II

Nach vierzehn Tagen stießen sie auf die roten Warnmarkierungen im Norden. Das Laubwerk wies keine Veränderungen auf. Doch sie wussten: Jenseits dieser unheimlichen Demarkationslinie würde es wenig Tiere und keine Menschen geben. Sogar diejenigen, die den Tod wählten, gaben dem Berg den Vorzug, denn dabei handelte es sich um ein rasches, ehrenhaftes Abschiednehmen, während das Ödland Schrecken, Pein und lange Qualen bedeutete.

Sol hielt an, von den Markierungen beunruhigt. »Wenn es hier sicher ist, warum stehen die Warnpfähle denn überhaupt noch da?« wollte er wissen. Sola nickte heftig. Sie brauchte sich ihrer Furcht nicht zu schämen.

»Weil die Irren im Verlauf der letzten fünfzig Jahre ihre Karten nicht erneuert haben«, gab Sos zurück. »Dieses Gebiet ist für eine kartographische Neuerfassung überreif. In den nächsten Monaten wird es auch soweit sein. Man wird die Markierungen zehn oder fünfzehn Meilen weiter landeinwärts setzen. Ich habe es schon gesagt: Strahlung ist nichts Bleibendes. Sie wird langsam immer schwächer.«

Sol war noch nicht überzeugt. Schließlich trug er die Verantwortung. »Du behauptest also, diese Strahlung sei etwas, das man zwar nicht hört, schmeckt oder fühlt, das einen aber dennoch töten kann. Ich weiß, du hast Bücher studiert. Doch scheint mir das alles keinen Sinn zu geben.«

»Vielleicht lügen die Bücher«, sagte Sola und setzte sich. Die Tage angestrengten Marschierens hatten ihre Beinmuskeln verstärkt, ihr aber nichts von ihrer Weiblichkeit genommen. Sie war eine attraktive Frau und wusste das genau.

»Ich habe selbst meine Zweifel«, mußte Sos zugeben. »Es gibt vieles, was ich nicht verstehe, und viele Bücher, die ich nicht enträtseln konnte. Ein Text behauptete, daß die Hälfte der Menschheit stirbt, wenn sie 450 Röntgen ausgesetzt ist, während Moskitos über hunderttausend Röntgen aushalten können. Aber ich weiß nicht, wieviel Strahlung ein Röntgen ist oder wie man ein Röntgen mißt. Die Irren haben Behälter, in denen es klickt, wenn man sich der Strahlung nähert. Auf diese Art schützen sie sich davor.«

»Ein Klicken ist ein Röntgen: So könnte es doch sein«, meinte Sola vereinfachend. »Das heißt, wenn die Bücher stimmen.«

»Ich denke doch. Zuerst ergibt vieles überhaupt keinen Sinn, aber einen Fehler habe ich in den Büchern nie gefunden. Diese Strahlung also wurde hier von dem großen Weltenbrand verursacht, soweit ich mich informieren konnte. Sie gleicht dem schwammigen Holz, das phosphoresziert. Untertags leuchtet der Schwamm nicht; obzwar man weiß, daß die Leuchtkraft vorhanden ist. Wenn man aber die hohle Hand darüberhält, damit kein Sonnenlicht darauffällt, und . . .«

». . . Schwammlicht«, unterbrach ihn Sol feierlich ernst.

»Stellt euch jetzt vor, daß dieses Schwammlicht giftig ist, daß es krank macht, wenn es eure Haut berührt. In der Nacht kann man der Strahlung ja ausweichen, doch untertags ist man in Gefahr. Man kann das Licht nicht sehen oder spüren. Genauso ist es mit der Strahlung: Sie füllt alles aus, wo sie vorhanden ist. Den Boden, die Räume, die Luft.«

»Woran merken wir, daß sie nicht vorhanden ist?« fragte Sola. Ihre Stimme war spröde und rauh, was Sos ihrer Furcht und Müdigkeit zuschrieb. Das Gehabe süßer Unschuld, das sie am ersten Abend in der Herberge zur Schau getragen hatte, war allmählich verlorengegangen.

»Strahlung wirkt auf Pflanzen und Tiere ein. Sie ziehen sich in die Randgebiete zurück. Im Strahlungszentrum ist alles tot. Solange Pflanzen und Tiere gesund aussehen, sind wir sicher. Hinter den Markierungen müssten noch ein paar Kilometer frei von dieser Strahlung sein. Ein Risiko ist es auf jeden Fall. Aber in Anbetracht der Umstände lohnt es sich.«

»Und keine Unterkünfte?« fragte Sola ein wenig hilflos.

