14. Kapitel

Das Klingeln des Telefons riss Beate aus ihrer Arbeit. Sie nahm ab. Breuer war am anderen Ende. »Nein, Frau Mertens ist nicht im Haus«, erwiderte Beate auf seine Frage. »Sie kommt aber gegen halb vier wieder rein. . . . Ja, richte ich aus.«

Beate legte auf und wandte sich wieder dem Computer zu. Die Termine, die Cornelia heute außer Haus wahrzunehmen hatte, waren nur Höflichkeitsbesuche, so dass Beate im Büro blieb, um einige Auswertungen zu fahren, die Cornelia benötigte. Beate formulierte eine weitere Abfrage für die Datenbank. Druckte das Ergebnis aus und legte es zu den anderen.

Die Tür ging auf. Cornelia kam herein.

»Oh. Schon zurück? Gerade rief Herr Breuer an. Ich habe ihm gesagt, du kommst etwa um halb vier zurück. Er bittet um Rückruf.«

Beate ging das Du noch ungewohnt über die Lippen. Den Rest des gestrigen Tages einschließlich heute morgen, als sie Cornelia wie üblich begrüßte, hatte Beate umständliche Sätze formuliert, um die direkte Anrede zu umgehen. Bis Cornelia sich grinsend an sie wandte und meinte: »Es ist nur ein kleines Wort bestehend aus zwei Buchstaben. D und U. Was ist so schwer daran, es zu benutzen?«

»Hat Breuer gesagt, worum es geht?« fragte Cornelia in Beates Gedanken hinein.

»Nein.«

»Warum hat er mich nicht auf meinem Handy angerufen?«

Wie auf Stichwort klingelte Cornelias Handy. »Mertens. . . . Herr Breuer, was gibt es denn? . . . Das passt jetzt schlecht. Ich habe von der Schadensabteilung gerade die Meldung über einen Einbruch bekommen . . . in einem Segelclub. Kann sein, dass ich Sie zu dem Fall hinzuziehe. Ich fahre jetzt vor Ort. . . . Ja, morgen ist in Ordnung.« Cornelia wandte sich an Beate. »Ich brauche dich und deinen Laptop.«

Die Managerin des Segelclubs empfing sie freundlich. »Jana Kamp«, stellte sie sich vor und erzählte bereitwillig noch einmal, was sie bereits der Polizei berichtet hatte.

»Können wir uns die Anlage ansehen?« fragte Cornelia.

»Selbstverständlich.«

Jana Kamp zeigte ihnen den kleinen Hafen und führte sie ins Bootshaus. »Fast alle Kanus wurden leckgeschlagen. Die reine Zerstörungswut. Und als ob das nicht genug wäre, wurden vier der Segelboote, die im Wasser lagen, völlig ruiniert. Nicht alle der zerstörten Boote gehören dem Club. Die Schadensanzeige enthält eine genaue Aufstellung.«

Cornelia und Beate betrachteten die klaffenden Löcher in den Kanus. »Haben die Täter irgend etwas zurückgelassen?« fragte Cornelia.

Jana deutete um sich. »Reicht das nicht?«

»Ich meine Äxte, Kuhfuß oder ähnliches. Sie sagten, die Täter haben eigenes Werkzeug mitgebracht, da im Club alles an seinem Platz ist.«

»Soweit ich weiß, hat die Polizei nichts gefunden. Aber selbst wenn, was würde es nützen? Sieht nicht eine Axt aus wie die andere?«

»Da irren Sie sich gewaltig.«

Jana zuckte hilflos mit den Schultern. »Wie gesagt, mir ist nichts bekannt.«

»Tja, wir müssen erst einmal den Gutachter vorbeischicken«, sagte Cornelia. »Wann passt es denn?«

»Der Hafenmeister ist vormittags von neun bis elf im Kontor und nachmittags von drei bis sechs. Sieben Tage die Woche.«

Sie verließen das Bootshaus und gingen zu einem der beschädigten Segelboote.

