18. Kapitel

Beate ließ das Frühstück absichtlich ausfallen. Sie kam erst hinunter, als der Zeitpunkt zur Abfahrt ins Büro heran war. Cornelia wartete in der Halle auf sie. Beate beobachtete innerlich grinsend, wie Cornelias Blick sie zunächst gewohnt flüchtig erfasste und dann wie hypnotisiert an ihr haften blieb.

Beate trug, wie sonst auch, einen Hosenanzug. Aber weder Farbe noch Schnitt entsprachen dem, was Cornelia von Beate kannte. Der normalerweise graue oder blaue Blazer war einer kurz geschnittenen Jacke in beige gewichen, die Beates schmale Taille umschloss und zu ihrer schwarzen Hose einen Kontrast setzte. Die Jacke trug Beate offen statt zugeknöpft wie sonst die Blazer. Cornelia erblickte darunter das enge T-Shirt, das Beates Figur, nicht zuletzt ihre Brüste, deutlich betonte. Die neue, freche Kurzhaarfrisur mit Strähnchen machte Cornelias Verwirrung perfekt. Sie währte zwar nicht lange, Cornelia bekam sich schnell wieder unter Kontrolle. Aber Beate wusste, ihre Verwandlung erzielte die beabsichtigte Wirkung.

»Guten Morgen«, begrüßte Beate Cornelia angesichts dieses ersten Erfolges fröhlich.

»Morgen«, erwiderte Cornelia nur.

Sie gingen zum Wagen. Auch Clemens schaute Beate bewundernd an. Und er hatte keine Scheu, dieser Bewunderung Ausdruck zu verleihen. »Sie machen Ihrer Chefin heute aber echte Konkurrenz, Frau Thiele.«

Beate lachte. »Danke, Clemens.«

Während der Fahrt ins Büro bemerkte Beate, wie Cornelia sie immer wieder verstohlen betrachtete. Beate tat, als fiele es ihr nicht auf. Auf dem Weg zur morgendlichen Besprechung verhielt Cornelia kurz an Beates Schreibtisch. Offensichtlich wollte sie etwas sagen, schüttelte aber nur den Kopf und ging weiter. Beate grinste vor sich hin. Langsam machte ihr die Sache Spaß. Es kam nicht oft vor, dass Cornelia nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Beate hatte nicht erwartet, dass der Erfolg so durchschlagend sein würde.

Sie rief Jana an, um ihr davon zu erzählen.

»Na, was habe ich gesagt?« triumphierte die. »Unter den gegebenen Umständen konnte Cornelia gar nicht anders reagieren. Immerhin hat sie ja schon zugegeben, dass sie viel für dich empfindet. Jetzt hängt sie endgültig am Haken. Ein wenig zappelt sie noch. Gibt vor, sich losreißen zu wollen. Aber das ist nur ein Reflex. Sie weiß genau, dass sie nicht mehr loskommt.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, meinte Beate. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich ihre Probleme so einfach lösen ließen.

Cornelia fiel es schwer, sich auf die Besprechung zu konzentrieren. Immer wieder verlor sie den Faden, weil sie darüber grübelte, was wohl in Beate gefahren war. Die plötzliche Veränderung musste doch einen Grund haben. Sie hat sich einfach einmal ein wenig anders zurechtgemacht, Cornelia! Was ist dabei?

Es ist der Zeitpunkt! Warum ausgerechnet jetzt? Nicht dass Cornelia Beates neues Outfit nicht gefiel. Im Gegenteil. Es war sehr . . . sexy. Und genau das ist die Antwort auf deine Frage, Cornelia. Beate benutzt den ältesten Trick der Welt: Verführung. Cornelia schmunzelte in sich hinein. Beate probierte sich als Femme fatale? Irgendwie amüsant. Wenn du es amüsant findest, dass Beate um dich kämpft . . .

»Entschuldigung. Wenn keine Notfälle anstehen, möchte ich heute einmal früher schließen«, sagte Cornelia in die Versammlung. Sie nahm die verdutzten Gesichter in der Runde wahr. Da sich aber niemand zu Wort meldete, beendete Cornelia die Besprechung vorzeitig. Sie rief Clemens an, dass sie den Wagen brauchte. Danach gab sie Beate kurz Bescheid, dass sie die nächsten zwei Stunden außer Haus sein würde.

