1. Kapitel

Beate war mit dem festen Vorsatz zum Vorstellungsgespräch erschienen, den Job zu ergattern. Sie hatte sich tagelang auf alle nur erdenklichen Fragen vorbereitet, Hunderte von Gesprächssituationen konstruiert und durchgespielt – nur nicht die, nichts gefragt zu werden. Beate wartete. Sie fühlte den eindringlichen Blick der Frau, die ihr gegenübersaß. Es war offensichtlich, dass die abschätzte, ob es sich überhaupt lohnte, Zeit auf ein Gespräch mit ihr zu verwenden. Beate hielt dem Blick stand, was ihr gleichzeitig Gelegenheit bot, die Inhaberin der Mertens Versicherungsgruppe zu betrachten.

Cornelia Mertens entsprach dem Bild aus einem Modekatalog: Ihr Kostüm saß perfekt, die Frisur saß perfekt, die Haltung war elegant und Ausdruck vollkommener Beherrschung. Ihr Stil passte genau zum zweckmäßig ohne Schnörkel eingerichteten Büro.

Jetzt senkte Cornelia Mertens den Kopf, schob Beates Bewerbungsmappe zur Seite, um die nächste hervorzunehmen. »Danke, Frau Thiele. Ich fürchte, Sie sind nicht die Richtige für die Stelle.« Die Stimme klang klar und akzentuiert.

Halb verwirrt, halb verärgert saß Beate da, unschlüssig, was sie erwidern sollte. Sollte sie überhaupt etwas erwidern? Die Sache schien gegessen. Das Gespräch war kurz und klar im Ausgang. Falls man es denn Gespräch nennen wollte. Fleischbeschau war wohl der passendere Ausdruck.

Cornelia Mertens hob den Kopf, zog leicht gereizt die Augenbrauen hoch. »Guten Tag«, sagte sie und unterstrich damit ihre Aufforderung an Beate, den Raum zu verlassen.

Beate rührte sich nicht vom Fleck. Ihr Ärger nahm angesichts der ihr entgegengebrachten Arroganz rasant zu und ließ sie alle Verwirrung vergessen. Was dachte die Frau sich dabei, sie so von oben herab zu behandeln? Bevor ich hier rausgehe, werde ich der Dame klarmachen, was ich von Leuten halte, die sich auf ihre Position hin einbilden, etwas Besseres zu sein! »Gehen Sie immer so mit den Leuten um?« machte Beate ihrem Frust Luft. »Haben Sie Spaß daran? Oder ist Ihnen heute morgen beim Lesen des Börsenteils der Kaffee nicht bekommen? Ist das Ihre Art, sich abzureagieren?«

Cornelia Mertens schaute auf. In ihrem Gesicht rührte sich kein Muskel. Entweder machte ihr der Wutausbruch ihres Gegenübers wirklich nichts aus, oder sie hatte sich ausgezeichnet unter Kontrolle. »Erwarten Sie darauf eine Antwort?« fragte sie kühl.

»Ja!« erwiderte Beate empört.

Ein stechender Blick aus zwei blitzenden Augen. Beate erwartete jeden Moment den endgültigen Rausschmiss.

»Entschuldigung«, sagte Cornelia Mertens statt dessen. »Es lag nicht in meiner Absicht, Sie zu beleidigen.« Und zu Beates größtem Erstaunen folgte die Erklärung: »Als Sie eintraten, habe ich mich geärgert, dass mein Personalleiter Ihre Akte in die Auswahl genommen hat. Sie entsprechen nicht den Anforderungskriterien. Sie kommen als Ingenieurin aus der Fertigungstechnik, sind absolut branchenfremd. Dazu sind Sie mit Ihren Erfahrungen völlig überqualifiziert. Ja, Ihre Sprachkenntnisse sind beeindruckend. Englisch, Französisch, Italienisch. Auch Ihre umfangreichen PC-Kenntnisse. Und genau deshalb muss ich befürchten, dass Sie bei nächstbester Gelegenheit den Job wieder kündigen werden. Deshalb kann ich Sie nicht einstellen. Ich suche eine Assistentin auf lange Sicht.« Sie hob bedauernd die Hände.