»Das bezweifle ich. Die Irren fürchten die Strahlung ebenso wie wir. Also haben sie keine Ursache, hier zu bauen, ehe sie nicht neue Karten angefertigt haben. Wir werden im Freien kampieren müssen.«

»Da nehmen wir uns am besten Bogen und Zelte mit«, sagte Sol.

Die beiden Männer ließen Sola zur Bewachung von Sols Karren zurück, während sie sich auf den Weg zurück zur letzten Unterkunft machten. Sie betraten das zentralgeheizte Innere und wählten aus dem Waffenlager zwei starke Bogen und Pfeilpackungen. Dann stellten sie eine Campingausrüstung zusammen: Leichtes Plastikschuhwerk, Helme und Reisesäcke. Jeder jagte drei Pfeile in die Zielscheiben, um die Waffe in den Griff zu bekommen. Dann schulterten sie die Bogen und machten sich auf den Weg.

Sola lehnte schlafend an einem Baum. Das Wanderkleid war ihr bis auf die Schenkel hinaufgerutscht. Sos sah weg. Der Anblick ihres Körpers wühlte ihn auf trotz allem, was er über ihren Charakter wusste. Die Frauen hatte er so wahllos genommen, wie sie ihm über den Weg gelaufen waren, ohne eine dauerhafte Verbindung zu knüpfen. Doch dieses ununterbrochene Zusammensein mit der Frau eines anderen hatte eine Wirkung, die ihm nicht gefiel.

Sol weckte sie mit einem sanften Stoß. »Weib - so bewachst du meine Waffen?«

Verlegen und wütend sprang sie auf. »Genauso wie du dich um mich kümmerst!« gab sie heftig zurück. Dann biß sie sich rasch auf die Lippen.

Sol beachtete sie nicht weiter. »Suchen wir uns rasch einen Lagerplatz«, sagte er und betrachtete die nächstgelegene Markierung.

Sos reichte der Frau Helm und Schuhwerk. Er hatte die Sachen für sie mitgebracht. Sol hatte nicht daran gedacht. Sos fragte sich verwundert, warum die zwei noch beisammen blieben, wenn sie so schlecht miteinander auskamen. Bedeutete der Sex denn so viel?

Er wandte seinen Blick gewaltsam von ihr ab und verbot sich eine Antwort auf seine Frage.

Sie überschritten die Markierungslinie und drangen langsam ins Innere des Ödlandes vor. Sos unterdrückte seine Nervosität. Er wusste, wenn er Angst zeigte, würden die anderen sie um so mehr fühlen. Von ihm nahm man an, daß er alles wusste. Er mußte also beweisen, daß er recht hatte. Jetzt hingen von seiner Wachsamkeit drei Menschenleben ab.

Außerdem beschäftigte ihn noch ein intimes Problem. Sol hatte zu Beginn ihrer Bekanntschaft gesagt, er brauche keine Frau. Das hatte wie ein höfliches Nachgeben dem anderen Mann gegenüber geklungen, da keine zweite Frau in Reichweite war. Doch dann hatte er dem Mädchen seinen Armreif gegeben und damit ihre Eheschließung besiegelt. Die beiden hatten zwei Wochen miteinander geschlafen, doch wagte sie es jetzt offen, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Das beunruhigte Sos sehr.

Blätter und Unterholz schienen gesund, doch verstummte das Geraschel des Wildes, als sie tiefer ins Innere des Ödlandes vordrangen. Vögel und Insekten gab es noch, aber kein Wild, keine Murmeltiere und Bären. Sos hielt nach Spuren Ausschau und fand keine. Falls der Wildmangel für die Gegend typisch war,

würden sie Schwierigkeiten haben, etwas Jagdbares vor ihre Pfeile zu bekommen. Das Vorhandensein von Vögeln deutete darauf hin, daß die Gegend für Menschen noch sicher war. Er kannte zwar die Strahlenempfindlichkeit der Vögel nicht, nahm aber an, daß die Warmblüter in diesem Punkte einander ähnlich waren. Die Vögel mußten während der Nistperiode an einer Stelle bleiben und hätten sicherlich Krankheitssymptome gezeigt, wenn die Strahlung hier zu stark war.

Die Bäume wichen einer weiten, offenen Fläche, durch die sich ein Fluß schlängelte. Die drei hielten an und tranken. Sos zögerte, bis er kleine Fische im Wasser sah, die seiner haschenden Hand flink entflohen. Wasser, in dem Fische gediehen, konnte der Mensch unbedenklich trinken.