»Ist etwas passiert? Es steht gar kein Termin in deinem Kalender«, fragte Beate erstaunt.

»Nein. Ich muss nur etwas erledigen«, erwiderte Cornelia und ließ Beate mit ihrer Verwunderung zurück.

Pünktlich zwei Stunden später kam sie gutgelaunt ins Büro zurück. Beate hatte den Eindruck, dass da ein sanfter Schimmer in Cornelias Augen lag. Aber vielleicht täuschte sie sich auch.

»Essen wir heute abend zusammen?« fragte Cornelia.

Beate schaute verdutzt. »Ja, sicher. Tun wir doch immer. Warum fragst du?«

»Nur so.« Cornelia ging weiter, in ihr Zimmer.

Beate schüttelte den Kopf. Was bedeutete das nun wieder?

Anna hatte den Tisch für das Abendessen heute besonders festlich dekoriert. Auf Cornelias Anweisung natürlich. Das war Beate klar. Unklar war ihr, weswegen Cornelia das Ganze veranstaltete. Noch immer gab Cornelia keine Erklärung ab, welchen Grund sie dafür hatte.

Das Essen verlief mit unverbindlicher Plauderei.

Cornelia schenkte Beate Wein nach und prostete ihr zu.

Beate trank einen Schluck. »Verrätst du mir, was das hier zu bedeuten hat?« Sie machte eine ausholende Handbewegung. »Ist irgendein besonderer Tag?«

Cornelia schmunzelte. »Muss wohl so sein.«

Beate schaute fragend. »Muss wohl so sein?«

»Ja. Deshalb habe ich Anna gebeten, den Tisch dem Anlass entsprechend herzurichten.«

»Welchem Anlass?«

»Das wollte ich dich fragen. Du bist diejenige, die sich so chic gemacht hat.«

Beate senkte verlegen den Blick. »Das hat keinen speziellen Grund.«

»Nein?« Cornelia unterdrückte ein Grienen. »Diesen schönen Anblick verdanke ich also einfach nur einem zufälligen Griff in deinen Kleiderschrank?«

Beate schaute auf. »Es gefällt dir?«

»Machst du Witze? Als ich dich heute morgen die Treppe herunterkommen sah, blieb mir buchstäblich die Luft weg. Das dürfte dir nicht verborgen geblieben sein. Sicher hast du dich köstlich über mich amüsiert.«

»Ein wenig«, gab Beate grinsend zu.

Cornelia nickte. »Du sahst so hinreißend aus«, sagte sie leise.

Die Zärtlichkeit, die in ihrer Stimme schwang, verursachte Beate ein kribbeliges Gefühl im Bauch.

»Ich war so durcheinander, dass ich sogar die Besprechung vorzeitig beendet habe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das zum letzten Mal getan habe. Ich glaube, noch nie. Aber ich musste unbedingt eine Sache erledigen. Es ließ mir keine Ruhe.« Cornelia machte eine Pause, bevor sie hinzufügte: »Ich hatte das bestimmte Gefühl, dass deinem neuen Ich noch etwas fehlt.«

Beates fragender Blick ließ Cornelia lächeln. Sie holte ein flaches längliches Etui aus ihrer Jackentasche hervor und legte es vor Beate auf den Tisch.

Die schaute völlig überrumpelt. »Was ist das?«

»Mach es auf«, sagte Cornelia nur.

Beate öffnete unsicher die kleine Schachtel. Darin lag eine schmale, goldene Halskette mit einem zierlichen Anhänger. Beates Blick wanderte unsicher von dem Kettchen zu Cornelia und wieder zurück. »Die ist sehr schön«, flüsterte sie.

Cornelia lächelte erneut.

Beate seufzte bedauernd, klappte das Etui zu und hielt es Cornelia hin. »Ich kann das nicht annehmen.«

»Natürlich kannst du. Du musst«, widersprach Cornelia.

Beate schüttelte rigoros den Kopf. »Cornelia, das ist ein sehr teures Schmuckstück, kein Präsentkorb. So etwas verschenkt man nicht mal eben so.«

»Das weiß ich auch. Und ich mache dieses Geschenk nicht leichtsinnig.« Cornelia legte ihre Hand auf Beates. »Ich gebe es der Frau, für die ich mehr empfinde, als ich jemals für eine Frau empfunden habe. Die so viel Geduld mit mir hat. Und die ich bitte, noch mehr Geduld zu haben.« Ein schuldbewusster Blick.