»Aber gerade aufgrund meiner Qualifikation finde ich mich schnell mit neuen Themen zurecht«, ergriff Beate die vielleicht einzige Chance, Pluspunkte für sich zu sammeln. »Und ich habe schon länger über einen Branchenwechsel nachgedacht. Es ist richtig, der Job stellt eine ganz andere Art von Arbeit dar, als ich sie bisher gemacht habe. Aber gerade das reizt mich. Und, wie gesagt, ich lerne in kürzester Zeit.«

»So? Was haben Sie zum Beispiel aus dem bisherigen Gesprächsverlauf gelernt?« fragte Cornelia Mertens. Diese Thiele überraschte sie mit ihrer Hartnäckigkeit.

»Sie sind auf ein bestimmtes Bewerberprofil festgelegt, das Sie für das effektivste halten«, erwiderte Beate. »Dem soll folglich Ihre neue Assistentin entsprechen. Sie sind nicht sehr experimentierfreudig.« Beate wusste, der letzte Satz war nicht eben diplomatisch. Aber was hatte sie zu verlieren?

Cornelia Mertens nickte. »Da haben Sie absolut recht. Das bin ich wirklich nicht.«

»Sie berauben sich damit der Chance, positiv überrascht zu werden.« Beate blieb beharrlich.

»Ich würde eher sagen, ich vermeide unangenehme Überraschungen«, legte Cornelia ihre Einstellung dazu dar.

»Das ist Ansichtssache. Ich bin es gewohnt, die Dinge optimistisch zu betrachten«, entgegnete Beate, wohl wissend, dass jemand in Cornelias Position kaum das Gegenteil von sich behaupten würde. Und richtig. Cornelia Mertens schaute Beate zum ersten Mal mit einer Spur von Interesse an. »Sie sind wirklich hartnäckig, Frau Thiele«, sagte sie. »Ich gebe zu, das imponiert mir.«

Beate nutzte die Gunst des Augenblicks. »Sagen Sie mir, was Sie von mir erwarten, und Sie bekommen es.«

Cornelia Mertens’ Gesichtsausdruck zeigte immer noch deutliche Skepsis. Beate spürte aber, dass ihr Gegenüber schwankte. Die Mauer der Ablehnung bröckelte zwar noch nicht, doch an der einen oder anderen Stelle löste sich der Putz.

»Glauben Sie mir, Sie machen einen Fehler, wenn Sie mich wegschicken«, setzte Beate forsch nach.

Cornelia Mertens’ Gesicht verschloss sich wieder. »Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn man mir sagt, was ich tun oder lassen soll. Ich bin der Boss. Und ich entscheide.«

Beate biss sich auf die Zunge. Verdammt! Das war’s dann wohl.

Eine Pause entstand.

»Es wäre so«, begann Cornelia plötzlich zu erläutern und überraschte Beate ein zweites Mal. »Sie koordinieren meine Termine, arrangieren den Empfang von Geschäftspartnern. Sie begleiten mich auf meinen Reisen, führen Recherchen durch, die ich Ihnen aufgebe. Ansonsten erwarte ich uneingeschränkte Bereitschaft. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Soweit die praktischen Aufgaben. Dann wären da noch die Zusätze.« Cornelia Mertens machte eine kurze Pause, in der sie Beates Blick fest in ihre Augen fasste. »Ich hasse sowohl Unpünktlichkeit wie Unzuverlässigkeit. Und ich muss Sie warnen: Ich bin eine Tyrannin. Ungeduldig und herrisch. Ich toleriere keine Fehler. Schon gar nicht von meiner Assistentin. Wenn Sie für mich arbeiten, will ich mich hundertprozentig auf Sie verlassen können.«

»Das versteht sich von selbst«, versicherte Beate.

