VIII

Mit dem Einbruch der kühlen Witterung zog Sav ins Hauptzelt, das von einem ständigen Feuer erwärmt wurde. Man hatte das große Zelt in viele kleine Wohnungen unterteilt, um den Familien wenigstens eine gewisse Privatsphäre zu verschaffen. Auf der Suche nach Armreifen stießen immer mehr heiratsfähige junge Frauen zum Stamm. Sav ließ seinen Reif unter ihnen kreisen.

Sos blieb in seinem kleinen Zelt, weil er sich nicht gern unter die Waffenträger mischen wollte. Seine Machtlosigkeit im Ring war eine Quelle wachsender Bekümmerung, obwohl er das nicht offen zugeben konnte. Bevor man ihm das Waffenprivileg entzogen hatte, hatte er das Ausmaß seines Dranges, sich zu bestätigen und Probleme mit der Kraft seines Armes zu lösen, unterschätzt. Er mußte wieder eine Waffe führen. Doch war er von allen sechs Waffentypen, die die Irren lieferten, ausgeschlossen. Die Waffen wurden irgendwo in Mengen produziert, standardisiert und zur freien Verfügung in den Herbergen gelagert. Die anderen Alternativen, wie zum Beispiel Pfeil und Bogen, waren im Ring nicht zu gebrauchen.

Darüber hatte er sich schon oft gewundert. Warum unterzogen sich die Irren der Mühe, diese Dinge zu liefern, den Nomaden eine Existenz zu ermöglichen und sich um den Gebrauch, den die Menschen von den Waffen machten, überhaupt nicht zu kümmern? Manchmal hatte er geglaubt, eine Antwort gefunden zu haben. Inzwischen war er ein Mitglied der Kampfgesellschaft geworden und mußte sich nach deren Bedingungen richten. Wenn er dazu imstande war.

Er streifte die Kleider ab und kroch in seinen warmen Schlafsack. Das war auch ein Gegenstand, den die Irren freundlicherweise im Winter lieferten. In der nächstgelegenen Herberge waren viel mehr als sonst gelagert gewesen - als Reaktion auf den gesteigerten Verbrauch auch der anderen Güter. Die Irren wußten bestimmt von der Existenz dieses Trainingslagers, schienen sich aber nicht weiter darum zu kümmern. Wo immer auch Menschen lebten - die Irren schickten Vorräte und kümmerten sich offenbar um nichts sonst.

Neben sich hatte Sos eine kleine Gaslampe, die es ihm ermöglichte, die Bücher zu lesen, die die Irren hinterließen. Sogar in diesem Punkt waren sie großzügig. Als er angefangen hatte, aus der Herberge Bücher mitzunehmen, waren plötzlich mehr Bücher aufgetaucht, und zwar Bücher über Themen, die er zu bevorzugen schien. Sos zündete die Lampe an und schlug das Buch auf. Es war ein Werk über die Landwirtschaft vor dem Weltenbrand. Sos versuchte zu lesen; doch der Text war sehr kompliziert, und er konnte sich nicht konzentrieren. Da war von Sorten und Mengen von Kunstdünger für bestimmte Anbauflächen, von Fruchtfolge, Schädlingsbekämpfung, Anwendung von Giften und von Vorsichtsmaßnahmen die Rede. Für Sos war das alles unverständlich, da er doch nur wissen wollte, wie man Erdnüsse und Karotten anbaute. Er legte das Buch weg und löschte das Licht.

Seit Sav weg war, fühlte Sos sich einsam. Der Schlaf wollte nicht kommen. Er dachte an Sav, der seinen Armreif wandern ließ und dort drüben im Hauptzelt williges Fleisch umarmte. Sos hätte es ihm gleichtun können. Manch eine Frau hatte seinen Armreif vielsagend angesehen, obwohl er keine Waffe trug. Er hatte sich eingeredet, seine Stellung verlange, daß er ungebunden blieb - auch in einsamen Nächten. Doch wusste er, daß das Selbstbetrug war. Der Besitz einer Frau machte eine Hälfte des Mannestums aus. Ein Krieger konnte seinen Ruf auf diese Art ebenso untermauern wie im Ring. In Wahrheit wollte er keine Frau nehmen, weil er sich seiner Waffenlosigkeit schämte.

Jemand näherte sich seinem Zelt. Wahrscheinlich Tor, der ihm vertraulich einen Vorschlag machen wollte. Der Bartträger hatte Verstand und interessierte sich so sehr für Gruppenorganisation und Taktik, daß er Sos auf diesem Gebiet bereits ausgestochen , hatte. Soweit es die besonderen Umstände ihrer Stellung erlaubten, waren sie gute Freunde geworden. Sos hatte manchmal bei Tors Familie gegessen, obwohl der Kontakt mit der behäbigen, gutmütigen Tora und der altklugen Tori ihn nur daran erinnerte, wie sehr er sich eine eigene Familie gewünscht hatte.

