XVI

Beim Erwachen glaubte er erst, alles sei pure Einbildung gewesen. Wie all die merkwürdigen Dinge, die man im stummen Fernsehen zu sehen bekam. Aber sein Armreif war weg und hatte auf seinem rechten Handgelenk einen blassen Streifen hinterlassen. Jetzt war er allein in einer viereckigen Unterkunft und fühlte sich tadellos.

Als er sich wieder seiner Umwelt bewusst wurde, saß er auf dem Boden. Sie kniete über seinen Beinen und hatte die Hände auf seine Schultern gelegt. »Sos, das tut mir leid. Aber du bist sehr stark.«

Er starrte sie benommen an. Sie war tatsächlich geübter, als er vermutet hatte. Sie war zwar eine Frau, aber ihre Hiebe saßen.

»Sos, ich würde deinen Armreif so gerne behalten. Ich weiß, welche Bedeutung er hat.«

Er dachte an die Art und Weise, wie Sol seinen Armreif Sola gegeben hatte. Die besonderen Umstände hatten zunächst nicht vermuten lassen, daß diese Verbindung sich so locker gestalten würde. War er nun selbst nahe daran, einen Armreif mutwillig zu vergeben, nur weil eine Frau ihn darum gebeten hatte? Er versuchte zu sprechen, doch sein Kehlkopf hatte sich von dem Hieb noch immer nicht erholt.

Sie hielt ihm ihr Gelenk entgegen. Er wich nicht zurück, sondern umfaßte es zögernd. Ihm fiel ein, daß er um Sola gekämpft hatte und unterlegen war, während diese Frau ihn um den Armreif herausgefordert und gewonnen hatte.

Vielleicht mußte man ihm den Reif mit Gewalt wegnehmen. Wenn er dazu schnell bereit gewesen wäre, hätte er ihn der blonden Miß Smith geben können. Er wusste doch, daß sie ihn begehrt hatte. Auch Sola hatte ihm ihre Liebe aufgezwungen und hatte erreicht, daß er ihre Liebe erwiderte. Ihm gefiel zwar nicht, was sich daraus über seinen Charakter ableiten ließ, doch war es besser, sich damit abzufinden, als es zu leugnen.

Er berührte den Armreif und ließ dann die Hand fallen.

»Danke, Sos«, murmelte sie und küsste ihn in den Nacken.

Man hatte ihn also doch vom Berg gerettet, wiederbelebt und hier zur Ruhe gebettet, während sein kleiner Freund das Zeitliche gesegnet hatte.

Er stand auf und fand sein Gewand sauber und ausgebessert neben der Schlafkoje vor. Wenn das der Tod war, überlegte er, so war er dem Leben nicht unähnlich. Unsinn. Es war nicht der Tod. Hier gab es keine Lebensmittelvorräte und keine Waffen. Der Waffenständer fehlte überhaupt. Sos öffnete die Tür und hoffte, Wald oder eine vertraute Gegend oder wenigstens den Fuß des Berges zu sehen. Doch er sah vor sich nur eine kahle Mauer. Es war die gleiche Mauer, die er im Traum entlanggegangen war.

Also war der Traum keine Phantasie, sondern Wirklichkeit gewesen. »Ich werde bei dir sein, Sos.«

Das war die Stimme des Mädchens, der zierlichen Frau, die ihn geneckt und schließlich niedergeschlagen hatte. Seine Kehle schmerzte immer noch ein wenig, wie er jetzt merkte. Er betrachtete sein Handgelenk.

Gut. Sie hatte also behauptet, sie wisse, was der Armreif bedeutet.

Sie kam lächelnd den Gang entlang. Jetzt hatte sie einen viel kleidsameren Kittel an. Das Haar, das sie jetzt sichtbar trug, war braun und lockig und steigerte ihre Weiblichkeit beträchtlich. Der Armreif glänzte an ihrem Arm. Offenbar hatte sie das Gold auf Hochglanz poliert. Er bemerkte, daß der Reif zwanglos ihr Gelenk umspannte und die Enden sich sogar überschnitten, während er an seinem Arm weit auseinanderklaffte. Hatte diese kleine Person ihn tatsächlich besiegt?

»Fühlst du dich besser, Sos?« fragte sie besorgt. »Ich weiß, gestern habe ich dich ordentlich herumgejagt. Aber der Arzt sagte, ein bißchen Bewegung wäre das beste für deinen Kreislauf. Also habe ich für Bewegung gesorgt.«

Er sah sie verständnislos an.

