Die Mäuse wogten am Rand des Grabens. Dort gerieten sie ins Stocken, weil sie dem Geruch des Alkohols mißtrauten. Wie beim letztenmal sprangen die mutigsten Tiere zuerst, dann setzte die Massenüberquerung ein. Sos fragte sich, ob die Tiere sich ebenso am Alkohol berauschen konnten wie Menschen.

»Feuer!« rief er. Der Trommler schlug eine langsame, regelmäßige Kadenz. In regelmäßigen Abständen legten die Männer Feuer an die Zünder und sprangen sofort wieder zurück. Das war einer der wunden Punkte des Ausbildungsprogramms gewesen: Erwachsene Männer mußten nach einem bestimmten Rhythmus gedrillt werden.

Ein Flammenvorhang schoß vom Graben hoch. Gestank und Rauch von nicht vollständig verbranntem Alkohol verpestete die Luft. Jetzt waren sie von einem wachsenden Halbkreis aus Feuer eingekreist. Die Männer an den Brandwerfern schirmten die Augen ab und blickten offenen Mundes in die Flammen. Jetzt erst konnten sie ermessen, was dem Mann hätte passieren können, der dem Feuer zu langsam auswich.

Sos hatte diesen Plan sorgfältig ausgearbeitet. Aus seiner Lektüre wusste er, daß Alkohol in seinen verschiedenen Formen auf dem Wasser schwamm und dort auch besser brennen würde als am Land, wo Erde oder Holz ihn aufsaugen konnten. Die Wasserschicht im Graben war die ideale Unterlage. Die Strömung würde den Alkohol entlang des ganzen Kreises verteilen. Er war froh, daß er jetzt den Beweis dafür hatte. Sogar er selbst war von Zweifeln geplagt gewesen, da sein gesunder Menschenverstand ihn gewarnt hätte, weil das Wasser sonst doch ein Feuer löschte. Wieso hatte er nicht vorher ein Experiment gemacht?

Einige Tiere hatten es geschafft. Die Männer waren bereits eifrig dabei, den Boden mit Stöcken und Keulen zu bearbeiten und die wilden und flinken Tierchen zu erschlagen. Einige fluchten, als sie Bisse abbekamen. Jetzt konnte man die Gefährlichkeit und die Wildheit der kleinen Feinde nicht mehr verächtlich machen,

Die Flammen sanken in sich zusammen. Der Alkohol verflüchtigte sich zu rasch. Auf ein Zeichen von Sos hin rollten die Männer weitere Fässer aus dem großen Hauptzelt. Sie mußten mit dem Ausgießen warten, bis das Feuer völlig erloschen war, sonst wären sie inmitten der Flammen gefangen gewesen, oder die explodierenden Fässer hätten sie in Stücke gerissen. Das warf ein Problem, das Sos nicht vorausgesehen hatte. Der Brand im Gräben war zwar erloschen, doch einzelne Flammen züngelten noch an den Grabenrändern, wo der Zündstoff in den Boden eingesickert war.

Tor, der Schwertkämpfer, kam mit versengtem Bart zu Sos. »Der obere Grabenabschnitt ist gefährdet«, keuchte er. »Wenn Ihr dort nicht sofort ausgießen laßt . . .«

Sos fluchte. Das er nicht früher daran gedacht hatte. Die Stimmung hatte den höher gelegenen Abschnitt des Grabens natürlich zuerst von den Flammen und Leichen gesäubert, schwärmten bereits neue Angriffswellen der Mäuse herüber, um ihre gebratene Vorhut zu vertilgen und die Brustwehr zu erklimmen. Dort konnte man ein ganzes Faß auf einmal hineinschütten. Die Strömung würde den Alkohol verdünnt durch den ganzen Graben schwemmen und es ihnen ermöglichen, Feuer unter Kontrolle zu halten. »Kümmere dich darum!« wies er Tor an. Dieser lief weg und rief die Männer, die in der Nähe standen, zu Hilfe.

Alle schlugen und droschen auf das wimmelnde Heer dieser winzigen Säugetiere ein. Der Schwärm jenseits des Grabens erinnerte Sos wieder an eine Abteilung von Ameisen, nur fehlte den Mäusen die Organisation der Insekten. Als Tor Sos' Plan in die Tat umsetzte, flammte das Feuer wieder auf, doch schien die Zahl der Feinde nicht abzunehmen. Woher kamen diese Massen bloß?

Sos sollte das bald herausfinden. Die Mäuse schwammen hinaus in den Fluß und kehrten hinter der Grabeneinmündung wieder ans Ufer zurück. Viele schafften es nicht, weil sie von ihrem Trupp abgetrieben wurden. Sie schwammen dann ans andere Ufer und gingen dort an Land. Viele ertranken in der Hauptströmung, noch mehr starben im Fluß beim Kampf um die Leichen. Doch war der Nachschub so reichlich, daß fünf oder zehn Prozent der Mäuse, die das Ufer hinter der Brustwehr erreichten, genügten, um das befestigte Lager zu überfluten.