»Das sagen Sie! Anscheinend ist das sehr viel verlangt, wie die große Zahl ihrer Vorgänger und Vorgängerinnen belegt. Die einzige Assistentin, die es mit mir ausgehalten hat, wird mir nun dummerweise weggeheiratet.« Cornelia machte erneut eine Pause. »Sie sind ledig? Haben keine Kinder?« fragte sie dann.

»Ja. Wie es in den Unterlagen steht«, bestätigte Beate.

»Was machen Sie außer Sport noch in Ihrer Freizeit? Wie steht es um Ihren Freundeskreis, Partys, Beziehung?«

»Bitte? Ich denke . . .« Beate hielt inne. Das geht Sie nun wirklich nichts an, hatte sie sagen wollen. Doch es war wohl klüger, sich diesen Kommentar zu verkneifen.

Ein amüsierter Blick traf Beate. »Ich frage das nicht aus Neugier. Sie sollten nur wissen, dass Sie in Zukunft wenig Zeit für all das haben werden.«

Beate sah Cornelia an. »Heißt das, ich bekomme den Job?«

Cornelia Mertens stand auf, ging zur Bürotür, öffnete sie. »Laura?« wandte sie sich an die Frau, die im Vorzimmer am Schreibtisch saß, und gab ihr ein Zeichen, ins Büro zu kommen. »Darf ich Ihnen Beate Thiele vorstellen. Sie werden sie in den verbleibenden zwei Wochen einarbeiten.«

Laura nickte Beate zu. »Hallo.«

Cornelia wandte sich wieder an Beate. »Sie fangen gleich morgen an, viertel nach sieben. Nutzen Sie die Tage, bis Laura weg ist, effektiv. Danach ist die Schonzeit vorbei.«

Beate strahlte. Kurz kam ihr der Gedanke, dass Cornelia Mertens ganz sicher die schwierigste Chefin unter der Sonne war, aber das kümmerte sie im Moment nicht. Sie hatte den Job. Nur das war wichtig. Denn es bedeutete das Ende einer seit Wochen andauernden Phase des Tiefs. Zufrieden und überglücklich verabschiedete Beate sich.

Cornelia sah Beate nach, schüttelte, uneins mit sich selbst, den Kopf. Sie zweifelte bereits, ob es eine so gute Idee gewesen war, Beate Thiele einzustellen. Deren impulsiver Charakter passte wenig in die ihr gewohnte geordnete Distanz zu den Dingen. Dennoch. Diese Thiele war offensichtlich in ihrer Art ein zielstrebiger Mensch. Cornelia grinste in sich hinein. Sie hat es immerhin geschafft, dich in deiner Meinung umzustimmen.

Cornelia wandte sich an Laura. »Ich muss übermorgen nach Stuttgart fliegen. Bitte reservieren Sie mir den ersten Flug.«

»Wann wollen Sie zurückfliegen?«

»Am selben Abend. Frau Thiele soll sich von Clemens zum Flughafen fahren lassen und mich dort abholen. Ich habe bei meiner Rückkehr sicherlich einige Dinge, die sofort erledigt werden müssen. Da kann sie gleich mal zeigen, was in ihr steckt.«

Laura nickte. »Ich sage es ihr.« Sie zögerte.

Cornelia sah Laura fragend an. »Gibt es noch etwas?«

»Ja. Frau Wagner hat angerufen. Sie sagte, Sie bräuchten heute abend nicht auf sie zu warten. Diese Woche könne sie die Verabredung leider nicht einhalten.«

Cornelia grinste Laura an. »Sind Sie noch frei?«

Laura errötete. »Sie wissen, dass ich es nicht bin. Außerdem habe ich mit Frauen nichts am Hut. Und schon gar nicht mit Ihnen.«

Cornelia seufzte theatralisch. »Sie sind immer noch schockiert über die Art, wie ich mein Privatleben handhabe.«