Zwei Vögel schossen in lautlosem Tanz über die Grasfläche. Sie kreisten auf und nieder, der große hinter dem kleinen. Der große Vogel war ein Falke, der offenbar einen Sperling jagte. Die Jagd näherte sich dem Ende. Total erschöpft konnte das Vögelchen den gespreizten Fängen und dem mächtigen Schnabel des Falken kaum mehr ausweichen. Die Männer sahen gleichgültig zu.

Plötzlich kam der Sperling direkt auf sie zugeflattert, als flehe er sie um Schutz an. Der Falke schwankte, dann flog er ihm nach.

»Haltet ihn auf!« schrie Sola, von Mitleid mit dem schutzsuchenden Vogel ergriffen.

Erstaunt sah Sol sie an und wehrte dann mit einer Handbewegung den Falken ab.

Der Räuber flog fort, während der Spatz vor Solas Füßen zu Boden fiel und dort kläglich piepsend kauerte, unfähig oder zu verängstigt, um sich zu erheben. Sos hegte den Verdacht, daß er sich vor den Menschen ebenso fürchtete wie sein Verfolger. Der Falke kreiste zunächst in einiger Entfernung und faßte dann offenbar einen Entschluß. Er war hungrig.

Sol langte in seinen Waffensack - so rasch, daß seine Bewegung kaum wahrzunehmen war - und zog ein Stockrapier heraus. Als der Falke auf den kleinen Vogel herunterstoßen wollte, holte Sol aus. Sos sah, daß der Räuber außer Reichweite war, und schätzte, daß er für solche Mätzchen viel zu schnell reagieren würde. Doch dann hörte er einen schrillen Schrei, als der Stock den Räuber mitten im Sturzflug traf. Der zerschmetterte Vogelkörper wurde in den Fluß geschleudert.

Sos war ehrlich erstaunt. Das war die schnellste und präziseste Handhabung einer Waffe gewesen, die er je miterlebt hatte. Dabei hatte Sol die Bewegung fast lässig ausgeführt - eine zornige Aufwallung gegen ein Lebewesen, das seine Warnung mißachtete. Sos hatte geglaubt, Sol verdankte seinen Sieg im Ring mehr dem Glück als seiner Geschicklichkeit, obwohl der Krieger zweifellos sehr fähig war. Jetzt sah er, daß sein Sieg kein Zufall gewesen war. Sol hatte nur mit ihm gespielt, bis er verwundet worden war, und hatte dann rasch Schluß gemacht.

Das Vögelchen hüpfte und flatterte auf dem Boden. Sola wich erschrocken zurück, obwohl die Gefahr längst vorüber war. Sos zog aus seinem Campingsack einen Stulpenhandschuh und langte vorsichtig hinunter, um die flatternden Flügel zu umfassen und das erschrockene Tier hochzuheben.

Es war kein typischer Sperling. Auf den braunen Flügeln zeigten sich gelbe und orangefarbene Tupfer. Der Schnabel war groß und plump. »Das muß eine Mutation sein«, sagte Sos. »So einen Spatz habe ich noch nie gesehen.«

Sol zuckte nur die Achseln und angelte den toten Falken aus dem Wasser. Falls sie nichts Besseres fanden, mußte der Falke als Mahlzeit für sie ausreichen.

Sos öffnete die Hand und ließ den Sperling frei. Der aber blieb auf seiner Handfläche liegen und sah ihn an, zu erschrocken, um sich zu bewegen. »Flieg weg, Dummerchen«, sagte Sos und schüttelte ihn leicht.

Die kleinen Krallen klammerten sich an seinen Daumen.

Sos betastete den Vogel vorsichtig mit der bloßen Hand, beruhigt, daß das Tier nicht bösartig war. Behutsam untersuchte er, ob die Flügel gebrochen waren. Das Vögelchen sträubte sein Gefieder und blieb, obzwar es volle Bewegungsfreiheit hatte, sitzen. Beide Flügel waren heil geblieben, soweit man das beurteilen konnte. »Flieg weg«, drängte Sos und schwang die Hand in die Luft.

Der Vogel blieb sitzen und breitete seine Flügel nur aus, um das Gleichgewicht zu behalten.

»Wie du willst«, sagte Sos und setzte den Vogel auf seinen Schulterriemen, wo dieser hocken blieb. »Dummerchen«, wiederholte er nicht unfreundlich.