Gewünscht hatte? Es war doch umgekehrt. Bis vor kurzem war er sich dieses Verlangens nicht bewusst gewesen.

»Sos?«

Das war eine weibliche Stimme - eine, die er nur zu gut kannte.

»Was willst du, Sola?«

Ihr mit einer Kapuze umhülltes Haupt hob sich im Eingang schwarz gegen den weißen Schneehintergrund ab. »Darf ich hinein? Hier draußen ist es kalt.«

»Drinnen ist es auch kalt, Sola. Du solltest in dein eigenes Zelt gehen.« Wie er, hatte sie ihre eigene Unterkunft, die in der Nähe von Tyls Zelt aufgestellt war. Sola hatte sich nämlich mit Tyla angefreundet. Noch immer trug sie Sols Armreif, und die Männer hielten sich deshalb von ihr peinlichst fern. »Laß mich ein«, sagte sie.

Mit einem nackten Arm zog er das Drahtgeflecht hoch. Nach dem Löschen des Lichtes hatte er vergessen, die Zeltklappe zu verschließen. Sola kroch auf Händen und Knien herein, stieß dabei fast die Lampe um und legte sich neben seinen Schlafsack. Sos ließ jetzt den Nylonverschluß herunter und schnitt damit den Lichteinfall von draußen und/wie er hoffte, den Wärmeverlust ab.

»Ich habe es satt, allein zu schlafen«, sagte sie.

»Du bist also zum Schlafen gekommen?«

»Ja.«

Er hatte diese Frage spaßhaft gemeint und war jetzt verblüfft von ihrer Antwort. Eine plötzlich aufflammende wilde Hoffnung ließ seine Pulse schneller schlagen. Das Überraschungsmoment war zu groß. Er hatte sich selbst doppelt betrogen: Weder sein Rang noch seine Waffenlosigkeit konnten ihn von einer Verbindung abhalten und von seiner Besessenheit nach einer Frau. Von dem Begehren nach dieser Frau.

»Möchtest du meinen Armreif?«

»Nein.«

Die Enttäuschung war noch wilder. »Verschwinde!«

»Nein.«

»Ich werde nie den Armreif eines ändern Mannes in den Schmutz ziehen. Oder meinen eigenen zum Ehebruch mißbrauchen. Wenn du nicht freiwillig gehst, schaffe ich dich gewaltsam hinaus.«

»Und wenn ich schreie und das ganze Lager auf die Beine bringe?« sagte sie leise.

Sos fiel ein, daß er in seiner Lektüre auf eine ähnliche Situation gestoßen war. Er wusste, ein Mann, der ein einziges Mal einer Versuchung nachgab, war hie wieder Herr seiner Entschlüsse. Mit der Zeit würde es nur ärger werden. »Schrei, wenn du willst. Du wirst jedenfalls nicht hierbleiben.«

»Ihr werdet nicht Hand an mich legen«, sagte sie selbstzufrieden, ohne sich zu rühren.

Sos setzte sich auf und faßte nach ihrem Pelzumhang. Er war wütend auf sie und sein sündhaftes Verlangen. Das Zeug rutschte vorne auseinander, da sie es nur umgewickelt und nicht geschlossen hatte. Seine Hände und das gedämpfte, vom Schnee draußen reflektierte Licht sagten ihm, daß sie darunter nichts anhatte. Kein Wunder, daß sie gefroren hatte.

»Würde nicht sehr gut aussehen - ein nackter Mann, der in seinem Zelt mit einer nackten Frau kämpft«, sagte sie.

»Das passiert immer wieder.«

»Nicht, wenn sie sich wehrt.«

»In meinem Zelt? Man würde fragen, warum sie nackt gekommen ist und vor dem Eintreten nicht geschrieen hat.«

»Sie ist angekleidet gekommen, weil sie ein schwieriges Problem besprechen wollte. Einen Fehler beim Rechnen.« Sie kramte in der Tasche und zog einen Zettel mit daraufgekritzelten Zahlen heraus. Er konnte die Zahlen zwar nicht sehen, war aber sicher, daß sie ihre Hausaufgabe in dieser Hinsicht zurechtgemacht hatte. Auf jeden Fall, war der Fehler seiner Aufmerksamkeit würdig. »Er hat sie ins Zelt gezerrt - nein, sie hineingelockt -und ihr dann die Kleider vom Leibe gerissen.«

Da war er schön in ihre Falle getappt! Ihr Mundwerk war geschliffen. Falls sie Alarm schlug, war es mit seiner Tätigkeit für die Gruppe vorbei. »Was willst du?«

»Ich möchte mich wärmen. In Eurem Schlafsack ist Platz für

»Damit gewinnst du gar nichts. Willst du mich vertreiben?«

»Nein.«

Sie hatte den Reißverschluß gefunden und öffnete den Sack. Kalte Luft drang ein. Gleich darauf lag sie bloß und warm neben ihm. Ihr Umhang war draußen geblieben, der Reißverschluß des Schlafsackes wieder geschlossen.