»Das ist ja ein einziges Wrack.« Beate sah betroffen auf das Werk der Zerstörung. »Ich frage mich, wer so etwas macht. Ich meine, man geht doch nicht einfach so los und . . . warum ausgerechnet ein Segelclub? Warum nicht Telefonzellen oder Schaufenster? Das wäre doch einfacher.«

»Der Club liegt ziemlich abgelegen. Ein guter Schutz für die Randalierer«, meinte die Managerin.

»Schon. Aber hier kommt man ja nicht eben mal zufällig vorbei.«

Cornelia nahm Beates Gedanken auf. »Du meinst . . . ein gezielter Anschlag?« Sie überlegte. »Jemand, der einen Hass auf den Club hat. Vielleicht ein ehemaliger Angestellter . . . oder ein Mitglied. Gab es in letzter Zeit irgendwelche Querelen?« fragte sie an Jana Kamp gewandt.

»Das kann ich so nicht sagen«, bedauerte die. »Ich weiß nicht, wer mit dem Vorstand uneins ist. Da gibt es aber sicher immer irgend jemanden.«

»Könnten Sie sich einmal umhören?«

»Na klar. Übrigens . . .« Jana Kamp zwinkerte Beate zu. »Kompliment. Die Polizisten haben nicht so gründlich gefragt.«

»Die müssen für den Schaden ja auch nicht aufkommen«, erwiderte Cornelia.

»Segeln Sie auch?« fragte Jana Cornelia.

»Ich habe einen Segelschein. Aber leider viel zu selten Zeit für eine Tour.«

»Und Sie?« Jana schaute Beate lächelnd an.

Beate verneinte. »So ein kostspieliges Hobby kann ich mir nicht leisten.«

»Wenn Sie möchten – ich kann Sie ja mal mitnehmen.« Ein intensiver Blick aus zwei blitzenden Augen begleitete das Angebot. Beate, überrumpelt von dem ungenierten Flirt, bekam kein Wort heraus.

»Haben wir alles, was wir brauchen?« fragte Cornelia Beate geschäftsmäßig.

»Ja.« Beate nickte.

»Also, Frau Kamp. Wir melden uns.«

»Danke.« Jana holte eine Visitenkarte aus der Tasche und gab sie Beate. »Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich einfach an. Jederzeit.«

Beate nahm die Karte. »Äh, ja«, stotterte sie.

Cornelia runzelte die Augenbrauen und wandte sich dann dem Ausgang des Clubs zu. Beate folgte.

Auf der Rückfahrt saßen sie zunächst schweigend nebeneinander. Schließlich konnte Cornelia nicht mehr an sich halten. »Seit wann findest du es schön, wenn jemand so schamlos mit dir flirtet? Du warst ja ganz hin und weg«, meinte sie halb amüsiert, halb beleidigt.

»Ich? Ich habe nicht ein Wort gesagt«, verteidigte sich Beate.

»Eben.«

»Was kann ich denn dafür, wenn die Frau mit mir anbändeln will?«

»Vergiss nicht, sie zu fragen, ob sie dich auch wirklich heiratet, bevor du mit ihr ausgehst«, stichelte Cornelia.

Beate verzog nur das Gesicht. »Ha ha. Sehr witzig.«

Cornelia beäugte Beate neugierig. Seltsame Gedanken schwirrten ihr dabei durch den Kopf. Jana Kamp war nicht eben unattraktiv und fand sicher die richtigen Worte, und mehr, um eine Frau zu beeindrucken. Was, wenn Beate darauf einstieg? Noch schien es nicht der Fall zu sein, aber das konnte sich sehr schnell ändern. Cornelias Eindruck von Jana Kamp war der, dass die wusste, wie sie sich Abwechslung verschaffte. Dafür hatte Cornelia einen sicheren Riecher. Du musst unbedingt verhindern, dass Beate auf diese Jana hereinfällt. Sie würde ihr das Herz brechen. »Sei vorsichtig Beate. Jana Kamp ist vom Typ Vamp«, warnte sie deshalb.

