20. Kapitel

Beate erwachte von einem leisen Kratzen an der Tür. Victor! dachte sie träge. Machte er das jeden Morgen? Ließ Cornelia ihn rein?

Wie von der Tarantel gestochen fuhr Beate hoch. Du liegst in Cornelias Bett! Sie schluckte. Mit einem Schlag fiel ihr der gestrige Abend wieder ein. Sie schaute auf Cornelia, die neben ihr lag und fest schlief. Sie war nackt. Natürlich. Was sonst? Nach der Nacht! Genau wie du.

Beate bewegte sich vorsichtig in Richtung Bettkante, beobachtete, ob Cornelia wach wurde. Doch Cornelia schlief nach wie vor. Beate stand leise auf, suchte ihre Sachen zusammen, öffnete die Tür. Sie fing Victor ab, dessen kleine Stupsnase sich in den Türspalt schob, und schloss hinter sich leise die Tür. Bepackt mit dem kleinen Kater und ihren Klamotten eilte sie die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer blieb sie ratlos stehen. Was sollte sie jetzt tun?

Na, zuerst einmal wäre es wohl das klügste, du duschst und ziehst dich an. Währenddessen kannst du dir überlegen, wie du dich Cornelia gegenüber verhalten willst. Dir ist ja wohl klar, dass sie die Nacht nur als Abenteuer betrachtet. O Gott. Wie hast du dich nur darauf einlassen können, Beate!

Cornelia nahm in ihrem Unterbewusstsein deutlich wahr, dass sich jemand im Zimmer befand. Ihre Erinnerung verriet ihr sofort, dass es Beate war. Cornelia seufzte zufrieden. Plötzlich ging ihr auf, dass Beate nicht neben ihr lag, sondern eben nur im Zimmer war. Cornelia öffnete benommen die Augen und sah gerade noch, wie sich die Tür schloss. Verwundert rappelte sie sich auf. Warum schlich Beate sich weg? Vielleicht hat sie Angst, ihr zerknautschtes Morgengesicht erschreckt dich. Cornelia grinste in sich hinein. Ich werde ihr wohl sagen müssen, dass mich so schnell nichts erschreckt. Sie stand auf und ging in die Dusche.

Als Cornelia in die Küche kam, saß Beate schon bei einer Tasse Kaffee. Doch noch bevor sie Guten Morgen wünschen und Beate einen Kuss geben konnte, stand die auf und sagte hastig:

»Keine Angst. Du bist zu nichts verpflichtet. Das Ganze war – ein Versehen.«

Cornelia hielt in ihrer Bewegung irritiert inne. »Versehen? Was meinst du damit?«

»Die Nacht. Wir . . . wir hatten beide ein Glas zuviel. Sonst wäre das nicht passiert.«

»Das mag sein, aber nun ist es passiert. Und soweit es mich betrifft, kann es gern noch mal passieren.« Cornelia beugte sich zu Beate und küsste sie auf den Hals.

Beates Gesicht verdüsterte sich. »Aber nicht, wenn es nach mir geht!« Nicht unter diesen Umständen! Begreifst du das denn nicht, Cornelia? Ich will nicht nur dein gelegentlicher Zeitvertreib sein!

Cornelia schaute sie verständnislos an. »Was ist denn los?«

»Nichts.« Beate versuchte sich zu beherrschen. »Wir haben uns hinreißen lassen.« Verstand Cornelia denn gar nichts? »Wir sind beide erwachsen. Wir können damit umgehen. Aber damit umgehen heißt für mich nicht, es zur Gewohnheit zu machen.«

Cornelia war völlig verdattert. »Ich verstehe deine Reaktion nicht.« Was war nur in Beate gefahren? Warum war sie so ablehnend, ja beinah aggressiv?