»Ich kann es nie und nimmer begreifen, dass Sie es normal finden, sogar Ihre Beziehungen von Ihrer Assistentin koordinieren zu lassen.«

»Bisher hat sich keine der Frauen bei mir beschwert.«

»Ja, weil auch sie die Rendezvous nur als gelegentlichen Zeitvertreib ansehen, ohne Verpflichtungen. Aber was wird, wenn Sie mal der Richtigen begegnen? Ich meine, vorausgesetzt, dass Sie es schaffen, diese Frau nicht durch Ihre schroffe Art sofort zu verprellen und sie Interesse an Ihnen hätte.«

Cornelia hob die Hand. »Laura, jetzt ist es genug. Sie vergessen . . .«

». . . dass mir solche Art Kritik nicht zusteht? Sicher. Aber was wollen Sie tun? Mich entlassen?« grinste Laura nun ihrerseits.

»Sie nutzen die Situation aus«, sagte Cornelia vorwurfsvoll, aber nicht ernsthaft böse.

»O ja. Seit drei Jahren warte ich auf diese Gelegenheit«, erwiderte Laura ungerührt.

»Mir mal so richtig Ihre Meinung zu sagen?«

»Ihnen zu sagen, dass Sie einmal sehr einsam sein werden, wenn Sie Ihr Leben nicht ändern.«

Einen Moment schien Cornelia verwirrt. Sie blinzelte überrascht, fing sich aber sofort wieder. »Sehr tiefsinnig«, sagte sie nur und verschwand in ihrem Büro.

Beate fühlte sich so gut wie lange nicht mehr. Als hätte sie ihr Leben neu gewonnen. Ähnlich dem Gefühl der Erleichterung, als sie vor drei Monaten beschlossen hatte, sich endlich von Anke zu trennen. Um nicht mehr eingeengt, ja regelrecht erdrückt zu werden von dem, was Anke Liebe nannte. Befreit von der andauernden Pflicht zur Rechenschaft. Nicht mehr den zermürbenden, immer wiederkehrenden Diskussionen ausgesetzt, dem ewigen Wechsel von weinerlichen Vorwürfen und hysterischer Eifersucht.

Die Trennung von Anke war ein Desaster. Anke weinte, flehte. Und als das nichts half, drohte sie. Es waren keine leeren Drohungen. Es war der Anfang einer Zeit voller Schikanen. So leidenschaftlich, wie Anke kurz zuvor noch ihre Liebe geschworen hatte, so intensiv hasste sie nun und machte Beate das Leben zur Hölle. Die Wohnung, in der sie beide wohnten, gehörte Anke. Sie warf Beate von einem Tag zum anderen hinaus. Da ihr gemeinsamer Bekanntenkreis eigentlich der Ankes war, sorgte die sehr schnell dafür, dass man Beate schnitt und sie allein dastand. Aber das alles genügte Anke nicht. Durch eine gemeine Verleumdung in der Firma, in der sie beide arbeiteten, schaffte Anke es, dass Beate ihren Job verlor. Beate fasste den Entschluss, in eine andere Stadt zu ziehen. Weit weg von Anke und ihren Attacken.

Hier stand sie nun, in einer kleinen Einzimmerwohnung mit vergilbten Tapeten, undichten Fenstern und tropfender Dusche – einem Wohnklo mit Kochnische, wie man so schön sagte, nur eingerichtet mit einem Bett, einem Schrank, Schreibtisch und Stuhl. Der einzige Luxus war die Kombination aus Sessel und Dreisitzer, die sie sich zugelegt hatte. Für mehr reichte es nicht, nachdem der Umzug, die Kaution und die erste Miete bezahlt waren. Entlang den Wänden stapelten sich immer noch Umzugskartons, weil sie keinen Platz hatte, um die Sachen zu verstauen.

Aber das Chaos deprimierte Beate nicht mehr. Selbst ohne den neuen Job hatte sie sich besser gefühlt als in den letzten Monaten mit Anke. Mit dem Job fühlte sie sich geradezu euphorisch. Zur Feier des Tages öffnete Beate eine Flasche Rotwein.