»Ach ja - du hast ja noch keine Ahnung von unserer Welt.« Sie lächelte bestrickend und nahm seinen Arm. »Du bist im Schnee fast erfroren, und wir mußten dich hereinschaffen, bevor du dauernden Schaden davongetragen hättest. Manchmal dauert eine völlige Genesung Wochen, aber dein Zustand war so gut, daß wir dir sofort das Stärkungsmittel gegeben haben. Eine Art Droge. Davon verstehe ich nicht viel. Sie entschlackt den Kreislauf und scheidet die beschädigten Gewebe aus. Es muß aber überall hingelangen, in Finger, Zehen und sonst . . . Wie gesagt, ich verstehe nichts davon. Ein paar gute Freiübungen bringen die Sache viel besser in Schwung. Dann schläft man und weiß als nächstes nur, daß man sich besser fühlt.«

»Ich kann mich nicht erinnern . . .«

»Sos, ich habe dich eingeschläfert. Nachdem ich dich geküsst habe. Es hängt davon ab, daß man die richtigen Druckpunkte berührt. Ich kann es dir zeigen, wenn . . .«

Er verneinte hastig. Sie hatte ihn also hierhergeschafft. Hatte sie ihn auch ausgezogen und seine Kleider gereinigt, wie Sola es vor langer Zeit getan hatte? Die Parallelen waren beunruhigend.

»Schon gut, Sos. Ich trage schließlich deinen Armreif. Letzte Nacht bin ich nicht bei dir geblieben. Ich wusste, du würdest nicht bei Bewusstsein sein. Von jetzt an bleibe ich bei dir.« Sie zögerte. »Es sei denn, du hast deine Absicht geändert . . .«

Sie war so klein, einer Puppe viel ähnlicher als einer Frau. Ihre Besorgtheit war rührend, doch er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sie wog nur halb soviel wie er. Was konnte sie schon von dem wissen, was zwischen Mann und Frau vorging!

»Ach, so ist das!« rief sie errötend aus, obwohl er kein Wort gesagt hatte. »Na, da gehen wir schnell zurück in dein Zimmer! Ich werde dir zeigen, daß ich nicht bloß klettern kann.«

Er mußte über ihren Eifer lächeln. »Nein, laß das. Ich glaube, du weißt, was man mit einem Mann tun kann.« Das Gejagtwerden hatte ihm gut gefallen.

Sie hatte ihn durch rechtwinkelig angelegte Korridore, die durch an der Decke angebrachte Lichtröhren erhellt wurden, in einen anderen Raum geführt. Diese merkwürdig abgeschlossene Welt schien endlos zu sein. Er hatte hier noch kein Tageslicht gesehen.

»Hier ist unsere Kantine. Wir sind eben zur rechten Zeit gekommen.«

Auf einer langen Theke standen Platten mit Speisen: Dünne Schinkenscheiben, dampfende Hafergrütze, weiche Eier, Wurst, getoastetes Brot und andere Dinge, die er nicht kannte.

Weiter unten sah er Schalen mit Fruchtsaft, Milch und heißen Getränken, und auch ausgesuchte Puddings und Aufstriche, als hätte jemand die ganze Speisekammer einer Herberge für eine einzige Festivität geleert. Es war mehr vorhanden, als man essen konnte.

»Nimm, wenn du willst, und stelle es auf dein Tablett«, sagte sie. »Hier!« Sie hob von einem Stoß ein Plastiktablett ab und reichte es ihm. Dann nahm sie sich selbst eines, ging ihm voraus und suchte verschiedene Teller aus. Er folgte ihr und nahm von allem.

Lange vor dem Ende der Theke hatte er bereits keinen Platz mehr auf dem Tablett. »Hier«, sagte sie, »stell etwas auf mein Tablett!«

Der Gang erweiterte sich zu einem Eßraum - viereckige, weißgedeckte Tische. An einigen Tischen saßen Menschen und aßen. Alle Frauen und Männer trugen Arbeitsmäntel oder Kittel. Er fühlte sich hier fehl am Platz, weil er normal gekleidet war.

Sosa führte ihn an einen leeren Tisch und stellte die Speiseauswahl und die Getränke vor ihn hin.