Die drei setzten den Marsch fort. Wiesen und Wälder wechselten mit Bauminseln ab. Mit Einbruch der Dämmerung wurde das Schwirren der Insekten stärker. Auf die Fährte größerer Tiere stießen sie nie. Am Ufer des Flusses schlugen sie endlich ihr Lager auf und machten sich daran, Fische zu fangen. Sos zündete ein Feuer an, während Sola das Fleisch des Falken säuberte und zum Braten vorbereitete. Sie war sehr geschickt und vielseitig in solchen Dingen.

Als die Nacht näher rückte, öffneten sie ihre Säcke und stellten zwei Zelte aus Nylonmaterial auf. Sos hob eine Rinne zur Entwässerung aus, während Sol isometrische Übungen machte. Sola sammelte trockene Äste fürs Feuer, dessen Flackern ihr Trost zu bringen schien.

Der Vogel blieb die ganze Zeit über bei Sos und rührte sich von dessen Schulter nur weg, wenn Sos körperlich arbeitete. Er blieb dabei aber immer in Sos' Nähe. Fressen wollte er nicht. »Das wirst du nicht lange aushalten, Dummerchen«, mahnte Sos ihn zärtlich. Das sollte der Name des Vogels bleiben: Dummerchen.

Als Sos von der Grabarbeit zurückkam, tauchte vor ihm ein weißes Gebilde auf - geisterhaft still. Eine der Falkenmotten, stellte er fest und trat einen Schritt näher.

Da kreischte Dummerchen schrill auf und flatterte angriffslustig auf das Insekt zu. Ein kurzer Kampf in der Luft - bei dieser Beleuchtung wirkte das Insekt so groß wie der Vogel: Dann war der weiße Falter überwältigt und verschwand in dem Vogelschlund. Jetzt hatte Sos begriffen. Der Vogel war ein Nachttier und untertags aktionsunfähig. Wahrscheinlich hatte der Falke das Tier im Schlummer überrascht und das schlaftrunkene Tierchen verfolgt. Dummerchen hatte also bloß nach einem sicheren Plätzchen gesucht, wo er tagsüber sitzen und dösen konnte.

Am Morgen brachen sie das Lager wieder ab und drangen weiter in die verbotenen Gebiete ein. Auf dem Boden entdeckten sie auch an diesem Tag kein Leben - weder Säugetiere noch Amphibien oder Insekten. Dafür gab es Schmetterlinge, Bienen, Fliegen, geflügelte Käfer und große Nachtfalter in Hülle und Fülle. Nur der Boden selbst schien ohne Lebewesen zu sein. Aber gerade das Erdreich war doch eine der reichsten Brutstätten in der Natur!

Sollte etwa die Strahlung in der Erde länger wirksam bleiben als in den Bäumen, im Wasser oder in der Luft? Dabei hatten doch die meisten Insekten ein Larvenstadium im Boden oder im Wasser durchzumachen. Und die Pflanzen zeigten auch keine auffallenden Veränderungen.

Sos hockte sich nieder und wühlte das Erdreich mit einem Stock auf.

»Da waren sie: Raupen, Regenwürmer und Käfer - offenbar ganz normal entwickelt. Unter der Erde und darüber gab es also Leben. Was war aber mit den Oberflächenbewohnern geschehen?

»Suchen Sie einen Freund?« fragte Sola spöttisch. Sos machte gar nicht erst den Versuch, zu erklären, was ihn bewegte, weil er seiner Sache nicht ganz sicher war.

Am Nachmittag hatten sie endlich etwas Passendes gefunden, ein schönes, breites Tal. An einer Stelle, wo früher ein Fluß geflossen war, wucherte Unterholz und säumte das Ufer, wo der Fluß heute verlief. Flußaufwärts verengte sich das Tal zu einer Schlucht mit einem Wasserfall - war also sehr leicht zu bewachen. Flußabwärts verbreiterte sich der Fluß zu einem schilfbestandenen Sumpf, den man weder zu Fuß noch mit einem Boot leicht überqueren konnte. Über die runden Bergkuppen auf beiden Seiten führten grüne Saumpfade.

»Hier könnten hundert Mann mit ihren Familien lagern!« rief Sol aus. »Zwei bis dreihundert Leute!« Seitdem er entdeckt hatte, daß die Nemesis des Ödlands keine Zähne besaß, hatte sich seine Laune beträchtlich gehoben.

