V

»Ratgeber, wenn du mir noch einmal sagst, ich soll meine Rechte zu Brei zerschmettern, werde ich deinen Rat befolgen«, sagte Sol und gab damit seinen Irrtum, den Insektenstich betreffend, zu. Er war zwar noch sehr blaß, aber deutlich auf dem Wege der Besserung. Bevor er erwachte, hatten sie ihm eine frische Hose angezogen und überließen es ihm, Vermutungen über den Verbleib der alten Sachen anzustellen. Er erwähnte sie jedoch nicht.

Sola hatte von einem wilden Apfelbaum kleine grüne Früchte gepflückt und daraus eine gräßlich schmeckende Brühe gekocht. Sos berichtete von der Flucht vor den Mäusen und ließ dabei ein paar Einzelheiten aus, während die Frau zustimmend nickte.

»Also können wir das Tal für unsere Zwecke nicht gebrauchen«, sagte Sol.

»Im Gegenteil - es ist ein herrliches Übungsgelände.«

Sola verzog das Gesicht. »Und die Mäuse?«

Sos wandte sich an Sol. »Gebt mir zwanzig gute Männer, einen Monat Zeit, und ich sorge dafür, daß das Tal das ganze Jahr über sicher ist«, sagte er ernst.

Sol zuckte die Achseln. »Na gut.«

»Wie kommen wir hier raus?« fragte Sola.

»So, wie wir hereingekommen sind. Die Mäuse sind das Opfer ihrer Gefräßigkeit. Sie können nirgends lange bleiben, und hier im Tal haben sie nicht viel Freßbares gefunden. Sie sind sicher schon in fettere Weidegründe weitergezogen und werden bald das Zeitliche segnen. Ihr Lebenszyklus ist kurz. Wahrscheinlich geht nur jede dritte oder vierte Generation der Mäuse auf Wanderschaft.«

»Woher kommen die Mäuse?« fragte Sol.

»Wahrscheinlich handelt es sich hier um ein von der Strahlung erzeugtes Mutantengeschlecht.« Er wollte die Gesetze der Evolution erläutern, doch Sol gähnte. »Jedenfalls müssen sie sich irgendwie verändert haben, weil sie auf verseuchtem Gebiet überlebt haben, und machen jetzt jedes Leben auf dem Boden zunichte. Sie müssen immer weiter ausschwärmen oder verhungern. Das wird nicht ewig so weitergehen.«

»Und du kannst sie aus dem Tal vertreiben?«

»Ja, wenn ich die entsprechenden Maßnahmen ergreife.«

»Brechen wir auf!«

Das Tal war wieder leer und verlassen. Von den winzigen Säugetieren war keine Spur zurückgeblieben - nur plattgedrücktes Gras und aufgewühltes Erdreich. Auf der Suche nach fetten Raupen hatten sie jeden Halm umgedreht. Eine sonderbare Heimsuchung.

Sol sah sich die Verwüstung an. »Zwanzig Leute?.« meinte er nachdenklich.

»Und einen Monat Zeit.«

Sie zogen weiter.

Sol schien während der Wanderschaft frische Kräfte zu sammeln. Die zwei anderen tauschten Blicke und schüttelten den Kopf. Schließlich war Sol dem Tod nahe gewesen und mußte doch noch die Nachwehen spüren.

Sie schlugen ein rascheres Tempo an, weil sie noch vor Einbruch der Dämmerung das Ödland hinter sich bringen wollten. Jetzt wussten sie, wohin sie wollten, deswegen ging alles viel rascher. Bei Anbruch der Dunkelheit hatten sie bereits die roten Markierungen erreicht. Dummerchen blieb bei Sos. Er kauerte auf Sos' Schulter. Dem Vogel hatten sie es zu verdanken, daß sie auch während der Dunkelheit weitergehen konnten, bis sie die Herberge erreicht hatten. Er hielt ihnen die Falter vom Leib.

In der Herberge ließen sie sich erschöpft niedersinken und ruhten einen Tag und eine Nacht aus. Sie aalten sich in der geregelten Wärme, genossen den gesicherten Schlaf und das reichliche Essen. Sola schlief ohne weitere Klagen neben ihrem Mann. Offenbar bedeutete ihr die Erinnerung an die letzte Nacht im Ödland gar nichts, bis Sos hörte, wie sie Greensleeves summte. Da wusste er, daß es in diesem Ring noch keinen Sieger für sie gegeben hatte. Sie mußte sich zwischen zwei widersprechenden Wünschen entscheiden. Wenn sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, würde sie Sol entweder seinen Armreif zurückgeben - oder ihn behalten.