»Ich könnte dich jetzt den anderen vorstellen; doch sind wir beim Essen lieber ungestört. Wenn man Gesellschaft haben will, läßt man die anderen Sessel offen stehen. Will man allein bleiben, dann stellt man sie so hin.« Sie lehnte die zwei unbesetzten Sessel gegen den Tisch. »Kein Mensch wird uns belästigen.«

Sie besah sich seine Speisenfolge. »Eines merke dir, Sos - wir vergeuden hier nichts. Du mußt alles aufessen, was du dir nimmst.« Sos nickte. Er war ausgehungert.

»Wir nennen das die Unterwelt«, erklärte sie während des Essens, »doch betrachten wir uns nicht als Verbrecher.« Sie hielt inne. Er hatte die Anspielung ohnehin nicht verstanden.

»Jedenfalls sind wir hier alle tot. Ich meine, wir wären alle tot, wenn wir nicht - na, so wie du den Berg erstiegen hätten. Ich bin voriges Jahr gekommen. Jede Woche kommt jemand - jemand, der es schafft. Jemand, der nicht kehrtmacht. Deswegen bleibt unsere Zahl ziemlich konstant.«

Sos blickte mit vollem Mund auf. »Einige machen kehrt?«

»Die meisten. Sie werden müde, ändern ihre Absicht und gehen wieder hinunter.«

»Aber vom Berg ist noch niemand zurückgekehrt!«

»Das stimmt«, sagte sie unbehaglich.

Er drang nicht weiter in sie, sondern hob sich die Frage für später auf.

»Also sind wir wirklich tot, weil keiner von uns wieder in der wirklichen Welt auftaucht. Aber wir sind hier nicht müßig, sondern arbeiten sehr hart. Nach dem Essen zeige ich dir alles.«

Das tat sie denn auch. Sie führte ihn in die Küche, wo schwitzende Köche die Platten vorbereiteten und Hilfskräfte das gebrauchte Geschirr in eine Spülmaschine steckten. Sie zeigte ihm die Büros, in denen die Buchhaltung erledigt wurde. Den Sinn dieser Berechnungen erfaßte Sos nicht. Er merkte sich bloß, daß sie wichtig waren, um Bergbau, Industrie und Export im Gleichgewicht zu halten. Das ergab einen Sinn. Er dachte an die Berechnungen, die er hatte anstellen müssen, als er Sols Krieger trainiert hatte. Und diese Unterwelt hier war eine noch viel komplexere Gemeinschaft.

Sie führte ihn auf das Beobachtungsdeck. Dort saßen Männer, die Fernsehschirme beobachteten und merkwürdigen Geräuschen lauschten. Die Bilder waren nicht wie jene auf den Bildschirmen in der Herberge. Und das weckte seine Neugierde.

»Da ist Sos«, erklärte sie dem Aufsichthabenden. »Er ist vor achtundvierzig Stunden gekommen. Ich - ich habe ihn in meine Obhut genommen.«

»Na sicher, Sosa«, gab der Mann zurück, als er den Armreif sah. Er schüttelte Sos die Hand. »Ich bin Tom. Freut mich, dich kennenzulernen. Übrigens erkenne ich dich wieder. Ich habe . dich nämlich hereingeschafft?« - »Mich hereingeschafft?«

An diesem Mann mit dem ungewöhnlichen Namen war etwas Seltsames und Unangenehmes - trotz seiner Höflichkeit.

»Ich zeig's dir.«

Tom ging an einen Fernsehschirm. »Das ist ein TV-Gerät, das die Ostflanke des Helikon bis unter die Schneegrenze beobachtet.« Er schaltete ein. Sos erkannte sogleich das zerklüftete Terrain, das er mit Hilfe des Seils überwunden hatte. Er hatte noch nie ein wirkliches Bild im Fernsehen gesehen - das heißt, eines, das der gegenwärtigen Welt entsprach, korrigierte er sich. Es faszinierte ihn.

»Helikon - der Berg?« fragte er und grübelte, wo er über diesen Namen schon einmal etwas gelesen hatte. »Der Sitz der . . . Musen?«

Tom sah ihn an. Wieder lag etwas Merkwürdiges in seinen hellen Augen. »Woher willst du das wissen? Ja, da wir uns der Dinge der alten Welt entsinnen, haben wir ihn benannt nach . . .« Einer von den anderen machte ihm sofort ein Zeichen, und Tom wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Apparat zu. »Jetzt kommt einer herunter. Da, ich stelle dir das Bild ein!«

Da fiel Sos wieder das Problem der Nimmerwiederkehr ein. »Diejenigen, die wieder hinuntergehen - wo bleiben sie?« Er bemerkte, daß Sosa sich von ihnen zurückgezogen hatte und ihren Armreif herumzeigte.