Beate, die davon ausging, dass Cornelia ihr irgendein zweifelhaftes Angebot machen wollte, erklärte fest: »Dann helfe ich dir verstehen. Du wirst es nicht glauben, aber ich empfinde es nicht als Auszeichnung, auf die Art in deinem Bett gelandet zu sein. Und ich lege nicht den geringsten Wert auf die Position deiner Geliebten.«

Cornelias Gesicht verschloss sich. »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dich gezwungen habe, mit mir zu schlafen. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dir die Position als meine Geliebte überhaupt angeboten zu haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Was denkst du eigentlich immer noch von mir?«

»Bis jetzt habe ich kein Signal erhalten, das darauf hindeutet, dass du dich geändert hast. Nach wie vor redest du um den heißen Brei herum. Ist es etwa nicht so?«

»Nein«, stritt Cornelia ab.

»Dann sag mir doch, welche Position du mir zugedacht hast. Welche Rolle soll ich in deinem Leben spielen?« Leichte Wut mischte sich in Beates Stimme.

»Du bist . . . eine Freundin«, erwiderte Cornelia störrisch.

Beate schüttelte fassungslos den Kopf. »Merkst du es denn nicht? Du kannst nicht mal sagen meine Freundin«. Warum hast du nur so eine panische Angst vor Nähe? Warum willst du dir immer einen Rest von Distanz bewahren?«

»Weil es den Schmerz lindert, wenn man allein zurückbleibt!« schrie Cornelia plötzlich laut. Sie funkelte Beate an. »Ich will nicht noch einmal einen mir wichtigen Menschen verlieren.« Sie atmete schwer. »So. Bist du jetzt zufrieden?«

Beate erschrak und wurde mit einem Mal ganz still. Sie schalt sich eine Närrin. Natürlich! Warum war sie nicht längst darauf gekommen? Cornelia hatte damals bei dem Unfall mit einem Schlag ihre ganze Familie verloren. Sie stand plötzlich allein da. Das war ein Schock für sie. Sie hatte dieses Erlebnis nie richtig verarbeitet, die Erinnerungen daran immer beiseite geschoben. Aber tief in ihrem Innern baute sich eine Angst auf, dass sich ein solches Ereignis wiederholen könnte. »Deshalb sorgst du dafür, dass niemand dir wirklich nahe kommt«, stellte Beate leise, mehr für sich als zu Cornelia, fest. »Aber das ist völlig verquer.«

»Ich weiß!« Cornelia fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Denn ich bin im Begriff, dich zu verlieren, gerade weil ich diese Distanz so halsstarrig verteidige. Ich sehe ohnmächtig zu, wie du dich von mir entfernst, obwohl das das Letzte ist, was ich will. Du musst wissen, der Grund für mein Verhalten ist nicht der, dass ich dich nicht . . . nicht . . . mag. Es ist, weil ich diesen Schutzwall in mir habe. Immer, wenn mir eine Frau zu nah kommt, ergreife ich in Panik die Flucht. Deshalb habe ich normalerweise nur etwas mit Frauen, die selbst nicht an intensiver Nähe interessiert sind. Da fühle ich mich sicher. Unverletzbar.«

Beate seufzte. Tja, das Rätsel ist gelöst. Aber die Protagonistinnen können dennoch nicht glücklich in Liebe vereint werden. »Unter diesen Umständen kann ich wohl sofort mit der Wohnungssuche beginnen«, meinte sie niedergeschlagen.

»Nein! Bitte! Das hast du falsch verstanden. Ich will immer noch nicht, dass du gehst.« Cornelia nahm Beates Hand. »Wie wäre es, wenn du mir einfach etwas mehr Zeit gibst?«

»Etwas Zeit?« wiederholte Beate leise fragend.

»Ja. Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ich . . . so empfinde.« Cornelia blickte zu Boden.

»Ist es denn so schlimm?« Beate strich ihr übers Haar.

»Das verstehst du sicher nicht. Aber ja, das ist es.« Cornelia blickte auf.

»Danke für das Kompliment«, sagte Beate verschnupft.

Cornelia streichelte Beates Wange. »Es ist ja nur so schlimm, weil ich so dumm bin.«