2. Kapitel

Beate wartete in der Halle des Flughafens. Es war kurz nach sechs, die Ankunft der Maschine, mit der Cornelia Mertens flog, pünktlich für viertel nach sechs angesagt. Das gab Beate etwas Zeit, die Eindrücke der vergangenen zwei Tage zu ordnen.

Der neue Job war ohne Frage das Beste, was ihr passieren konnte. Zumindest die Tatsache, dass sie ihn hatte. Was er mit sich bringen würde, stand auf einem anderen Blatt.

Nur eines stand fest: Cornelia Mertens würde ihr das Leben nicht leicht machen. Lauras Bemerkungen bestätigten das. Und Cornelia Mertens ließ diesbezüglich auch keine Zweifel aufkommen. Immerhin bezeichnete sie sich selbst als Tyrannin. Beate erinnerte sich nur zu gut an ihr erstes Gespräch mit Cornelia, das einer Gratwanderung zwischen alles oder nichts gleichgekommen war. Es war bisher die einzige persönliche Begegnung mit Cornelia geblieben, mal abgesehen von den kurzen Momenten, wenn sie durchs Vorzimmer ging und Laura und ihr zunickte.

Die Arbeit im Büro verlief bisher relativ reibungslos. Was sicher daran lag, dass Laura und ihre Chefin ein eingespieltes Team waren. Und bisher war es Laura, die ihr Anweisungen gab. Beate hatte das Gefühl, Cornelia Mertens beachtete sie kaum. Nun stand sie hier, hatte keine konkrete Ahnung, was sie nach der Ankunft ihrer Chefin erwartete, und kam nicht umhin zuzugeben, dass sie ein wenig eingeschüchtert von Cornelia war.

Ach, was soll’s. Warst du es nicht, die sagte, sie sehe die Dinge optimistisch? Garantiert machst du dir unnötig Sorgen. Es kann nicht so schwer sein, mit Cornelia Mertens auszukommen. Laura hat es schließlich auch geschafft.

Beate sah Cornelia in die Halle kommen. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass Cornelia nicht nur eine strenge, einschüchternde Frau war, sondern auch eine unglaublich schöne, faszinierende. Was du tunlichst ignorieren solltest! Probleme hattest du in letzter Zeit mehr als genug.

Beate setzte sich in Bewegung. »Guten Abend«, begrüßte sie Cornelia, als die bei ihr ankam.

»Guten Abend.« Cornelia nickte Beate nur kurz zu, ging ohne Halt mit langen Schritten weiter. Beate musste zusehen, dass sie mithielt. Im Wagen öffnete Cornelia ihre Aktentasche, drückte Beate eine etwa ein Zentimeter dicke Mappe in die Hand. »Ich habe ein paar Unterlagen, die Sie bis morgen durcharbeiten müssen. Ich brauche Folien zum Fall für eine fünfminütige Präsentation am PC. Erledigen Sie das bitte.«

»Bis wann genau?«

Cornelia runzelte die Stirn. Beate fiel es nicht schwer, die Reaktion zu deuten. Laura hätte ohne zu fragen gewusst, was Cornelia meinte. »Gleich früh«, sagte die. »Um acht. Ich brauche es zur Besprechung halb neun.«

»Um acht?«

»Ja. Haben Sie damit ein Problem?«

Beate räusperte sich umständlich, um das Knurren ihres rebellierenden Magens zu verbergen. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«

Cornelia schaute leicht irritiert auf. Nur eine Sekunde, schon nahm ihr Gesicht wieder denselben geschäftigen Ausdruck an wie vorher. »Nur die Zahlen im Vergleich. Keine langatmigen Kommentare. Die Fakten genügen«, sagte sie.

»Selbstverständlich.«

»Clemens fährt Sie ins Büro, gleich nachdem er mich zu Hause abgesetzt hat. Ich fürchte, Sie werden noch ein bis zwei Stunden zu tun haben.«

Beate sah skeptisch auf die Mappe in ihrer Hand. Eher drei bis vier, dachte sie, sagte aber nichts. Den Rest der Fahrt schwieg Cornelia. Beate blieb nichts anderes übrig, als es ihr gleich zu tun. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Cornelia unauffällig. Sie schien nicht ein bisschen abgespannt von den Anstrengungen des Tages, wirkte wie aus dem Ei gepellt. Cornelias Gesicht zeigte keinerlei Anzeichen von Müdigkeit. Beate dagegen fühlte sich, ganz abgesehen davon, dass sie Hunger hatte wie ein Wolf, ziemlich erschöpft. Ihr schwirrte der Kopf von all dem Neuen, was Laura ihr den ganzen Tag gezeigt und erklärt hatte. Die Aussicht auf ein paar weitere Stunden Büroarbeit wirkte sich nicht gerade erheiternd auf Beates Stimmung aus. Natürlich hatte sie, als sie zum Flughafen gefahren war, gewusst, dass noch Arbeit auf sie wartete. Sonst hätte sie ja nicht hingemusst, um Cornelia abzuholen. Aber sie hatte mit höchstens einer Stunde Aufwand gerechnet. Und nun das.