Beate stürmte völlig außer Atem ins Büro. »Guten Morgen«, begrüßte sie Laura schuldbewusst, weil sie zu spät kam.

»Guten Morgen. Willkommen am neuen Arbeitsplatz.« Laura runzelte die Stirn.

»Ich weiß, ich bin zwanzig Minuten drüber, aber ich bin in den falschen Bus eingestiegen. Der Berliner Nahverkehr ist eine Wissenschaft.«

»Die Sie bis morgen beherrschen müssen. Frau Mertens war nicht begeistert, als sie kam und Sie noch nicht da waren.«

»Oje. Was hat sie gesagt?«

»Nichts.«

»Ich gehe rein und entschuldige mich.«

»Bloß nicht! Damit vergrätzen Sie sie ein zweites Mal. Ich habe mir schon so etwas gedacht und gesagt, Sie hätten angerufen, dass Sie in einen Schienenersatzverkehr geraten sind. Was für jemanden, der neu zugezogen ist, ein paar Minuten Zuspätkommen entschuldigt.«

»Danke. Sie sind ein Engel.« Beate atmete erleichtert auf.

Laura ging nicht weiter darauf ein, sondern lächelte nur. »Wir haben leider nicht viel Zeit für die Übergabe. Also zeige ich Ihnen gleich einmal, wo welche Unterlagen stehen, wie der PC organisiert ist und so weiter.« Sie gingen gemeinsam zu den Aktenschränken. »Und was das andere betrifft . . .« Laura schaute Beate von der Seite an. »Sie hat Sie doch vorgewarnt?« fragte sie. »Das pflegt sie fairerweise zu tun.«

»Sie meinen ihre nette Art?« fragte Beate zurück. »O ja, das hat sie. Aber eigentlich wäre es nicht nötig gewesen. Ich konnte es kaum übersehen.«

Die Sprechanlage knackte. »Laura? Was ist mit dem Ticket für den morgigen Flug?«

Laura lief zum Schreibtisch und drückte den Knopf zum Gegensprechen. »Alles erledigt«, sagte sie. »Hinflug acht Uhr zehn. Rückflug siebzehn Uhr zehn. Das Ticket ist am Schalter auf Ihren Namen hinterlegt.«

»Danke.«

Laura kam zu Beate zurück. »Normalerweise begleiten Sie Frau Mertens auf ihren Reisen«, sagte sie. »Sie vertritt nämlich die Auffassung, eine persönliche Assistentin gehört, wie der Name schon sagt, zu einer Person, nicht zu deren Büro. Im Zeitalter der modernen Technik macht es laut Frau Mertens keinen Sinn, dass Sie im Büro neben Telefon und Computer sitzen. Frau Mertens schwört auf das mobile Büro samt Assistentin, die alle relevanten Fakten sofort mittels Laptop aufnimmt, auswertet und in Form bringt. So ist für die Besprechung am nächsten Morgen alles fertig. In den zwei Wochen der Einarbeitung reist Frau Mertens allein, damit wir die Zeit für die Übergabe nutzen können. Deshalb müssen Sie die Auswertungen der Daten leider nach Feierabend machen. Frau Mertens möchte, dass Sie sie morgen abend vom Flughafen abholen, um die Unterlagen zu übernehmen. Clemens, ihr Chauffeur, wird Sie hinfahren.«

»Sie hat einen eigenen Chauffeur?« fragte Beate staunend. »In welchem Jahrhundert lebt sie?«

»Einen Chauffeur namens Clemens, eine Haushälterin namens Anna, einen Gärtner namens Arthur«, zählte Laura ungerührt auf.