»Ich fürchte, du wirst es sowieso bald herausbekommen. Du wirst nicht begeistert sein«, sagte Tom und beobachtete ihn dabei mit merkwürdiger Eindringlichkeit. Sos gab sich Mühe, keine Reaktion zu zeigen. Diese Menschen kämpften offenbar nicht im Ring, sondern hatten andere Entscheidungsmethoden. Er sollte also etwas Unangenehmes erleben.

Tom hatte das Bild endlich richtig eingestellt. Er brachte die Person klar auf den Bildschirm. Das war ein Stabkämpfer mittleren Alters, schon etwas schwammig im Aussehen.

»Wahrscheinlich hat er seine Frau an einen Jüngeren verloren und hat sich entschlossen, das große Spiel zu spielen«, bemerkte Tom ohne Mitleid. »Das geht vielen so. Eine zerbrochene Romanze ist schon etwas, das den Mann zum Berg treiben kann.«

Sos' Magen krampfte sich zusammen, doch Tom sah ihn gar nicht an. »Der da ist bis zur Schneegrenze gekommen und hat dann den Rückweg angetreten, als er kalte Füße bekam. Wenn er seinen Entschluß nicht bald ändert . . .«

»Kommt das vor?«

»Aber ja! Manche schwanken ein halbes Dutzend Male. Die Sache ist folgendermaßen: Der Berg ist Wirklichkeit. Aus der Entfernung sieht der Tod ganz friedlich aus, doch die Höhe und der Schnee machen daraus eine Sache der Willenskraft. Wenn ein Mann nicht ernsthaft an den Tod denkt, bringt ihn der Aufstieg zum Nachdenken. Er überlegt, ob die Dinge daheim wirk-

lieh so schlecht stehen, ob er nicht zurückkehren und es noch einmal versuchen könnte. Wenn er schwach ist, beginnt er zu schwanken. Zauderer können wir hier natürlich nicht gebrauchen. Wir haben also ein natürliches Ausleseverfahren. Aber das wird dir nicht viel sagen.«

Sos ließ sich durch den herablassenden Ton und die Anspielung auf sein Nichtwissen nicht aus der Fassung bringen. Seine Allgemeinbildung konnte sich als versteckter Vorteil erweisen für den Fall, daß es ihm hier zu dumm wurde.

»Ein Mensch, der seine Überzeugung bis zum Ende durchhält, ist wert, gerettet zu werden«, fuhr Tom fort, während das Bild dem Stabkämpfer unbeirrt folgte. »Wir möchten sichergehen, daß der Bergsteiger dem Leben abgeschworen hat und nicht bei der erstbesten Gelegenheit kneifen wird. Die Prüfung, die der Berg darstellt, ist ein eindeutiger Beweis. Du warst ein gutes Beispiel - du bist schnurgerade und ohne Zögern aufgestiegen. Du und der Vogel. Schade, daß wir ihn nicht retten konnten, aber er hätte sich hier nicht wohl gefühlt. Wir haben gesehen, wie du ihn verjagen wolltest. Dann ist er erfroren. Einen Augenblick lang dachte ich schon, du würdest umkehren, aber du hast es nicht getan. Das hat mir gefallen.«

Dieser zynische Voyeur hatte also seine innersten Regungen mitbeobachten können. Sos behielt den ein wenig dümmlichen Ausdruck bei, den er angenommen hatte, seit er Verdacht geschöpft hatte, und sah zu, wie der Stabkämpfer sich an der Obergrenze der Metallschichten durchkämpfte. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, Tom den Spott heimzuzahlen.