»Schlaf jetzt.« Er versuchte sich umzudrehen, doch die Bewegung brachte sie nur noch enger zueinander.

Sie versuchte, seinen Kopf an sich zu ziehen und faßte mit einer Hand nach seinem Haar. Doch er blieb steif. »Ach, Sos, ich bin doch nicht gekommen, um dich zu quälen!«

Eine Antwort darauf ersparte er sich.

Eine Weile blieb sie ruhig liegen. Ihre glühende Weiblichkeit setzte seinem Widerstand stark zu. Alles, was er sich so ersehnt hatte, war jetzt so nahe. Erreichbar - im Namen der Unehre.

Warum hatte sie diesen Weg gewählt? Sie hätte doch nur Sols Armreif für eine Weile abzulegen brauchen . . .

Wieder löste sich eine Figur aus dem Schatten des Hauptzeltes und stapfte durch den festen Schnee. Obwohl er die Augen geschlossen hatte, merkte es Sos, weil der den Schritt erkannt hatte. Es war Tor.

»Du hast erreicht, was du wolltest. Tor kommt.«

Jetzt wurde ihr Bluff offenbar, denn sie verkroch sich in den Sack und wollte sich verstecken.

»Schickt ihn weg!« flüsterte sie.

Sos packte ihren Umhang und warf ihn in das Zelt hinein. Er zog den Verschluß des Sackes über ihren Kopf und hoffte, sie würde nicht ersticken. Dann wartete er.

Tors Schritte kamen bis vors Zelt und hielten dort an. Kein Wort wurde gesprochen. Dann machte Tor kehrt und ging wieder fort. Offenbar glaubte er, das dunkle, geschlossene Zelt bedeutete, daß sein Freund schon eingeschlafen war.

Solas Kopf tauchte auf, als die Luft wieder rein war.

»Ihr wollt mich«, sagte sie. »Ihr hättet mich kompromittieren können . . .«

»Sicherlich will ich dich. Leg den Armreif ab und nimm meinen, wenn du einen Beweis willst.«

»Erinnert Ihr Euch, daß wir schon nebeneinander gelegen haben?« murmelte sie und vermied diesmal eine direkte Ablehnung.

»Greensleeves.«

»Und Red River Valley. Und Ihr habt mich gefragt, was ich in einem Mann suche. Führerschaft, habe ich gesagt.«

»Du hast deine Wahl getroffen.« Er selbst hörte die Verbitterung aus seiner Stimme heraus.

»Aber damals wusste ich nicht, was er wollte.« Sie wechselte die Stellung, legte den freien Arm unter den seinen und um seinen Rücken. Sos konnte seine Leidenschaft nicht mehr zügeln. Er fühlte, daß auch sie es wusste.

»Ihr seid der Führer dieses Lagers«, sagte sie. »Das weiß jeder, sogar Tyl. Sogar Sol. Er hatte es als erster gewusst.«

»Warum behältst du seinen Armreif?«

»Weil ich keine selbstsüchtige Frau bin!« fuhr sie ihn an. Das setzte ihn in Erstaunen. »Er hat mir seinen Namen gegeben, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte. Und ich muß ihm etwas als Gegenleistung geben, auch wenn ich es nicht will. Ich kann ihn nicht verlassen, ehe wir nicht quitt sind.«

»Ich verstehe nicht.«

Jetzt war sie verbittert. »Ihr versteht genau!«

»Du hast ein merkwürdiges Rechensystem.«

»Es ist sein System, nicht meines. Das passt nicht in deine Ziffern!«

»Warum suchst du dir für deinen Zweck nicht einen anderen aus?«

»Weil er Euch vertraut - und ich Euch liebe.«

Diese Feststellung konnte er nicht widerlegen. Sola hatte das erste Angebot gemacht, nicht er.

»Wenn Ihr mich bittet, gehe ich jetzt «, flüsterte sie. »Ohne Geschrei, ohne Ärger. Und ich werde nie wiederkommen.«

Sie konnte sich diese Geste leisten. Sie hatte bereits gewonnen. Wortlos umfing er sie und suchte ihre Lippen und ihren Körper.

Jetzt war sie die Zurückhaltende. »Ihr kennt den Preis?«

»Ich kenne den Preis.«

Ihre Leidenschaft war so ungezügelt wie die seine.