XV

»Die Muskeln lockern! Es ist besser, Sie gehen, damit der Kreislauf wieder in Schwung kommt!«

Sos kam nur widerwillig zu sich. Er versuchte die Augen zu öffnen, doch die Dunkelheit blieb.

»He! Finger weg von dem Verband! Auch wenn Sie nicht schneeblind sind, so sind Sie doch erfroren. Hier, meine Hand . . .!« Eine feste Männerhand stieß gegen seinen Arm.

»Bin ich gestorben?« fragte Sos und stützte sich auf die dargebotene Hand.

»Ja, in gewisser Weise. Sie werden nie mehr nach oben zurückkehren« - »Und - Dummerchen?«

»Was?« - »Mein Vogel. Ist er auch mitgekommen?«

Der Mann blieb stehen. »Entweder handelt es sich um ein Mißverständnis, oder Sie sind frecher als alle Teufel!«

Sos klammerte sich an den Arm des Mannes und schrie vor Schmerz auf. Er zog mit der freien Hand am Kopfverband und riss ihn weg. Schmerz überflutete ihn, doch er konnte wieder sehen.

Er befand sich in einem Herbergsraum und stand vor einem gewöhnlichen Schlafabteil, das mit ungewöhnlichen Geräten ausgestattet war. Er trug seine Beinkleider, sonst nichts. Ein dünner Mann in einem weibischen weißen Arbeitskittel verzog das Gesicht, als Sos Griff stärker wurde. Sos ließ ihn los und sah sich nach dem Ausgang um.

Eine Herberge konnte das nicht sein, denn dieser Raum war viereckig. Die Standardeinrichtung hatte ihn zunächst irregeführt. Jedenfalls hatte er noch nie eine Unterkunft dieser Art gesehen.

»Eine ungewöhnliche Wiederbelebung, das muß ich sagen«, bemerkte der Mann und rieb sich den Arm. Er war in mittleren Jahren, mit schütterem Haar und blassen Zügen. Offenbar hatte er die Sonne und den Kampfring lange entbehrt.

»Sind Sie ein Irrer?«

»Die meisten Menschen in Ihrer Lage begnügen sich mit einem >Oh, wo bin ich?< oder einer anderen Banalität. Sie sind ein Original!«

»Ich bin nicht auf den Berg gekommen, damit man sich über mich lustig macht«, sagte Sos streng und kam drohend auf den Mann im Kittel zu.

Der Mann drückte auf einen Knopf in der Wand. »Wir haben einen Lebenden!« rief er.

»Habe ich gesehen«, antwortete eine weibliche Stimme aus dem Nichts.

Eine Sprechanlage, dachte Sos. Also waren es Irre.

»Bring ihn in den Behandlungsraum! Ich übernehme ihn.«

Der Mann drückte auf einen anderen Knopf. Neben ihm glitt eine Tür auf. »Gehen Sie bis ans Ende. Dort werden alle Ihre Fragen beantwortet.«

Sos ging an ihm vorbei, mehr darauf bedacht, ins Freie zu kommen, als einen Unbekannten auszufragen. Doch der Gang führte nicht ins Freie. Er war unendlich lang, mit geschlossenen Türen auf beiden Seiten. Das war bestimmt keine Herberge. Das war vielmehr ein Gebäude. Es erinnerte ihn an eine von den Irren geführte Schule. Doch dafür war das Gebäude wieder zu groß.

Sos rüttelte an einer Tür. Sie war verschlossen. Er dachte schon daran, sie aufzubrechen, fürchtete jedoch, daß das zu lange dauern würde. Er hatte Kopfschmerzen. Seine Muskeln waren steif und schlaff zugleich. Im Magen spürte er Übelkeit. Er fühlte sich körperlich elend und wollte hinaus, bevor ihm noch andere weißbekittelte Unbekannte über den Weg liefen. Die Tür am Ende des Ganges stand offen. Sos betrat einen riesengroßen Raum, der mit merkwürdigen Gebilden angefüllt war: Horizontale Balken, vertikale Stangen; große Behälter, die aus zusammengebundenen Stäben bestanden. Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, und war zu wirr und krank, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Eine leichte Hand legte sich auf seinen Arm. Vor Schreck sprang er zur Seite. Er faßte nach seinem Lasso und drehte sich blitzschnell nach dem Feind um.

