XII

»Ist das der Stamm von Sol, dem Meister aller Waffen?« fragte Sos.

Er hatte die Ankunft von Tors Unterstamm in Pits Lager nicht abgewartet, so gern er auch bei dem Kampf zwischen Tor und den routinierten Strategen der Pits dabeigewesen wäre. Wahrscheinlich gab es ein Unentschieden zwischen den Stämmen.

Er hatte sich auf die Suche nach Sol begeben. Da er jetzt wusste, wo er ihn finden konnte, war ihm jede Verzögerung unerträglich geworden.

Zufällig hatte er Tor unterwegs getroffen und von ihm genaue Hinweise erhalten. Trotzdem konnte er kaum glauben, daß er das richtige Lager vor sich sah, als er dort eintraf.

Überall übten die Krieger, doch keiner von ihnen war ihm bekannt. Im Lager herrschte eine gute Disziplin, doch wollte ihr die Atmosphäre nicht gefallen. Sollte er einen Monat lang gewandert sein, nur um Sols Niedergang mitzuerleben? Hoffentlich nicht!

»Sprecht doch mit Vit, dem Schwert!« empfahl ihm ein Krieger.

Sos suchte das Hauptzelt auf und fragte nach Vit. »Wer seid Ihr?« fragte die Zeltwache, ein dunkler Dolchkämpfer, und beäugte den Vogel auf Sos' Schulter.

»Tretet in den Ring, und ich werde Euch zeugen, wer ich bin«, erwiderte Sos verärgert. Er hatte solche Formalitäten satt.

Die Wache stieß einen Pfiff aus. Aus der Schar der Trainierenden löste sich ein Mann und trottete auf sie zu. »Dieser Eindringling möchte sich im Ring bekannt machen«, sagte der Dolchkämpfer verächtlich. »Tu ihm den Gefallen!«

Der Mann drehte sich um und sah Sos an.

»Mok, der Morgenstern!« rief Sos aus.

Mok war überrascht. »Sos! Ihr seid zurückgekehrt! Ich habe Euch gar nicht wiedererkannt, so muskulös seid Ihr geworden!«

»Ihr kennt diesen Mann?« fragte die Wache.

»Ihn kennen? Das ist Sos, der Mann, der den Stamm aufgebaut hat! Sols Freund!«

Der Wachtposten zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Soll er es im Ring beweisen!«

»Seid Ihr verrückt? Er trägt doch keine . . .« Mok hielt inne. »Oder doch?«

Sos hatte zwar sein Lasso bei sich, doch hatte Mok es nicht als Waffe erkannt. »Ja. Komm - ich werde dir meine Waffe vorführen.«

»Warum nicht gegen den Stab oder die Stange?« schlug Mok diplomatisch vor. »Meine Waffe ist. . .«

». . . ist zu gefährlich? Du scheinst wirklich an meiner Kampftüchtigkeit zu zweifeln.«

»Aber nein«, protestierte Mok, der offensichtlich aus Höflichkeit log. »Aber Ihr wißt ja, wie es mit dem Stern ist. Ein einziger unglücklicher Zufall . . .«

Sos lachte. »Du zwingst mich ja direkt, mich selbst zu verteidigen! Folge mir. Ich werde dich überzeugen.«

Mok begleitete Sos zum Ring. Es war ihm augenscheinlich nicht sehr wohl dabei zumute. »Falls etwas passiert . . .«

»Das ist meine Waffe«, sagte Sos und wickelte die Seilschlinge von der Schulter. »Wenn du dich fürchtest, dann bestimme einen anderen Krieger.«

Einige Männer lachten, und jetzt mußte Mok in den Ring steigen. Sos wusste, daß die Stichelei unfair gewesen war. Mok hatte ihn vor möglichen Verstümmlungen bewahren wollen. Er war; kein Feigling, und da er noch immer beim Stamm weilte, mußte seine Technik im Kampf noch sehr gut sein. Nun mußte Sos beweisen, daß das Seil eine echte Waffe war. Sonst würden Männer wie Mok nicht an Sos' neuen Status als Krieger glauben.

Im Ring gibt es keine Freundschaft. Mok hob seinen Morgenstern und ließ die stachelige Kugel um seinen Kopf kreisen. Er mußte angreifen, da er die Waffe nicht zur Verteidigung gebrauchen konnte. Sos hatte dem Morgenstern noch nie gegenübergestanden. Er entdeckte, daß das ein besonders furchteinflößendes Erlebnis war. Schon das leise Pfeifen der durch die Luft wirbelnden Stachelkugel war unheimlich.

Sos wich zurück und beobachtete die wirbelnde Kugel mit großem Respekt. Er schleuderte eine Schlinge in ihre Richtung, fing damit die Metallkette ein und riss Kugel, Kette und Holzgriff aus Moks Hand. Mok stand da und starrte so verständnislos drein wie Bog.

Die Zuschauer lachten.

»Falls jemand glaubt, es besser zu machen als Mok, soll er doch in den Ring treten!« forderte Sos die Lacher auf.