Clemens lenkte den Wagen die lange Einfahrt eines Anwesens hinauf, das alles andere als die Bezeichnung klein und bescheiden verdiente. Es erschien Beate unanständig verschwenderisch, dass in dieser zweistöckigen Villa nur eine Person lebte. Anna, die Haushälterin, wohnte, wie Beate von Laura wusste, nicht mit im Haus, sondern in einer Wohnung in einer nahegelegenen Straße. Clemens hielt den Wagen vor dem Haupteingang an.

Cornelia stieg aus. »Clemens, Sie fahren Frau Thiele bitte ins Büro. Halten Sie unterwegs bei Antonio an und holen Sie meine Bestellung ab. Ich rufe gleich dort an.«

»Aber Anna wartet mit dem Essen auf Sie.«

»Das hoffe ich«, sagte Cornelia. »Die Bestellung ist nicht für mich, sondern für Frau Thiele.« Sie wandte sich an Beate. »Sie sollten etwas essen, bevor Sie sich an die Arbeit machen.«

Beate errötete. Cornelia war also das Knurren ihres Magens nicht entgangen. Bevor Beate dazu kam, sich zu bedanken, wandte Cornelia sich vom Wagen ab und verschwand im Haus.

Kurze Zeit später setzte Clemens Beate ab. Sie beeilte sich auf dem Weg hinauf ins Büro. Seit Minuten hatte sie den verlockenden Geruch des Essens in der Nase. Heißhungrig machte Beate sich erst über den gemischten Salat und anschließend über die Pasta her. Beides war nicht nur reichlich, sondern schmeckte auch vorzüglich. Beate fühlte sich nach all dem guten Essen fast zu satt. Aber zum Wegwerfen war es einfach zu schade gewesen.

Beate schaltete den PC ein, rief das Präsentationsprogramm auf und legte die Mappe, die Cornelia ihr gegeben hatte, auf den Schreibtisch. Der darin enthaltene Bericht behandelte einen Transportschaden. Ein LKW war in einen Graben gefahren. Es gab ein Feuer, bei dem ein Teil der Ladung, es handelte sich um Heimwerkerbedarf wie Bohrmaschinen, Fliesenschneider, Stichsägen und ähnliches, völlig verbrannt war. Ein anderer Teil der Ware galt als noch brauchbar, aber beschädigt. Der Rest, etwa ein Viertel, schien unversehrt. Eine schlechte Kopie der Transportliste lag bei den Unterlagen. Des weiteren fand Beate die verschiedenen Produktblätter, auf denen jemand Herstellungswert und Verkaufswert des jeweiligen Produkts geschmiert hatte. Die Daten mussten in eine Liste auf den Computer übertragen, die Summe des Verkaufswertes der noch veräußerbaren Artikel ermittelt und gegen die Versicherungsprämie gesetzt werden. Weil der Teil des Verkaufswertes, der sich aus der beschädigten Ware ergab, spekulativ war, galt es, verschiedene Szenarien zu erstellen.

Beate machte sich an die Arbeit und übertrug die Artikelbezeichnungen von der Transportliste in den PC. Doch nach der zweiten Seite brach die Liste einfach ab. Notizen zum Unfallhergang folgten. Beate blätterte fieberhaft, konnte den Rest der Liste aber nicht finden. Verdammt! Und nun? Sollte sie die Produktblätter zu Hilfe nehmen und die fehlenden Stückzahlen einfach morgen früh einsetzen, wenn Cornelia Mertens kam? Die nicht vorhandenen Blätter mussten noch in ihrer Aktentasche sein. Oder sollte sie Cornelia zu Hause anrufen? Was würde das für einen Eindruck machen? Schon bei der ersten selbständigen Aufgabe kam sie nicht klar! Beate fluchte vor sich hin. Aber wenn sie bis morgen früh wartete und es dann weitere unvorhergesehene Probleme gab, wurde die Zeit knapp. Seufzend drückte Beate auf die Speichertaste für Cornelias Privatnummer und wartete.

»Mertens«, meldete sich Cornelia nach dem dritten Klingeln.

»Beate Thiele. Entschuldigen Sie die Störung, Frau Mertens. Es tut mir leid, aber es gibt ein Problem mit den Unterlagen. Die Transportliste ist unvollständig.«

»Die komplette Liste ist auf der Diskette. Ich habe extra um eine Datei gebeten, weil die Kopie der Transportpapiere kaum lesbar war.« Cornelias Ton ließ erkennen, dass sie die Störung missbilligte.