»Wie hast du mich gerettet?«

»Ich habe einen Schneeanzug angezogen und dich durch den nächsten Eingang hereingeschafft. Dazu waren drei von uns nötig. Du bist wie ein Bulle. Nachher . . . Ich glaube, die Wiederbelebung ist dir jetzt bereits vertraut. Wir mußten warten, bis du den ganzen Weg geschafft hattest. Manchmal unternehmen die Leute noch einen Ausbruchsversuch in letzter Minute und wollen wieder hinunter. Wir schaffen sie nicht herein, wenn sie in die falsche Richtung blicken - auch wenn sie erfrieren. Die Absicht ist es, die für uns zählt. Du hast es fast bis zum Gipfel geschafft. Für einen ungeübten Kletterer eine beachtliche Leistung . . .«

»Woher habt ihr gewusst, daß ich mich nicht töten werde, wenn ich erwache?«

»In diesem Punkt können wir nie sicher sein. Doch im allgemeinen entscheidet sich keiner für den Berg, wenn er ein Selbstmördertyp ist. Jeder kann sich selbst töten, doch nur der Berg bietet völliges und endgültiges Vergessen. Wenn man den Helikon besteigt, kehrt man nie zurück. Es gibt keine Leiche. Als ob man eine andere Welt betreten hätte - eine bessere vielleicht. Man gibt nicht auf, sondern verschafft sich einen ehrenvollen Abgang. Wenigstens sehe ich es so. Der Feigling begeht Selbstmord, der tapfere oder fromme Mensch geht auf den Berg.«

Sos hielt manches davon für vernünftig, wollte es aber nicht zugeben. »Aber einige kehren um, hast du gesagt!«

»Die meisten. Das sind diejenigen, die den Anstieg als Mutprobe versuchen. Oder um Mitleid zu erregen. Oder auch nur aus Dummheit. Solche Leute brauchen wir hier nicht.«

»Und was ist mit dem Stabkämpfer da draußen? Wohin geht er, wenn du ihn nicht hereinschaffst?«

Tom runzelte die Stirn. »Ja, ich fürchte, er gibt auf.« Mit lauter Stimme rief er: »Bill, gibst du mir recht?«

»Ich fürchte, ja«, rief der Angesprochene zurück. »Wir machen lieber Schluß. Am Fuße des Berges ist noch ein anderer. Hat keinen Sinn, wenn der es sieht!«

»Es ist kein angenehmes Geschäft«, sagte Tom und leckte sich die Lippen. Diese Geste deutete aber eher auf eine gewisse Vorfreude hin. »Man kann schließlich eine Legende nicht auf Unsinn aufbauen. Deswegen.«

Er schaltete einen zweiten Schirm ein, auf dem ein Fadenkreuz erschien. Er drehte an den Knöpfen. Das Kreuz bewegte sich auf den Körper des Stabkämpfers zu. Er zog an einem roten Griff.

Von irgendwo schoß eine Feuersäule empor und hüllte den Mann ein. Sos sprang auf, konnte aber nur ohnmächtig zusehen. Eine volle Minute lang brannte die schreckliche Flamme auf dem Bildschirm. Dann schob Tom den Griff wieder hoch, und alles war vorbei.

Ein Aschenhaufen war alles, was von dem Stabkämpfer übriggeblieben war. »Flammenfeuer«, erklärte Tom.

Sos hatte den Tod schon öfters gesehen. Doch das hier entsetzte ihn. Diese Art des Tötens widersprach all seinen Ehrbegriffen. Keine Warnung, kein Kampfring, keine Trauer.

»Wenn ich. . .?«

Tom blickte ihn an. Das Licht vom Bildschirm wurde vom Weiß seiner Augen reflektiert. Das war die Frage, die er erwartet hatte.

»Ja«, sagte Tom.

Sosa zupfte an Sos' Ärmel. »Das reicht«, sagte sie. »Komm jetzt, Sos. Wir mußten es dir zeigen. So schlimm ist es gar nicht.«

»Was ist, wenn ich mich entschließe, wieder zu gehen?« fragte Sos. Dieser kühl berechnete Mord bedrückte ihn zutiefst!

Sie zog ihn fort. »Laß das, bitte!«

Also so ist das, dachte er. Es war also kein Scherz gewesen, als man den Berg als Land des Todes bezeichnet hatte. Manche waren wirklich tot und manche nur innerlich. Doch was hatte er denn sonst erwartet, als er zum Berg des Todes aufgebrochen war? Leben und Vergnügen?

»Wo sind denn hier die Frauen?« fragte er, als sie die lange Passage entlanggingen.

»Hier gibt es nicht viele. Der Berg ist keine Zuflucht für Frauen. Die wenigen, die wir haben, werden - geteilt.«

»Warum hast du dann meinen Armreif genommen?«

Sie ging schneller.