Ein Stangenkämpfer nahm die Herausforderung an - und fiel rasch der Schlinge zum Opfer. Diesmal lachte Mok. »Kommt«, sagte er, »Ihr müßt jetzt mit Vit sprechen!«

Eine Gruppe von Männern versammelte sich murmelnd um den leeren Ring, als Sos wegging. Ein solches Schauspiel hatten sie noch nie erlebt.

»Ich bin froh, daß Ihr wieder da seid!« vertraute Mok ihm an, als sie zum Zelt kamen. »Es ist hier nicht mehr so, wie es war, seit . . .«Er brach ab, als sie sich der Wache näherten.

Diesmal gab es keinen Ärger vor dem Zelt. Mok führte Sos vor den Anführer. »Ja?«

Vit war ein großer, schlanker, sturer Mann in mittleren Jahren, der Sos bekannt vorkam. Auch der Name rief ein Bild in ihm wach. Dann hatte Sos ihn eingeordnet. Vit war der Schwertkämpfer, den Dal, der Dolchkämpfer, beim ersten Zusammentreffen mit einem anderen Stamm gedemütigt hatte. Die Zeiten hatten sich offenbar wirklich geändert.

»Ich bin Sos, das Lasso. Ich bin gekommen, um mit Sol zu sprechen.« - »Mit welchem Recht?«

Mok wollte erklärend eingreifen, doch Sos hatte genug. Er wusste, daß Vit ihn erkannt hatte und ihm bloß Hindernisse in den Weg legen wollte.

»Mit dem Recht meiner Waffe! Schlagt Euch mit mir im Ring, bevor Ihr versucht, unverschämt zu werden!« Es tat gut, wieder diese autoritäre Haltung einnehmen zu können. Eine Waffe, das machte schon einen großen Unterschied. Und Sos genoß das Gefühl.

Vit sah ihn schweigend an. »Seid Ihr Sos, das Lasso, der Bog, die Keule, vor fünf Wochen im Osten entwaffnet hat?« fragte er dann gelassen.

»Das bin ich.« Sos begann zu verstehen, wieso Vit so rasch zu dieser großen Machtposition aufgestiegen war: Er hatte sich völlig in der Gewalt und kannte sich aus. Überlegenheit im Ring war offenbar für eine führende Position nicht mehr unbedingt erforderlich. »Sol wird Euch morgen empfangen.«

»Morgen?«

»Er ist heute geschäftlich unterwegs. Nehmt für heute unsere Gastfreundschaft an.«

Sol geschäftlich unterwegs? Das gefiel Sos nicht. Sol sollte es eigentlich nicht mehr nötig haben, als Einzelkämpfer Krieger zu rekrutieren - nicht mit zehn Stämmen, der Keimzelle seines Reiches! Auf Inspektionsreise konnte er auch nicht sein. Der nächste Unterstamm war mindestens eine Wochenreise weit entfernt.

Aus einem Zeltabteil trat eine Frau und kam langsam auf sie zu. Sie war mit einem atemberaubend engen Sarong bekleidet und hatte sehr langes, sehr schwarzes Haar.

Es war Sola.

Sos wollte auf sie zu, wurde aber von Vit daran gehindert. »Augen weg von der Frau! Sie gehört dem Herrn!«

Sola sah auf und erkannte ihn. »Sos!« rief sie und faßte sich dann. »Ich kenne den Mann«, sagte sie förmlich zu Vit. »Ich möchte mit ihm sprechen!«

»Ihr werdet nicht mit ihm sprechen!« Vit blieb zwischen ihnen stehen.

Sos faßte wütend nach seinem Seil; doch Sola gab nach und zog sich in ihr Abteil zurück. Mok zupfte Sos am Arm. Sos faßte sich und drehte sich um. Irgendwas war hier faul, doch war jetzt nicht der Augenblick zum Eingreifen. Es war sicher nicht klug, seine frühere Vertrautheit mit Sola zu offenbaren.

»Die alten Getreuen sind weg«, sagte Mok beim Hinausgehen traurig. »Tyl, Tor, Sav, Tun - kaum einer jener Männer, mit denen wir das Lager im Ödland gebaut hatten, ist heute noch da.«

»Was ist denn mit ihnen geschehen?« Sos wusste es bereits, wollte aber Genaueres hören. Je mehr er von diesem Stamm zu Gesicht bekam, desto weniger gefiel er ihm. Hatte Sol tatsächlich noch die Zügel in der Hand, oder war er nur mehr ein Aushängeschild? Hatte es geheime Umtriebe gegeben, und er war entmachtet worden?