Beate schaute Cornelia spöttisch an. »Das kannst du nach einer halben Stunde beurteilen?« Dennoch stutzte sie. War das Sorge in Cornelias Stimme? Oder machte Cornelia Jana schlecht, weil sie unliebsame Konkurrenz witterte? – Konkurrenz? Beate! Glaubst du etwa wirklich, Cornelia will etwas von dir? Wann begreifst du endlich, dass das nur Wunschdenken ist!

Nach dem Abendessen legte sich Beate in einen der Liegestühle auf der Terrasse, um zu lesen. Es wurde jedoch schnell kühler, und sie begann zu frösteln. Sie klappte das Buch zu und begab sich ins Wohnzimmer.

Cornelia saß in einem der Sessel. Sie blätterte in einem Fotoalbum. Sie war dabei so in Gedanken versunken, dass sie Beate gar nicht bemerkte.

Beate beobachtete Cornelia eine Weile und trat schließlich neben sie.

Cornelia schaute überrascht auf.

»Bilder von deiner Familie?« fragte Beate leise.

»Ja.« Cornelia zögerte. »Der Unfall ist heute auf den Tag genau fünfzehn Jahre her.«

Beate hockte sich hin. Sie legte eine Hand auf Cornelias Arm und streichelte ihn sanft. »Willst du reden? Ich höre dir zu.«

»Nein.« Cornelia wandte sich ab.

Beate nickte. Sie stand auf, um Cornelia alleinzulassen.

Sie war schon in der Tür, da hörte sie Cornelia hinter sich fragen: »Hast du das ernst gemeint?«

Beate drehte sich um. »Natürlich.« Sie ging zurück zu Cornelia und setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa.

Cornelia wechselte ihren Platz und setzte sich neben Beate. Sie schlug die Seiten zurück zum Anfang des Albums und begann Beate die Geschichten zu den Bildern zu erzählen. Beate spürte, wie nicht nur Cornelias Erinnerungen in der Zeit zurückwanderten, sondern auch Cornelia selbst. Alle Anspannung fiel von ihr ab. Der ernste Gesichtsausdruck machte einem versonnenen Lächeln Platz. Cornelia holte weitere Alben, zeigte Bilder ihrer Kindheit und Jugend.

»Und hier sind Bilder von der Silberhochzeit meiner Eltern«, sagte Cornelia. Ihr Gesicht bekam einen schmerzlichen Zug. »Es war unser letztes gemeinsames Familienfest.« Die Bildfolge brach ab. Cornelia klappte das Album zu.

Beate verstand. Es gab keine Bilder aus der Zeit danach. Cornelias Welt war mit dem Tod ihrer Eltern und des Bruders zusammengebrochen. Sie hatte es in dem Gespräch an ihrem Geburtstag bereits angedeutet. Seitdem lebte sie für die Arbeit, vergrub sich förmlich in ihr, um die Leere in sich auszufüllen. So versuchte Cornelia das Gefühl des Verlustes zu kompensieren. Und das nun seit fünfzehn Jahren! Beate nahm Cornelia das Album aus der Hand, legte es auf den Tisch. Sie drehte sich zu Cornelia, zog sie in ihre Arme und strich ihr über den Rücken.

»Manchmal denke ich, wenn ich nur etwas schneller oder anders reagiert hätte, vielleicht hätte ich den Unfall verhindern können«, sagte Cornelia mit belegter Stimme. »Es gibt Tage, da denke ich an nichts anderes.«

»Aber das bringt doch nichts.« Beate drückte Cornelia fester an sich.