»Ich werde es dir sagen, Sos, wirklich - aber nicht jetzt, ja?«

Sie betraten eine riesige Werkshalle. Sos war schon vom Lagerraum der Irren beeindruckt gewesen, doch diese Anlage ließ ihn zu einem Nichts zusammenschrumpfen. In langen Reihen arbeiteten Männer mit Maschinen, die Metallgegenstände stanzten und formten.

»Aber das sind ja Waffen!« rief er aus.

»Na, irgendwer muß sie ja herstellen. Was hast du denn geglaubt?«

»Die Irren haben immer . . .«

»Die Wahrheit ist folgende. Wir schürfen Metalle, schmelzen sie ein und erzeugen die Sachen. Die Irren verteilen sie und schicken uns als Gegenleistung Lebensmittel. Ich dachte, du hättest das schon begriffen, als ich dir unsere Rechnungsabteilung zeigte. Wir tauschen auch Informationen aus. Die Irren sind das, was man den Dienstleistungsteil der Wirtschaft nennt. Und wir sind der erzeugende Teil. Die Nomaden sind die Konsumenten. Wie du siehst, ist alles fein säuberlich ausbalanciert.«

»Aber warum?« Das war dieselbe Frage, die er in der Schule gestellt hatte. »Das muß jeder für sich selbst beantworten.«

Auch die gleiche Antwort. »Du sprichst so wie Jones!«

»Jones?«

»Mein Schuldirektor bei den Irren. Er hat mich Lesen gelehrt.«

Sie hielt erstaunt inne. »Sos, du kannst lesen?«

»Ich war immer schon sehr wißbegierig.« Seine Bildung hatte er eigentlich nicht offenbaren wollen. Doch hätte er sie auch nicht für immer verbergen können.

»Wirst du es mir zeigen. Wir haben hier so viele Bücher . . .«

»So einfach ist das nicht. Es dauert Jahre.«

»Wir haben jahrelang Zeit, Sos. Komm, ich möchte gleich anfangen.« Sie zog ihn in eine andere Richtung. Sie war entzückend in ihrem Eifer.

Die Bibliothek war leicht zu erkennen. In vieler Hinsicht erinnerte ihn jetzt die Unterwelt an die Gebäude der Irren.

»Jim, das ist Sos. Er kann lesen!«

Der bebrillte Mann sprang erfreut lächelnd auf. »Wunderbar!« Er sah Sos von oben bis unten an und sagte dann etwas zweifelnd: »Du siehst eher wie ein Krieger aus. Nichts für ungut.«

»Und ein Krieger soll nicht lesen können?«

Jim nahm ein Buch zur Hand. »Eine Formalität, Sos. Aber würdest du daraus vorlesen? Nur einen Probeabsatz.«

Sos nahm den Band und schlug ihn irgendwo auf. »Brutus: Gaius Cassius, unser Weg scheint zu blutig, den Kopf und die Glieder abzuhacken ...«

»Genug, genug!« rief Jim. »Du kannst lesen, du kannst es. Hat man dich schon eingeteilt? Wir müssen dich hier in der Bibliothek haben! Wir haben hier so viele . . .«

»Du könntest Leseunterricht erteilen«, fügte Sosa aufgeregt hinzu. »Wir möchten alle lernen, aber so wenige . . .«

»Ich werde sofort Bob rufen! Was für eine Entdeckung!« Der

Bibliothekar tastete nach der Sprechanlage auf seinem Schreibtisch.

»Gehen wir«, sagte Sos, den das Aufsehen peinlich berührte. Er hatte Lesen immer als Privatangelegenheit betrachtet, außer in der Schule, und fand den Eifer der anderen bestürzend.

Die Gleichförmigkeit des Betriebes in der Unterwelt ließ den Tag endlos lang erscheinen. Sos war froh, als er sich endlich zurückziehen konnte. Auch war er gar nicht sicher, ob er den Rest seines Lebens unter dem Berg verbringen wollte, so außergewöhnlich diese Welt auch sein mochte.