Dummerchen schien keinerlei Mühe zu haben, sich an kleinere Insekten zu gewöhnen. Die weißen Falter waren ein Phänomen, das sich offenbar auf das Ödland beschränkte. Der Vogel hatte sich für Sols »Reich« entschieden, auch wenn er auf seinen Lieblingshappen verzichten mußte.

Sie zogen weiter. Nach zwei Tagen begegneten sie einem Krieger, der einen Stab trug. Er war jung und blond wie Sol und lächelte unbekümmert. »Ich bin Sav, der Stockkämpfer«, sagte er, »und suche Abenteuer. Wer will sich mit mir im Kreise messen?«

»Ich kämpfe um Dienstbarkeit«, gab Sol zurück. »Ich möchte einen Stamm bilden.«

»So? Was für eine Waffe führt Ihr?«

»Wenn Ihr wollt, soll es der Stab sein.«

»Ihr führt mehr als nur eine Waffe?«

»Alle Waffen.«

»Würdet Ihr mit der Keule gegen mich antreten?«

»Ja.«

»Gegen die Keule kämpfe ich am besten.«

Sol öffnete seinen Waffenwagen und zog die Keule heraus.

Sav sah ihm freundlich zu. »Doch möchte ich keinen Stamm aufbauen. Mißversteht mich nicht, Freund - ich bin gewillt, mich Eurem Anhang zuzugesellen, wenn Ihr mich besiegt. Aber ich will Eure Dienste nicht, falls ich Euch schlage. Habt Ihr etwas anderes in die Waagschale zu werfen?«

Sol sah ihn erstaunt an und wandte sich an Sos.

»Er hat Euer Weib im Sinn«, sagte Sos und bemühte sich, sachlich zu bleiben. »Wenn sie für ein paar Nächte seinen Armreif annimmt, als Pfand . . .«

»Eine Nacht reicht«, sagte Sav. »Ich bleibe nicht gern an einem Ort.«

Sol wandte sich unsicher an Sola. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, zum Feilschen tauge er nicht. Mit den üblichen Bedingungen kam er zurecht, doch ein außergewöhnliches Abkommen oder eine Vereinbarung zwischen drei Personen machte ihn unsicher.

»Wenn Ihr meinen Gatten besiegt«, sagte Sola zum Stabkämpfer, »werde ich Euren Armreifen nehmen, solange Ihr wollt.« Sos begriff jetzt ihre Sehnsucht nach Aufmerksamkeiten, die nicht im Sexuellen gründeten. Diese Verpflichtungen waren Gewohnheitsrecht. Sie mußte eben einen Preis für ihre Schönheit bezahlen.

»Eine Nacht«, wiederholte Sav. »Nichts für ungut, Schönste. Zweimal wäre schon einmal zuviel.«

Sos sagte nichts mehr. Der Krieger war entwaffnend offen, und was immer Sola auch sein mochte - eine Heuchlerin war sie bestimmt nicht. Sie folgte dem Besten und begehrte seinen Namen. Falls sie sich selbst in die Waagschale werfen mußte, um den Besten zu finden, dann tat sie es. In ihrer Philosophie war für einen Unterlegenen kein Platz. Oder hatte sie solches Vertrauen zu Sol, daß sie wusste, sie riskierte nichts?

»Der Handel ist also abgemacht«, sagte Sol. Gemeinsam zogen sie zur nächsten, ein paar Kilometer entfernten Herberge.

Als die zwei Männer in den Ring traten, harte Sos insgeheim Zweifel. Sol war zwar ungeheuer flink, doch die Keule war im Grunde genommen ein Kraftinstrument und verlangte nicht viel Technik. Auch wenn Sol sich unterwegs nichts hatte anmerken lassen, so hatte die Krankheit seine Kraft und Ausdauer bestimmt beeinträchtigt. Der Stab war eine Verteidigungswaffe, für ein längeres Duell vorzüglich geeignet, während die Keule die Kraft eines Kämpfers rasch erschöpfte. Sol hatte sich dummerweise den Bedingungen seines Gegners unterworfen und damit eine denkbar schlechte Ausgangsposition gewählt.

Doch was ging ihn das an? Siegte Sol, hatte der Stamm das erste Mitglied gewonnen. Verlor er, so nahm Sola einen anderen Armreif an, wurde Sava und wahrscheinlich bald wieder ungebunden. Sos war nicht sicher, welche Lösung ihm persönlich mehr nützte. Am besten, man überließ die Entscheidung dem Ring!