Beate pfiff anerkennend. »Nicht schlecht.«

»Der Flieger landet um achtzehn Uhr fünfzehn. Seien Sie lieber etwas früher am Flughafen als zu spät. Sonst wird es schon am zweiten Tag sehr unangenehm für Sie.« Laura warf einen zweifelnden Blick auf Beate. »Und Sie denken, Sie kommen mit ihr zurecht? Sie sehen gar nicht so robust aus.«

Beate lächelte. »Das täuscht. Und letztendlich, sie . . .«, Beate machte eine Kopfbewegung in Richtung Cornelias Büro, »ist zwar schwierig, aber auch eine Frau Mertens hat nur Blut in den Adern. Und dieses Blut muss in seinem Kreislauf irgendwo einmal durch ein Herz fließen.«

»Es gibt immer eine Ausnahme von der Regel«, meinte Laura trocken.

»Sie übertreiben.«

Laura seufzte. »Ja, aber normal ist es nicht, wie die Frau lebt. Cornelia Mertens’ Tagesablauf ist bis ins letzte Detail durchgeplant. Präzise um halb acht jeden Morgen kommt sie ins Büro. Der Tag beginnt mit einer morgendlichen Besprechung der Abteilungsleiter eine Stunde später. Die dauert genau fünfzehn Minuten. Keine Minute weniger, keine Minute mehr. Anschließend arbeitet sie die Post durch bis genau zehn Uhr dreißig. Es folgen Termine außer Haus. Um vierzehn Uhr kehrt sie zurück. Die Zeit bis sechzehn Uhr dreißig ist für Termine von Geschäftspartnern reserviert, die unser Haus besuchen. In der folgenden halben Stunde erhalten Sie Frau Mertens’ Anweisungen, die sich aus all ihren Besprechungen ergeben. Von siebzehn bis achtzehn Uhr bereitet sie sich auf die Termine des nächsten Tages vor. Um achtzehn Uhr holt Clemens sie ab.«

Beate verstand nicht, was daran auszusetzen war. »Was spricht gegen einen geregelten Arbeitstag?« fragte sie.

»Nichts.« Laura lächelte leicht. »Aber bei Cornelia Mertens beschränkt sich die Planung nicht nur auf die Arbeit. Auch ihr Privatleben ist präzise durchgeplant. Um neunzehn Uhr isst sie zu Abend. Das Abendessen wird von Anna pünktlich auf die Minute serviert. Danach, je nach Wochentag, Fitness, Theater, Rendezvous, ein Abend zu Hause . . . Cornelia Mertens liebt es nicht, etwas dem Zufall zu überlassen. Gefühle sind ein Fremdwort für sie. Ich gehe jede Wette ein, dass ihr Puls in den letzten Jahren nie auch nur die geringste Beschleunigung erfahren hat.«

»Aber sagten Sie nicht gerade etwas von Rendezvous? Also hat sie doch einen Freund. Demzufolge auch Gefühle. Vielleicht kann sie sie einfach nur nicht so zeigen. In ihrer Position muss sie ja auch darauf bedacht sein, niemanden eine Angriffsfläche zu bieten. Die Distanz, die sie aufbaut, ist vermutlich ein Schutz.«

Laura schaute Beate ernst an. »Glauben Sie mir, Cornelia Mertens ist eine kühle, zynische, egozentrische Frau. Mehr steckt nicht hinter ihrem Verhalten. Und nicht weniger.«

»Wenn Frau Mertens so schlimm ist, wie Sie sagen, wie konnten Sie es so lange hier aushalten?«

»Nun, eines muss man ihr trotz allem zugestehen: Sie ist korrekt, gerecht und . . . sie tatscht einem nicht auf den Hintern.« Laura grinste. »Was bei ihrer Vorliebe für das weibliche Geschlecht von guten Manieren zeugt. In den Kreisen, in denen Frau Mertens verkehrt, sollte man davon ausgehen, dass gute Manieren üblich sind, aber glauben Sie mir, das sind sie nicht. Einige ihrer Geschäftspartner sind ziemlich aufdringlich. Ich warne Sie schon mal vor Martin Breuer, Chef der Ermittlungsfirma, mit der wir in besonderen Fällen zusammenarbeiten. Versuchen Sie immer, mindestens zwei Meter Abstand zu ihm zu halten. Von Frau Mertens dagegen geht nicht die geringste Gefahr aus. Außer ein paar gelegentlichen harmlosen Neckereien haben Sie nichts zu befürchten.«

Beate schwieg verdattert.