Natürlich war das Lasso gar nicht mehr da. Der vermeintliche Feind war ein Mädchen. Ihr Kopf reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter. Sie trug einen weißen Arbeitsmantel. Ihr Haar war unter einem knappen Käppchen zusammengefaßt, das sie knabenhaft aussehen ließ. Die kleinen Füße waren bloß.

Verlegen beruhigte sich Sos, obwohl sein Schädel dröhnte und ihn die Örtlichkeit noch immer durch ihre Abgeschlossenheit bedrückte. So nervös war er noch nie gewesen. Wenn er nur hinaus in den offenen Wald hätte gehen können . . .

»Darf ich das haben?« sagte das kleine Mädchen. Ihre federweichen Finger glitten über seinen Unterarm und faßten nach dem Armreif. Sie streifte ihn ab.

Er faßte ärgerlich danach, doch sie entschlüpfte ihm. »Was machst du?« fragte er.

Sie legte die goldene Spange über ihr Gelenk und drückte sie zusammen. »Sehr hübsch. So etwas habe ich mir immer gewünscht«, sagte sie keck. Sie hob eine Braue: »Wie heißen Sie?«

»Sos, der - Sos«, sagte er, als ihm seine Niederlage im Ring einfiel. Er hatte sich wieder als waffenlos zu betrachten. Erneut wollte er nach ihr fassen, doch sie tänzelte weg.

»Ich hab' dir den Reif nicht gegeben.«

»Dann hol ihn dir wieder«, sagte sie und streckte ihm ihr Gelenk entgegen. Ihr Arm war schlank, aber schön geformt. Wie alt sie wohl sein mochte? Sicherlich nicht alt genug, um solche Spiele mit einem erwachsenen Mann zu treiben.

Noch einmal langte er nach ihr . . . und griff in die Luft.

»Mädchen, du ärgerst mich!«

»Wenn du dich so langsam ärgerst, wie du dich bewegst, dann habe ich nichts zu befürchten, Ungeheuer!«

Diesmal machte er einen Satz auf sie zu, weder im Ärger noch in der Bewegung langsam, und verfehlte sie abermals.

»Na los doch, Baby!« neckte sie ihn und schüttelte ihr erhobenes Handgelenk, so daß das Metallband verführerisch aufblitzte. »Du magst nicht, wenn man dich verspottet! Laß einer Frau doch nicht alles durchgehen! Fang mich!«

Sie wollte also, daß er sie jagte. Er wusste auch, daß er nicht ihrem Willen nachgeben durfte. Doch der Schmerz im Kopf und Körper beeinträchtigte seine Wachsamkeit. Er lief ihr nach.

Sie glitt die Wand entlang, sah sich nach ihm um und kicherte. Sie war so klein und zierlich, daß Beweglichkeit ihre zweite Natur war. Mit Bekleidung konnte sie nicht mehr als hundert Pfund wiegen. Als er sie fast eingeholt hatte, wich sie seitwärts aus und ließ eine vertikale Stange ausschwingen, über die er tolpatschig stolperte.

»Ein Glück, daß du nicht im Ring stehst!« zwitscherte sie. »Du kannst ja nicht mal gerade auf den Beinen stehen!«

Als er wieder hinter ihr her war, bewegte sie sich bereits zwischen den Geräten - mit einer Geschicklichkeit, die das Ergebnis langer Übung sein mußte.

Sos folgte ihr, faßte nach den aufrechten Stäben und schwang sich mit gesteigerter Gewandtheit weiter. Er fühlte sich bei diesen Bewegungen gleich viel besser, als schüttle er damit die Lethargie der eisigen Berge ab. Wieder hatte er sie eingeholt - und wieder entkam sie ihm überraschend.