»Sieht gut aus«, mußte Sos zugeben. »Vorausgesetzt, es lauern hier keine unbekannten Gefahren.«

»Kein Wild«, sagte Sol ernst, »dafür aber Fische und Vögel. Wir könnten ja Verpflegungstrupps ausschicken. Außerdem habe ich unterwegs Obstbäume gesehen.« Sos merkte, wie sehr Sol dieses Projekt am Herzen lag und wie aufmerksam er alle entgegenstehenden Hindernisse registrierte. Immerhin lag eine Gefahr darin, sich einer Sache zu früh sicher zu sein.

»Fische und Obst!« rief Sola aus und verzog das Gesicht. Dennoch schien sie, froh darüber zu sein, daß sie nicht tiefer in die Gefahrenzone eindrangen. Auch Sos atmete erleichtert auf. Er spürte das Ungewisse Fluidum, das die Einöde ausstrahlte, und fühlte, daß sie mehr Geheimnisse barg, als man mit Röntgen messen konnte.

Wieder kreischte Dummerchen, als die großen weißen Nachtfalter auftauchten. Ihre Farbe ließ sie größer erscheinen, als sie tatsächlich waren. Der Vogel flatterte ihnen aufgeregt nach. Offenbar waren Riesenfalter seine einzige Nahrung - seine Nahrung, überlegte Sos, womit er ihn zu Recht dem männlichen Geschlecht zuteilte. Der Vogel vertilgte eine Unmenge von diesen Insekten. Sammelte er sie in seinem Kröpf für magere Nächte?

»Ein grässlicher Lärm«, bemerkte Sola, womit sie Dummerchens schrille Schreie meinte. Sos fand keine passende Entgegnung. Diese Frau brachte es fertig, ihn zu faszinieren und gleichzeitig abzustoßen. Ihre Meinung über Dummerchen machte dem Vogel wohl nichts aus. Einer der Falter verharrte flatternd vor Sols Gesicht. Dieser machte eine blitzschnelle Bewegung und fing den Falter mit der Hand. Sol war neugierig. Als das Insekt ihn stach, stieß er einen Fluch aus und streifte das Tier ab. Dummerchen übernahm das Insekt.

»Es hat Euch gestochen?« fragte Sos. »Zeigt mir Eure Hand!« Er zog Sol näher ans Feuer und studierte den Einstich.

An der Daumenwurzel war ein rotgeränderter Fleck - ohne Entzündung oder Schwellung - zu sehen. »Wahrscheinlich nur ein Verteidigungsstich«, sagte Sos. »Ich bin kein Arzt, Trotzdem gefällt mir die Sache nicht. An Eurer Stelle würde ich die Wunde aufschneiden und aussaugen, nur um sicherzugehen. Von einem Falter, der sticht, habe ich noch nie etwas gehört.«

»Meine eigene Hand soll ich verletzen?« lachte Sol. »Zerbrich dir den Kopf über andere Dinge, Ratgeber!«

»Ihr werdet doch mindestens eine Woche lang keinen Gegner herausfordern. Das ist genügend Zeit zum Heilen.«

»Nein!« Und dabei blieb es.

Sie schliefen so wie immer. Die Zelte standen nebeneinander. Das Paar schlief in dem einen Zelt, Sos in dem anderen. Er lag angespannt und schlaflos da und wusste nicht, was ihn beunruhigte. Als er endlich einschlief, träumte er von riesigen Schwingen und enormen Brüsten. Beide Gebilde waren leichenweiß. Er -wusste nicht, welches ihm mehr Furcht einflößte.

Sol erwachte am nächsten Morgen nicht. Er lag voll angekleidet und glühend vor Fieber in seinem Zelt. Seine Augen waren halb offen und starr. Die Lider zuckten sporadisch. Die Atmung war schnell und flach, als wäre seine Brust beengt. Die Muskeln an Rumpf und Gliedern waren schlaff und schwer.

»Der Todesgeist hat ihn gepackt«, schrie Sola, »die Strahlung!«

Sos untersuchte den gepeinigten Körper. Die Festigkeit und Stärke diese Körpers, auch während der Krankheit, beeindruckten ihn sehr. Er hatte Sol eher für durchtrainiert als stark gehalten, mußte aber seine Meinung berichtigen. Sols Bewegungen waren sehnig und geschmeidig. Man bemerkte dabei kaum das Spiel seiner Muskeln. Doch nun wütete ein verheerendes Gift in seinem Körper. Sol schwebte in großer Gefahr.