»Oder haben Sie damit ein Problem?« fragte Laura.

»Äh, nein. Überhaupt nicht«, stotterte Beate.

»Na bestens. Denn, wie ich bereits sagte, plant Frau Mertens auch ihr Privatleben sehr akkurat. Und es gehört unter anderem zu Ihren Aufgaben, die jeweilige Favoritin – na sagen wir mal . . . zu betreuen. Frau Mertens wird Ihnen sagen, mit welcher Dame sie den Abend verbringen wird und wo. Sie schicken der Dame die Blumen, bestellen den Tisch im Restaurant, die Karten fürs Theater, Kino oder was auch immer Frau Mertens wünscht. Und Sie gewährleisten hundertprozentige Diskretion.«

Beate war für einen Moment sprachlos. »Bisher dachte ich immer, diese Art, mit Frauen umzugehen, ist Männern vorbehalten. Als Sie vorhin von Rendezvous sprachen, dachte ich wirklich . . .«

»Ich weiß«, sagte Laura. »Und glauben Sie mir, das wird nicht die letzte Überraschung sein, die Ihnen Frau Mertens beschert.« Sie öffnete den ersten der Aktenschränke. »Jetzt sollten wir aber endlich mit der Arbeit anfangen.« Laura deutete auf die Ordner. »Kundenstamm, Partnerfirmenverzeichnis, Monatsberichte, laufende Akquisitionen.« Sie öffnete die andere Schranktür. »Und hier: Fälle in der persönlichen Bearbeitung von Frau Mertens.«

»Welche Fälle sind das?«

»Weil Frau Mertens den Kontakt zu den Firmen hält, laufen alle gewerblichen Schadensanmeldungen über sie. Frau Mertens fährt vor Ort, nimmt den Schaden auf und gibt die Fälle in der Regel weiter zur Bearbeitung in die Schadensabteilung. Hier stehen nur die Fälle, die in Klärung sind. Zum Beispiel, weil die Gutachten Ungereimtheiten ergaben oder ein Teil der beschädigten Ware mit Nachlass verkauft werden soll. Alle Schadensfälle, die aus dem Privatbereich in der Schadensabteilung eingehen, werden direkt zum zuständigen Sachbearbeiter weitergeleitet. Sollte die Schadenssumme aber einhunderttausend Euro übersteigen, wird der Fall Frau Mertens vorgelegt und von ihr geprüft.«

»Geprüft?«

»Dem Gutachter vorgelegt, eventuell kommt Herr Breuer mit seiner Ermittlungsfirma ins Spiel.«

»Sie sprechen von Versicherungsbetrug.«

»Genau. Das heißt nicht, dass alle anderen Fälle von dem Verdacht frei sind. Aber ab hunderttausend wird generell geprüft.«

»Sie sagten, es gehört zu meinen Aufgaben, alle Angaben am Computer aufzuarbeiten. Gibt es dafür ein spezielles Programm? Eine Art Schema?«

»Ja.« Laura ging zum Computer. »Eine Datenbank. Die reicht natürlich nur für die grobe, statistische Erfassung der Schadensfälle. Für alles andere ist Ihre Kreativität gefordert. Dazu stehen Ihnen alle marktüblichen Programme zur Verfügung. Kennen Sie sich mit denen aus?«

»Bestens.«

»Na prima. Ich zeige Ihnen ein paar Hilfen, die ich im Laufe der Zeit erstellt habe. Es steht Ihnen natürlich frei, diese zu verbessern oder auch ganz neue zu entwickeln.« Laura grinste. »Vorerst werden Sie dafür aber kaum Zeit haben. Frau Mertens wird Sie zu beschäftigen wissen.«