»Es ist wirklich kein schlechtes Leben, Sos«, sagte sie. »Man gewöhnt sich daran, und unsere Tätigkeit ist sehr wichtig. Wir sind die Fabrikanten für den ganzen Kontinent. Wir stellen alle Waffen her, die Grundausrüstung für die Herbergen, die vorfabrizierten Wände und Böden, die Vorrichtungen und elektronischen Ausrüstungen . . .«

»Warum hast du meinen Armreif genommen?«

Diese Frage ließ sie zunächst verstummen. »Na ja, wie gesagt, hier gibt es wenig Frauen. Man hat es daher so arrangiert, daß jeder Mann eine - eine Nacht wöchentlich hat. Es ist natürlich nicht so wie eine längere Gemeinschaft, aber andererseits gibt es Abwechslung. Es funktioniert eigentlich recht gut.«

Das Spiel der wandernden Armreifen. Ja, er konnte sich vorstellen, wie manche das genossen, obwohl er bemerkt hatte, daß die meisten Männer die »goldenen Zeichen« hier nicht ausnützten. »Warum bin ich davon ausgeschlossen?«

»Wenn du willst, kannst du mitmachen. Ich dachte nur . .

»Ich widerspreche ja nicht. Ich möchte nur wissen, warum. Warum bekomme ich eine Ganzzeitpartnerin, wenn es so wenig Frauen gibt?«

Ihre Lippen zitterten. »Möchtest - du ihn zurück?« Sie berührte den Armreif.

Widerstandslos ließ er sich packen und auf die Liege drücken. Sie erwiderte begierig seinen Kuß. »Nein, ich möchte den Reif nicht zurück. Ich - ach, zieh doch den verdammten Kittel aus!«

Konnte man von einer Frau Vernunft erwarten?

Sie entledigte sich ihrer Kleidung. Dann schien sie - ganz Frau - ihre Meinung zu ändern. »Sos . . .«

Etwas Ähnliches hatte er erwartet. »Weiter!«

»Ich bin unfruchtbar.« Er sah sie schweigend an.

»Ich habe viele Armreifen versucht. Schließlich habe ich mich bei den Irren untersuchen lassen. Ich werde nie ein eigenes Kind bekommen können. Deswegen bin ich auf den Berg gegangen. Doch hier sind Kinder womöglich noch wichtiger. Also . . .«

»Also hast du dir den ersten Mann geschnappt, den man vom Berg hereingeholt hat!«

»Nein, Sos. Ich habe abgewartet, bis ich auf der Liste an die Reihe kam. Aber wenn keine Liebe im Spiel ist und - na ja, manche haben sich beklagt, daß ich nicht leidenschaftlich bin. Also hatte es für mich nicht viel Sinn. Bob hatte mich deswegen zu der Rettungsmannschaft eingeteilt. Auf diese Art komme ich mit neuen Menschen zusammen. Derjenige, der Dienst hat, wenn jemand hereingeschafft wird, ist - verantwortlich. Er muß dem Neuen alles erklären und dafür sorgen, daß er sich wie zu Hause fühlt. Du bist der neunzehnte, den ich betreue - siebzehn Männer und zwei Frauen. Einige waren alt und verbittert. Du bist der erste, den ich wirklich . . . Aber das klingt ja noch ärger.«

Jung, stark, elastisch - die Antwort auf die Träume einer jungen Frau, dachte er. Warum auch nicht? Er verspürte keine Neigung, die für den wöchentlichen Dienst ausgesuchten Frauen zu umarmen. Da war es schon besser, eine zu haben - eine, die es vielleicht verstand, daß sein Herz woanders war.

»Und wenn ich ein Kind haben möchte?«

»Dann - bekommst du deinen Armreif zurück.«

Er sah sie an, wie sie so neben ihm saß und sich halb hinter dem zusammengeknüllten Kittel verbarg, als fürchte sie sich zu entblößen, solange ihre Gemeinschaft in Frage stand. Sie war klein und sehr weiblich geformt. Er dachte nach, was es bedeuten mochte, wenn man kein Kind bekommen konnte. Langsam begann er das zu verstehen. Früher hatte er nicht begreifen können, was als Antrieb hinter Sols Energie gestanden hatte.

»Ich bin zum Berg gegangen, weil ich die Frau, die ich liebe, nicht bekommen konnte«, sagte er. »Ich weiß, das alles ist jetzt vorbei. Aber mein Herz will es noch nicht wissen. Ich kann dir nur Freundschaft bieten.

»Dann gib mir Freundschaft«, sagte sie.

Er nahm sie ins Bett und faßte sie so vorsichtig an, wie er Dummerchen gehalten hatte. Als fürchte er, sie zu zerdrücken. Zuerst war er ganz passiv, weil er dachte, sie wäre damit zufrieden. Er hatte unrecht.

Trotzdem war es Sola, die er in Gedanken umarmte.