»Nein«, antwortete Sos. »Die Strahlung hätte doch auch uns auf gleiche Weise schaden müssen.«

»Was ist es denn sonst?« fragte sie ängstlich.

»Der harmlose Falterstich.« Die ironische Bemerkung war an Sola vergeudet. Er hatte von todesweißen Schwingen geträumt; nicht sie. »Pack ihn an den Beinen! Ich möchte ihn ins Wasser tauchen und seinen Körper abkühlen.« Sos wünschte sich jetzt, er hätte mehr medizinische Werke gelesen, obwohl er die kaum verstanden hatte, die ihm erreichbar gewesen waren. Der Körper des Menschen reagierte von Natur aus meistens richtig. Wahrscheinlich erfüllte das Fieber einen guten Zweck, nämlich das Gift auszuglühen. Doch hatte Sos Angst, es zu sehr wüten zu lassen, weil sonst vielleicht das Gehirn angegriffen wurde.

Sola gehorchte. Mit vereinten Kräften schleppten sie den kräftigen Körper ans Flußufer. »Zieh ihn aus«, befahl Sos. »Vielleicht bekommt er nachher Schüttelfrost. Da können wir ihn nicht in nassen Kleidern liegen lassen.«

Sie zögerte. »Ich habe nie . . .«

»Beeil dich!« rief er und schreckte sie zum Handeln auf. »Das Leben deines Mannes steht auf dem Spiel!«

Sos streifte die enge Nylonjacke herunter, während Sola die

Hose um die Mitte lockerte und herunterzog. »Ach!« rief sie aus.

Er wollte sie zurechtweisen. In dieser Lage hatte sie bestimmt keinen Anlaß, sich zu zieren. Dann bemerkte er, was sie gesehen hatte. Und plötzlich verstand er, was zwischen den beiden nicht gestimmt hatte.

Verletzung, Geburtsfehler oder Mutation? Sol würde nie Vater werden können. Kein Wunder, daß er während seines Lebens so fanatisch den Erfolg suchte. Er würde nie Söhne haben, die seine Nachfolge antreten konnten.

»Trotzdem - er ist ein Mann«, sagte Sos. »Viele Frauen werden dich um seinen Armreif beneiden.« Er war verlegen, denn er erinnerte sich, wie Sol ihn auf ähnliche Weise nach ihrem Duell im Ring verteidigt hatte. »Sag es keinem weiter!«

»Nein«, sagte sie schaudernd, »niemandem.« Zwei Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. »Niemals!« Er wusste, sie dachte an die gesunden Kinder, die sie von diesem hervorragenden Krieger hätte bekommen können, der in jeder - außer in einer -Hinsicht unübertrefflich war.

Sie senkten den Körper ins Wasser. Sos hielt den Kopf von Sol fest. Er hatte gehofft, der Kälteschock würde eine wohltätige Wirkung ausüben, doch zeigte sich keine Änderung im Zustand des Kranken. Sol würde leben oder sterben, wie es das Schicksal wollte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Nach einigen Minuten rollte er Sol aufs Ufer zurück. Dummerchen saß auf seinem Kopf. Ihn hatte die allgemeine Unruhe aufgeregt gemacht: Tiefem Wasser mißtraute das Tier.

Sos überlegte. »Wir müssen hierbleiben, bis sich sein Zustand ändert«, sagte er. »Er hat eine kräftige Konstitution. Möglich, daß die Krise schon vorüber ist. Trotzdem können wir nicht das Risiko eingehen, uns von den Biestern stechen zu lassen. Wahrscheinlich wären wir tot, ehe die Morgendämmerung anbricht. Am besten, wir schlafen untertags und halten während der Nacht Wache. Vielleicht haben wir alle in einem Zelt Platz und können Dummerchen draußen fliegen lassen. Ziehe auf jeden Fall Handschuhe in der Nacht an.«

»Ja«, sagte sie, weder aggressiv noch herablassend.

Er wusste, daß ihnen eine harte Zeit bevorstand. Bei Nacht würden sie Gefangene in ihrem Zelt sein, auf engstem Raum zusammengepfercht. Sie durften nicht ins Freie gehen, weil der weißgeflügelte Tod sie bedrohte, während sie für einen Mann zu sorgen hatten, der jeden Abend sterben konnte.

Auch der Gedanke tröstete Sos nicht, daß Sol, selbst wenn er wieder völlig gesund werden sollte, nie seine Frau besitzen konnte - jenes aufreizende weibliche Wesen, an dessen Seite Sos die Nacht verbringen würde.