»Ich weiß. Trotzdem. Dieser Tag spukt immer wieder in meinem Kopf herum. Jede einzelne Minute bis zu dem Unfall. Immer wieder fallen mir neue Möglichkeiten ein, was ich hätte anders machen können, und dann wäre der Unfall nicht passiert. Wenn wir nur etwas früher gefahren wären . . . oder später . . . oder einen anderen Weg genommen hätten, oder, oder, oder.« Cornelia löste sich aus Beates Umarmung. »Ich habe bisher mit niemanden darüber gesprochen. Ich wollte niemanden Einblick in mein Innerstes gewähren. Merkwürdig. Ausgerechnet dir erzähle ich davon.«

»Aber dazu sind Freundinnen doch da«, sagte Beate leise.

»Ja.« Cornelia nickte. »Dazu sind Freundinnen da. Aber ich fühle mich dir viel näher.«

Beate schluckte. Was wollte Cornelia damit sagen?

»Es ist ganz ungewohnt für mich«, fuhr Cornelia fort. »Und ich habe Angst davor.«

Beate lächelte verhalten. »Ich wusste nicht, dass ich so furchteinflößend bin.« Es war ihr ja nicht neu, dass Cornelia Nähe scheute.

»Das bist du auch nicht.« Cornelia nahm Beates Hand, strich sie sanft. »Im Gegenteil. Je mehr Zeit wir gemeinsam verbringen, desto weniger will ich dich missen. Das macht es mir ja so schwer.«

»Das verstehe ich nicht.« Beates fragender Blick richtete sich auf Cornelia. »Was macht es dir schwer?«

»Zum Beispiel, dich jetzt nicht in die Arme zu nehmen und zu küssen.« Cornelia seufzte. »Es würde alles verändern.«

»Meinst du, wegen eines einzigen Kusses werde ich mich in dich verlieben?« fragte Beate halb spöttisch, halb ernst. Da hätte ich nämlich eine Neuigkeit für dich. Auch ohne Kuss hat sich das nicht verhindern lassen.

Cornelia schaute Beate eindringlich an. »Nein, wohl nicht.« Cornelia legte ihre Hand in Beates Nacken.

Beate wurde mit einem Mal ganz schwindelig vor Herzklopfen. Sie spürte das zarte Streicheln von Cornelias Daumen an ihrem Hals, den sanften Druck in ihrem Nacken, der sie Cornelias Lippen immer näher brachte. Weich legten sie sich auf Beates Mund, strichen sanft über ihn.

Beate schloss die Augen, legte die Arme um Cornelia, lehnte sich an sie, erwiderte ihren Kuss.

Cornelia reagierte auf Beates Erwiderung mit einem zufriedenen Seufzen. Dann zog sich Cornelia langsam zurück, löste sich von Beate, schaute sie nachdenklich an. »Wie passt das jetzt in deine Philosophie über die Liebe? Du küsst eine Frau, und zwar nicht gerade zurückhaltend, einfach so?«

Beate senkte verlegen den Blick. »Immerhin kenne ich die Frau sehr gut. Ich . . . sie . . . es hat nichts mit einer Affäre zu tun.«

»Schade eigentlich. In dir steckt das Potential dafür, sehr viel Leidenschaft. Glaub mir, ich kann das beurteilen«, sagte Cornelia ernst.

»Wenn das ein Kompliment sein sollte, finde ich es irgendwie fragwürdig.« Beate zog die Augenbrauen hoch.

»Das liegt daran, dass du ein wenig altmodisch bist. Andere Frauen würden sich geschmeichelt fühlen.«

Beate verzog beleidigt das Gesicht. »Ich bin eben nicht wie andere Frauen.«

Cornelia lächelte. »O ja, ich weiß.« Sie strich Beate zärtlich durchs Haar.

Beate bemerkte den warmen Schimmer in Cornelias Augen.

Sie erschrak beinah, als Cornelia plötzlich abrupt aufstand und verkündete: »Ich bin müde. Wir sehen uns morgen.«

Bevor Beate Gute Nacht sagen konnte, hatte Cornelia das Zimmer verlassen.