»Sie befehligen die anderen Stämme. Sol traut niemandem, den nicht Ihr ausgebildet habt. Sos, wir brauchen Euch! Ich wünschte, wir wären noch im Ödland - so wie einst.«

»Sol scheint aber Vit zu trauen.«

»Nicht so weit, daß er ihm das Kommando übergibt. Das hier ist Sols eigener Stamm, den er selbst, ohne Ratgeber, führt. Vit erledigt nur den Kleinkram.«

»Zum Beispiel die Bewachung Solas?«

»Das hat Sol verlangt. Während seiner Abwesenheit darf sie niemand sehen. Sol würde Vit töten, wenn . . . Aber, wie gesagt, alles ist anders geworden.«

Sos mußte ihm verstört recht geben. Das Lager war zwar in Ordnung; doch die Männer waren ihm fremd. Er erkannte kaum ein halbes Dutzend von den hundert, die er sah. Merkwürdig, daß der ihm Vertrauteste Mok war, mit dem er immer nur flüchtig zu tun gehabt hatte. Es handelte sich hier überhaupt nicht um ein normales Lager. Es war ein Militärlager - ein Typ, den er aus Büchern gut kannte, mit einem Leuteschinder an der Spitze. Der Korpsgeist, den er immer so gefördert hatte, war nicht mehr vorhanden.

Sos wählte ein kleines Zelt am Rande des Lagers. Er war beunruhigt, wollte aber nicht einschreiten, bevor er nicht Genaueres wusste. Offensichtlich hatte Vit die Oberaufsicht bekommen, weil er Befehle phantasielos befolgte und in dieser Hinsicht wirklich vertrauenswürdig war. Aber warum? Irgendwas war völlig schiefgegangen. Er konnte nicht glauben, daß seine Abwesenheit allein Schuld daran trug. Tors Stamm konnte diesem kaum gleichen. Was hatte Sols Streben nach einem Reich den richtigen Geist genommen?

Eine Frau näherte sich leise dem Zelt. »Armreif?« fragte sie gedämpft und verbarg ihr Gesicht in der Finsternis.

»Nein!« sagte er unfreundlich und riss seinen Blick von der sanduhrenförmigen Gestalt los, deren provozierende Umrisse sich vor den Lagerfeuern in der Ferne deutlich abhoben.

Sie zog den Zelteingang hoch und kniete nieder, damit er ihr Gesicht sehen konnte. »Willst du mich beschämen, Sos?«

»Ich habe nach keiner Frau verlangt«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Geh weg - und nichts für ungut!«

Sie rührte sich nicht. »Greensleeves«, murmelte sie.

Ruckartig blickte er auf. »Sola!«

»Mit dem Erkennen ist es bei dir doch immer rasch gegangen«, sagte sie mit leisem Tadel. »Laß mich rein, bevor mich jemand sieht.«

Sie kroch hinein und verschloß den Eingang. »Ich habe mit dem für dich bestimmten Mädchen den Platz getauscht. Also sind wir halbwegs sicher. Trotzdem . . .«

»Was willst du? Ich dachte, du darfst nicht . . .«

Sie zog sich aus und kroch zu ihm aufs Lager. »Du mußt ordentlich trainiert haben!« - »Jetzt nicht mehr.«

»Doch! Nie habe ich einen muskulöseren Körper gespürt.«

»Ich wollte sagen, wir sind kein Liebespaar mehr. Wenn du dich tagsüber nicht mit mir treffen kannst, treffe ich mich auch nachts nicht mit dir!«

»Warum bist du dann hierhergekommen?« fragte sie und preßte ihren Körper, der noch schöner geworden war, an ihn. Die Schwangerschaft vom Vorjahr hatte ihre körperlichen Reize nur noch gesteigert.

»Ich bin gekommen, um dich in allen Ehren zu verlangen.«

»Dann verlange mich! Seit unserer ersten Begegnung hat kein anderer Mann mich berührt.«

»Morgen! Gib ihm seinen Armreif zurück und nimm meinen. öffentlich!« - »Das werde ich, sagte sie. »Jetzt . . .«

»Nein!«

Sie rückte ab und versuchte, ihm im Dunklen ins Gesicht zu! sehen. »Du meinst es ernst?«

»Ich liebe dich. Ich bin um deinetwillen gekommen. Doch möchte ich dich ehrenhaft erringen.«

Sie seufzte. »Ehre ist nicht so einfach, Sos!« Doch sie stand auf und zog sich an.

»Was ist hier passiert? Wo ist Sol? Warum verbirgst du dich vor den Leuten?«

»Sos, du hast uns verlassen. Das ist passiert! Du warst unser Herz und unsere Seele!«

»Das gibt keinen Sinn. Ich mußte weg. Du hast das Kind bekommen, seinen Sohn.«

»Nein!«

»Das war dein Preis. Ich möchte ihn nicht wieder bezahlen. Diesmal muß es mein Sohn sein, auf meinen Armreif hin empfangen.«

»Du verstehst überhaupt nichts«, schluchzte sie enttäuscht.

Er schwieg. Das Geheimnis schien ihm bei weitem noch nicht ausgelotet. Dann sagte er: »Ist es - tot?«

»Nein! Darum geht es auch nicht. Das . . . ach, du dummer, dummer Dickkopf! Du . . .« Sie erstickte an ihrem eigenen Gefühl und wandte sich schluchzend von ihm ab.

Sie ist raffinierter als früher, dachte er. Er gab nicht nach.

Schließlich wischte sie sich ihr Gesicht ab und kroch aus dem Zelt. Er war wieder allein . . .