Ob direkt in den Fluß gegossener Alkohol sie aufhalten würde? Sos traf sofort eine Entscheidung. Es war nicht mehr genügend Alkohol vorrätig. Falls dieser Plan nicht klappte, wurde wahrscheinlich die ganze Schar der Verteidiger von den Flammen eingekesselt, während die Tiere das Lager überschwemmten.

Sos entschied sich zum Rückzug. Die Mäuse hatten diese Schlacht gewonnen.

»Räumen!« befahl er.

Die Männer, die noch vor kurzem über diesen winzigen Feind gelächelt hatten, atmeten erleichtert auf. Die Mäuse hingen ihnen an den Armen und Beinen. Sie krabbelten in ihren Hosen und bedeckten den Boden wie ein Teppich. Überall nagten ihre Zähnchen. Die Krieger sprangen ins Wasser und schwammen um ihr Leben. Sie tauchten so oft als möglich unter. Es war ein totaler Rückzug.

Sos vergewisserte sich kurz, daß keine Verwundeten zurückgeblieben waren, und folgte dann den anderen.

Mittlerweile war es Spätnachmittag geworden. Würde ihnen noch Zeit bleiben, die Zelte vor Einbruch der Dunkelheit abzubrechen? Oder würden die Mäuse haltmachen, bevor sie das Zeltlager erreichten? Sos mußte sich rasch entscheiden.

Er konnte das Risiko nicht auf sich nehmen. »Nehmt die Zelte und zieht euch so weit als möglich zurück!« rief er. »Ledige Männer können hier lagern und Wache halten.« Er hatte Reserveausrüstungen innerhalb der Umfriedung gelagert für den Fall, daß die Mäuse unerwartet vom Fluß her angriffen. Diese Reserven waren jetzt unzugänglich. Wieder eine Fehlentscheidung. Doch bevor er nicht den Wanderweg und den Wanderzyklus der Tiere genau kannte, mußte man solche Verluste in Kauf nehmen.

In dieser Nacht stürmten die Mäuse den Hügel nicht. Sie gehörten zur Gattung der Tagräuber. Vielleicht waren auch die Falter die Ursache dafür. Am Morgen überquerte die Hauptarmee -gesättigt von den Toten und noch immer sehr zahlreich - den Fluß und marschierte flußabwärts. Nur ein paar beherzte Kletterer an den Seitenflügeln erreichten die Zelte.

Sos hielt Umschau. Sein Lagerplatz auf dem Hügel war von den Mäusen leicht zu erreichen. Wenn sie den Hügel nicht stürmten, konnte das nur bedeuten, daß die Route der Mäuse dem Zufall überlassen war. Offensichtlich würden sie jeden Hügel überrennen, wenn sie nur wollten. Offenbar passten sich aber die Mäuse auf ihren Wanderungen den landschaftlichen Gegebenheiten an und zogen erst dann bergauf, wo sich ihnen ein leichter Weg anbot.

Wenigstens hatte er eines festgestellt. Die Mäuse wanderten nur in Gruppen und waren demnach der Gruppendynamik unterworfen. Er rief sich die betreffende Abhandlung über dieses Thema ins Gedächtnis. Bei der Lektüre damals hatte er nicht ahnen können, daß das Thema einmal lebenswichtige Bedeutung für ihn haben könne. Gruppen wurden immer von Führern geformt und spiegelten die Persönlichkeit und die Antriebskräfte dieser Führer wider. Dirigiert man also diese Schlüsselfiguren um, dann wird die ganze Horde umgelenkt. Diesen Punkt mußte er genau überdenken und seiner jetzigen Lage anpassen.

Am vernünftigsten wäre es gewesen, den Wanderweg der Mäuse zu verfolgen und festzustellen, wo der Zug endete. Vor allem mußte man feststellen, wo die Mäuse sich sammelten. Vielleicht fand man eine Brutstätte, die man in Brand setzen konnte, bevor die nächste Generation zu einer Bedrohung würde. Er hatte sich vor allem mit Verteidigungsmaßnahmen beschäftigt und sah nun, daß das nicht genügte.

Am Mittag war der Feind wieder abgezogen. Man konnte das Lager wieder betreten. Es war vollkommen verwüstet. Sogar das Nylon der Zeltplanen war von den Zähnen zernagt worden und von Dungschichten verdorben.

Sofort wurde ein Komitee aufgestellt, das sich mit dem Problem, wie man die Mäuse verfolgen und zerstreuen konnte, beschäftigte. Die Frauen und Kinder säuberten inzwischen den Lagerhalbkreis und stellten neue Zelte auf. Ihr Lagerplatz war jetzt so sicher wie jeder andere, denn ein zweites Mäuseheer wäre glatt verhungert, wenn es der ersten Schar sofort gefolgt wäre. Der nächste Angriff der Mäuse würde wahrscheinlich vom anderen Ufer her erfolgen.

Die Knochen und die Ausrüstung des vermißten Jagdtrupps wurden einige Kilometer flußaufwärts gefunden. Jetzt schätzten die Männer im Lager die Gefahr erst richtig ein. Beschwerden über die Arbeit wurden nicht mehr laut. Auch Sos behandelte man jetzt mit mehr Respekt als bisher. Er hatte bewiesen, daß seine Maßnahmen berechtigt waren und er mehr Umsicht besaß als jeder andere im Lager.