Sie sprang in die Luft und faßte nach der untersten Sprosse einer Leiter, die von der hohen Decke hing. Wie eine Athletin klammerte sie sich mit den Beinen daran fest und stieg daran hoch, als wäre sie schwerelos. In Sekundenschnelle war sie außer Reichweite.

Sos packte die unterste Sprosse und entdeckte, daß sie aus biegsamem Plastik war. Er zog versuchsweise daran. Ein Zittern lief die Seile entlang, und das brachte auch das Mädchen in Bewegung. Seile? Er lächelte, schüttelte das Ding noch mehr und zwang das Mädchen damit, sich fest anzuklammern, damit es nicht abgeworfen wurde. Dann versuchte er hochzuklettern.

Die Strickleiter hielt sein Gewicht aus. Die Bewegung war ihm] zwar ungewohnt, doch konnte er sich rasch anpassen. Schließlich hatte er gelernt, mit einem Seil umzugehen.

Sie spähte verstört hinunter, doch er kletterte ruhig weiter und beobachtete sie. In einigen Sekunden würde er nach ihrem Fuß fassen und sie nach unten ziehen können.

Sie streckte die Beine durch das Leiterende und hing jetzt mit dem Kopf nach unten. Der Arbeitskittel glitt ihr von den Schultern. Darunter trug sie einen leichten, knappen zweiteiligen Anzug, der wenig mehr als Busen und Hinterteil bedeckte. Sos revidierte seine Einschätzung ihres Alters: Sie war so wohlgerundet wie eben eine richtige Frau.

Sie sah ihn mit elfenhaftem Gesicht an, breitete den Kittel aus und ließ ihn auf sein nach oben gewendetes Gesicht fallen.

Er fluchte und versuchte, den Kittel abzustreifen. Dabei verlor er beinahe die Leiter aus dem Griff.

Bis er sich wieder abgesichert hatte und den leicht parfümierten Kittel losgeworden war, stand sie schon auf dem Boden unter ihm und kicherte fröhlich. Sie war also an ihm vorbeigeglitten. »Möchtest du deinen Armreif, Tolpatsch?« neckte sie ihn.

Sos ließ sich hinunter und landete auf dem Boden. Schon war sie wieder weg. Diesmal hatte sie das kastenartige Gebilde erklommen und wand sich über und unter den Stangen wie eine Schlange hindurch. Jetzt wusste er, daß er sie nicht fangen konnte. Sie war eine Turnerin. Größe und Gewicht kamen ihr bei den Geräten sehr zustatten.

»Gut«, sagte er verdrossen, aber nicht mehr böse. Er bewunderte ihren geschmeidigen und gesunden Körper. Wer hätte solche Rundungen in so knapper Verpackung vermutet?

»Behalte ihn!«

Einen Augenblick und verschiedene Drehungen, und sie stand neben ihm. »Du gibst also auf?«

Er ließ seine Finger über ihrem Oberarm einschnappen und benutzte dabei denselben Trick wie beim Seilwurf. »Nein!«

Sie zuckte unter dem harten Griff nicht einmal zusammen, und rammte ihre freie Hand mit der Kante in seinen Bauch, knapp unter dem Brustkasten, und zwar von unten nach oben. Dabei hielt sie die Finger steif ausgestreckt.

Die Wucht des Hiebes überraschte ihn. Er war momentan wie gelähmt. Doch behielt er seinen Griff bei und drückte sogar noch fester zu, bis ihr festes junges Fleisch gegen den Knochen gequetscht wurde.

Auch jetzt kein Zusammenzucken oder Aufschreien. Wieder versetzte sie ihm mit der flachen Hand einen Hieb - diesmal gegen die Kehle. Eine unglaublich schmerzhafte Stelle. Sein Mageninhalt kam hoch. Sos konnte weder den Atem anhalten noch aufschreien. Also übergab er sich keuchend und würgend.