»Diskette?«

»Ja, in der Anlage.« Ungeduld schwang jetzt in Cornelias Stimme mit.

Beate blätterte verunsichert noch einmal den Hefter durch. »Ich . . . ich finde hier keine Diskette.«

»Warten Sie«, hörte Beate Cornelia sagen. Es folgte Stille. Zwei Minuten später meldete sich Cornelia wieder. »Ich . . . ähm . . . die Diskette war noch in meiner Aktentasche. Sie ist wohl aus dem Hefter gefallen. Ich maile Ihnen die Datei gleich rüber.« Cornelia legte auf.

Die Mail kam zehn Minuten später. Ohne jeglichen Kommentar, nicht die Andeutung einer Entschuldigung wegen des entstandenen unnötigen Zeitaufwands.

»Was bin ich Ihnen für das Essen schuldig?« fragte Beate am nächsten Morgen, als sie Cornelia die Präsentationsdatei vorführte.

»Das war eine Entschädigung für den langen Arbeitstag. Sie schulden mir selbstverständlich nichts«, erwiderte Cornelia.

»Ich möchte aber gern bezahlen.«

Auf Cornelias Stirn bildete sich eine deutliche Unmutsfalte. »Seien Sie nicht kindisch. Die Zeit, die wir verwenden, darüber zu diskutieren, kostet mich mehr. Also Schluss damit.«

Beate zögerte. »Entschuldigen Sie, aber . . . ich bin es gewohnt, für mich selbst aufzukommen. Und so möchte ich es auch weiter halten.«

Die Falte auf Cornelias Stirn vertiefte sich. »Ihre Vorstadtprüderie ist lächerlich. Ein hungriger Magen ist bekanntlich eine schlechte Hilfe. Deshalb schien es mir angebracht, dass Sie etwas essen, bevor Sie weiterarbeiten. Was haben Sie für ein Problem damit?«

Ja, was hast du für ein Problem damit? Einer Cornelia Mertens tun die paar Euro nicht weh. Sie hatte die Angelegenheit schon vergessen, bis du davon angefangen hast.

Doch es störte Beate, Cornelia etwas schuldig zu sein. Auch wenn die wahrscheinlich nur ihr schlechtes Gewissen hatte beruhigen wollen, weil sie sie so lange arbeiten ließ. Andererseits, wegen so etwas würde Cornelia kein schlechtes Gewissen empfinden. Sie hatte klipp und klar gesagt, was sie von ihrer Assistentin erwartete. Volle Bereitschaft, und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag. Es war, wie Cornelia sagte. Als sie das Essen bestellte, hatte das einen rein praktischen Hintergrund. Es war keine Aufmerksamkeit.

»Also gut«, lenkte Beate ein. »Wie Sie meinen.«

Cornelia nickte und sah konzentriert auf den Ablauf der Präsentationsdatei. »Hat es Ihnen geschmeckt?« fragte sie unvermittelt.

Beate lächelte. »Glauben Sie mir, mir hätte alles geschmeckt, so hungrig war ich. Aber ja, es war ausgezeichnet.«

»Schön«, sagte Cornelia Mertens. Beate war nicht ganz klar, ob Cornelia die Präsentation meinte oder Salat und Pasta. »Machen Sie mir für heute nachmittag bitte einen Termin mit Herrn Breuer«, setzte Cornelia übergangslos fort.

»Ja.«

Cornelia schaute auf die Uhr. »Ich bin jetzt in der Besprechung.« Sie ging.

Als Cornelia zurückkam, brachte Beate ihr die Postmappe. Sie legte sie vor ihr auf den Schreibtisch.

»Danke«, sagte Cornelia.

»Breuer hat für fünfzehn Uhr dreißig zugesagt«, teilte Beate Cornelia mit.

»Ausgezeichnet.« Cornelia machte sich eine Notiz in ihren Kalender. »Für den Termin brauche ich die Unterlagen zum Transportschaden von gestern. Bitte legen Sie bis dahin die Akte an.«

Beate nickte und wandte sich zum Gehen.

»Frau Thiele?«

»Ja?« Beate drehte sich zu Cornelia um.