Nein! Er hatte sich entschieden, Sol als Entgelt für den Namen zu dienen. Er hätte dafür sorgen müssen, daß Sols Chancen gut standen. So wie die Dinge jetzt lagen, hatte er ihn bereits verraten. Jetzt konnte er nur hoffen, daß dieser Fehler Sol nicht den Sieg kostete.

Die zwei Männer traten in den Ring, und sofort begann der Kampf. Im Ring galten keine Manieren - nur Sieg und Niederlage.

Sav ging in Erwartung eines wilden Angriffs sofort in die Defensive. Der Angriff kam nicht. Die Stange war zwei Meter lang und hatte denselben Durchmesser wie ein Stockrapier, jedoch stumpfe Enden. Mit großer Wucht geführt, bog sie sich leicht durch, war aber sonst nichts anderes als eben eine lange Stange. Sie war eine der primitivsten Waffen, führte selten zu einer raschen Entscheidung, konnte leicht jede andere Waffe abwehren, wurde aber selbst auch leicht abgewehrt.

Sol holte viermal mit der schweren Keule aus, beobachtete die Abwehrreaktionen seines Gegners und führte dann einen Rückhandschlag gegen dessen Brust, der an der horizontal gehaltenen Stange glatt vorbeiging.

Sav machte ein erstauntes Gesicht und rang nach Luft. Sol drückte mit der Keule gegen die Stange, und Sav fiel rücklings aus dem Ring.

Sos staunte. Das hatte so einfach ausgesehen wie ein glücklicher Zufall. Er wusste jedoch, daß es kein Zufall gewesen war. Sol hat fachmännisch die Reflexe seines Gegners getestet und dann so rasch und präzise zugeschlagen, daß keine Abwehrbewegung mehr möglich war. Ein bemerkenswertes Meisterstück mit der Keule. Sol, der außerhalb des Ringes nichts Besonderes darstellte, war im Ring ein taktisches Genie. Er hatte einen Mann gewonnen, einen tüchtigen und unversehrten Krieger.

Es sah so aus, als brauche Sol, was die Führung eines Kampfes betraf, keine Ratschläge.

Sav ertrug sein Los mit stoischer Ruhe. »Reichlich albern muß ich jetzt aussehen, nach meinem großen Gerede«, sagte er. Und dabei blieb es. Kein Trübsalblasen und keine weiteren Annäherungsversuche an Sola.

Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung, von der Sos gelesen hatte, würde es einige Wochen dauern, bevor sie wieder einem wirklich befähigten Krieger begegneten. Trotzdem trafen sie an diesem Nachmittag noch zwei Schwertkämpfer, Tor und Tyl. Der erste war dunkel, mit dichtem Bartwuchs, der zweite schlank und glattrasiert. Das war eine Anspielung auf die scharfe Klinge, die sie führten. Sos hatte einmal versucht, sich mit seinem Schwert zu rasieren, und hatte sich dabei das Gesicht schrecklich zugerichtet. Danach hatte er sich mit der Schere begnügt und es mit der Glätte nicht mehr so genau genommen. In den Unterkünften gab es elektrische Rasierapparate, obwohl nur wenige sich zur Benutzung dieser Geräte bequemten. Sos hatte nie verstehen können, warum es als unwürdig galt, die Rasierapparate der Irren zu benützen, da man doch auch ihre Lebensmittel aß. Irgendwie hatte sich diese Konvention eben herausgebildet.

Beide Schwertkämpfer waren verheiratet. Tor hatte ein Töchterchen. Die beiden Krieger waren Freunde, doch Tyl war der Anführer der kleinen Gruppe. Beide waren mit dem Kampf einverstanden. Zuerst war Tor an der Reihe. Er stellte die Bedingung, daß alles, was er gewann, Tyl gehören sollte. Das war so Sitte unter den Stämmen.

Gegen Tor trat Sol mit dem Schwert an. Die Schwerter waren gerade, flache, schärfe Waffen, einen halben Meter lang. Sie waren sehr spitz, wurden aber selten als Stichwaffe verwendet. Schwertkämpfe verliefen meist dramatisch und kurz. Unglücklicherweise kam es häufig zu Verletzungen und Todesfällen. Deswegen hatte Sol gegen Sos vor ein paar Wochen die Stange gewählt. Er war seiner Kunst sicher gewesen und hatte nicht riskieren wollen, seinen Gegner schwer zu verletzen.

»Weib und Tochter sehen zu«, murmelte Sola neben ihm. »Warum wählt er dieselbe Waffe?«

Sos verstand ihre Frage, Tora und Tori betreffend, auch Sols Wahl des Schwertes. »Weil Tyl ebenfalls zusieht«, murmelte er.

Tor war sehr kräftig und ging zu einem wilden Angriff über, während Sol bloß abwehrte. Dann griff Sol an - ohne jede Anstrengung, wie es schien und bedrängte seinen Gegner hart. Danach trat im Ring eine Pause ein. Keiner der beiden wagte einen neuen Angriff.

»Gib auf«, sagte Tyl zu seinem Mann.

Tor trat über die Begrenzung, und der Kampf war ohne Blutvergießen vorüber. Das kleine Mädchen staunte, ohne zu begreifen. Sola schien ebenso verwirrt. Doch Sos hatte zwei wichtige Dinge erfahren. Erstens hatte er gesehen, daß Tor ein erstklassiger Schwertkämpfer war, der ihn im Kampf wahrscheinlich besiegt hätte. Zweitens ahnte er, daß Tyl noch besser war. Dieses Paar war eine echte Rarität. Sie mußten bestimmt lange suchen, bis sie wieder Kriegern von solchem Format begegneten. Aber so war das eben mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Sola war der Meinung, Schwert gegen Schwert bedeute unbedingt Blutvergießen. Doch das hatte sich nicht bewahrheitet. Tor hatte Sol nur getestet, und war seinerseits getestet worden. Keiner der beiden hatte einen todbringenden Hieb anbringen wollen. Tyl hatte beobachtet. Nicht seinen eigenen Mann, dessen Fähigkeiten er kannte, sondern Sol. Und er hatte sich sein Urteil gebildet. Er hatte gesehen, was auch Sos gesehen hatte - daß Sol technisch klar überlegen und ihm der Sieg so gut wie sicher war. Tyl war vernünftig. Er hatte seinen Mann geopfert, bevor es zu einem unwiderruflichen Ende gekommen war. Vielleicht war das Kind enttäuscht, das seinen Vater für unverwundbar gehalten hatte. Doch ihm den Vater zu nehmen, um es eines Besseren zu belehren, wäre wohl zu roh gewesen.

»Ich verstehe jetzt«, sagte Sola leise. »Aber angenommen, sie sind einander ebenbürtig?« Sos gab keine Antwort.

Sol hatte wieder schmerzlos gesiegt und einen guten Mann gewonnen. Nur indem Sol eine Waffe verwendete, die Tyl sehr gut beherrschte, hatte Tor seinen Standpunkt klarmachen können.

Sos hatte bisher Sols Plänen gegenüber eine abwartende Haltung eingenommen. Er wusste, zu einer Reichsgründung brauchte man viel mehr als nur Geschicklichkeit und Können im Ring. Seine Zweifel waren jetzt zerstreut. Wenn Sol sich auch in seinen schwachen Perioden so glänzend schlagen konnte, waren nach seiner Genesung seinen Fähigkeiten keine Grenzen mehr gesetzt. Er hatte bis jetzt mit Stange, Keule und Schwert sein Können bewiesen und war nicht ein einziges Mal in Gefahr geraten, besiegt zu werden. Weiteren Stammesneuerwerbungen schien nichts im Wege zu stehen.

Tyl erhob sich und wartete mit einer Überraschung auf. Er legte sein Schwert ab und zog ein Paar Stockrapiere heraus. Er führte zwei Waffen und wollte Sol nicht mit dem Schwert gegenübertreten.

Sol lächelte bloß und nahm seine eigenen Rapiere zur Hand.

Der Kampf war kurz und brachte eine klare Entscheidung, wie Sos es erwartet hatte. Die vier Rapiere blitzten und wirbelten, schlugen, stießen und wehrten ab. Sie wirkten wie einfache Schwerter und leichte Stangen. Das war eine besondere Kunstfertigkeit; denn man mußte zwei Instrumente gleichzeitig bedienen und abwehren. Dafür war ein hervorragendes Koordinationsvermögen erforderlich. Für die Zuschauer außerhalb des Ringes war es kaum möglich, zu unterscheiden, welcher der beiden besser war, bis ein Rapier aus dem Ring flog und Tyl taumelnd folgte, halb entwaffnet und besiegt. Seine linke Hand blutete.

Aber auch Sol war verwundet. Er blutete aus einer Schramme über dem Auge. Der Kampf war also nicht bloß einseitig gewesen. Jetzt gehörten schon drei Männer zu Sols Gruppe. Zwei davon waren keine Anfänger mehr.

Nach zwei Wochen hatte Sos seine zwanzig Mann beisammen. Er führte sie ins Ödland zurück, während Sol mit Sola allein weiterzog.