»Rufen Sie Anna an und sagen Sie ihr, dass ich einen Gast zum Abendessen erwarte.«

»Ja. Haben Sie einen besonderen Wunsch, was das Essen betrifft?«

Cornelia musterte Beate eindringlich. »Nein, aber vielleicht Frau Wagner. Fragen Sie sie. Ihre Telefonnummer –«

»Laura hat mir alles gezeigt«, unterbrach Beate Cornelia eilig. Irgendwie fühlte sie sich peinlich berührt. Es kam ihr absurd vor, dass sie Cornelias Freundin anrufen sollte, um das Menü abzusprechen. »Wann möchten Sie essen?«

»Wir spielen noch eine Runde Squash. Ich denke, acht Uhr ist gut.«

»Ich rufe Frau Wagner an und richte Anna alles aus.« Wenn sie denkt, ich werde mich zu irgendeiner Bemerkung hinreißen lassen, irrt sie sich. »Noch etwas?« fragte sie betont geschäftsmäßig.

»Nein, das ist alles.«

Beate machte sich mit den aktuellen Fällen vertraut. Immer wieder löcherte sie Laura mit Fragen. Gerade hatte sie einen Fall beim Wickel, auf dem groß Gutachten abwarten!!! vermerkt stand. Beate blätterte in dem Ordner. Es handelte sich um einen Brandschaden. Ein Einfamilienhaus war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der Bericht des Ermittlungsbüros war beigefügt. Aus ihm ging hervor, dass der Bauherr, eine Familie mit Kleinkind, vor dem Brand durch den Hausbau vor dem finanziellen Bankrott stand, weil die Baufirma, mittlerweile pleite, gepfuscht hatte. Das Haus war vom Keller bis zum Dachboden unzureichend isoliert. Der Schimmelpilz wucherte. Es bestand natürlich durch die Firma nicht die geringste Aussicht auf Nachbesserung. Auszug in eine Mietwohnung oder Nachbesserung durch eine andere Firma standen zur Wahl. Weder das eine noch das andere konnte sich die Familie leisten. Die Bank gab keinen Kredit mehr. Im Gegenteil. Die wollte ihr Geld sehen. Der Brand kam deshalb wie ein Geschenk Gottes. Mit Hilfe der Versicherungssumme könnte die Familie neu bauen. Der Verdacht auf Brandstiftung lag nahe.

»Glauben Sie, Herzberg legt ein Feuer, während seine Frau und sein Baby im Haus sind?« fragte Beate skeptisch.

»Es musste glaubhaft aussehen«, erwiderte Laura. »Da konnte er die beiden nicht erst zur Schwiegermutter schicken. Und er konnte sie ja auch vor dem Feuer retten.«

Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen. Die Tür ging auf. Ein junger Mann kam herein, grüßte Laura lässig und setzte sich dann frech vor Beate auf den Schreibtisch. »Ich war gespannt, welches Gesicht zu der netten Stimme vom Telefon gehört. Ich muss sagen, meine Erwartungen werden weit übertroffen.«

Beate runzelte unmerklich die Stirn. »Herr Breuer?« fragte sie.

»Ganz recht.«

Eingedenk Lauras Vorwarnung verkniff Beate sich eine Erwiderung auf das platte Kompliment. Das würde Breuer wahrscheinlich nur zu weiteren anspornen. »Frau Mertens erwartet Sie bereits seit zehn Minuten.«

»Was machen Sie heute abend?« fragte Martin Breuer ungeniert.

»Ich lese die Emma. Anschließend treffe ich mich mit meinen Freundinnen aus der Frauengruppe. Wir diskutieren die Paarungsgebärden der Männchen, speziell die immer wiederkehrende Einfallslosigkeit der Spezies Homo sapiens.«

Laura lachte belustigt. Martin Breuer stand brüskiert auf.

»Gar nicht so schlecht«, sagte Laura anerkennend. »Aber glauben Sie nur nicht, dass ihn das abhält, es beim nächsten Mal wieder zu versuchen.«

»Für Männer wie Martin Breuer habe ich immer eine passende Erwiderung«, versicherte Beate. Sie wandte sich wieder dem Fall Herzberg zu. »Ich kann nicht glauben, dass der Mann so weit gegangen ist.«

»Sie würden sich wundern, was wir hier schon alles erlebt haben«, meinte Laura nur. »Dagegen ist der Fall noch harmlos.«

Beate schlug den Ordner zu, griff sich den nächsten und vertiefte sich diesmal in eine undurchsichtige Einbruchsache.

Als Breuer fünfzehn Minuten später Cornelias Büro wieder verließ, hatte er die erlittene Schlappe bereits verdrängt. »Wie sieht es mit morgen abend aus?« knüpfte er nahtlos an das Gespräch von vorher an.

»Nein danke«, lächelte Beate kühl.

»Verstehe. Sie brauchen etwas Bedenkzeit. Ich rufe Sie morgen an.«

Beate schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie es.«

»Vergessen? Sie? Ich werde heute nacht von Ihnen träumen!«

Er ging. Beate verdrehte die Augen und schaute zu Laura. »Sie haben nicht zuviel versprochen.«