»Cornelia.« Beate seufzte erneut. »Ich habe mich nicht in diese Klamotten geschmissen, damit du mich mit teurem Schmuck behängst.«

»Und ich schenke dir diesen Schmuck nicht, weil du dich in diese Klamotten geschmissen hast.« Cornelia bemerkte Beates skeptischen Blick. »Na ja, irgendwie schon«, gab sie zu. »Aber nicht vordergründig. Das gab nur den Anstoß. Mir würde viel daran liegen, wenn du die Halskette trägst. Für mich.«

Beate sah unschlüssig auf das Etui. Sie fragte sich, was sie tun sollte. Einerseits freute sie sich über Cornelias Geschenk. Andererseits war sie enttäuscht. Was hast du erwartet, Beate? Dass Cornelia dir zwölf Stunden nach deinem ersten Auftritt einen Antrag macht? Es läuft doch gar nicht so schlecht. Wenn du Cornelia nicht verschrecken willst, nimmst du jetzt die Kette und sagst ihr etwas Nettes.

»Für dich?« fragte Beate leise.

»Ja.« Cornelia strich Beate sanft über die Hand. »Für mich.«

Beate öffnete die Schachtel und nahm die Kette in die Hand. »Legst du sie mir um?« fragte sie.

Cornelia stand auf und ging um den Tisch herum zu Beate. Beate stand ebenfalls auf und drehte Cornelia den Rücken zu. Cornelia nahm die Kette, legte sie Beate vorsichtig um den Hals, streichelte ihn zärtlich.

Beate erschauerte unter der Berührung, genoss den Moment. Mit einem Mal fand sie es gar nicht mehr so übel, dass Cornelia ihr diese Kette geschenkt hatte. Als Beate auch noch Cornelias Lippen auf ihrer Haut spürte, konnte sie einen sehnsüchtigen Seufzer nicht unterdrücken.

»Fertig«, sagte Cornelia mit belegter Stimme.

Beate drehte sich langsam um. Cornelia stand dicht vor ihr, hielt mit ihrem Blick Beates Augen fest. Beate konnte deutlich Cornelias Verlangen spüren. Beate berührte sanft Cornelias Lippen . . .

»Kann ich abräu- oh, Verzeihung!«

Beate und Cornelia fuhren auseinander.

Anna stand im Zimmer. »Kann ich abräumen?«

Cornelia fing sich als erste. »Ja, Anna, danke.«

Anna rollte den kleinen Servierwagen herein. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

»Nein. Sie können nach Hause gehen, Anna.«

Victor kam ins Zimmer gelaufen. Beate nahm den Kater auf den Arm und schmuste mit ihm. Der kleine Kerl schnurrte laut los.

Cornelia ging zu den beiden und streichelte Victor. Dabei sah sie Beate an.

Anna klapperte mit den Tellern.

Cornelia drehte sich zu ihr um.

»Ich bin schon weg!« Anna beeilte sich, die letzten Schüsseln vom Tisch einzusammeln und verließ das Zimmer. »Schönen Abend, die Damen«, rief sie im Hinausgehen schnippisch.

Beate grinste. »Was denkt sie jetzt wohl?«

»Da fragst du noch?« Cornelia nahm Beate Victor aus dem Arm und setzte ihn auf dem Fußboden ab. Beate protestierte. Sie wollte erneut nach Victor greifen, aber Cornelia hielt sie davon ab. »Wie wäre es, wenn du deine Aufmerksamkeit auf eine Person lenkst, die Streicheleinheiten dringender braucht als Victor?«

»Kein Problem. Wenn diese Person sich endlich entschließt, das Katz-und-Maus-Spiel zu beenden und klare Zeichen zu setzen.« Beate schlängelte sich geschickt an Cornelia vorbei und bekam Victor zu fassen.

Cornelia verzog enttäuscht den Mund. »Es ist nicht so einfach, über seinen eigenen Schatten zu springen«, verteidigte sie sich missmutig brummelnd.

»Und manch einer springt nie«, ergänzte Beate. Sie widmete sich von neuem Victor.

»Also gut.« Cornelia holte tief Luft. »Ein eindeutiges Zeichen. Bitte. Was . . . was hältst du davon, wenn wir beide am Wochenende gemeinsam wegfahren?«

Beate hielt mitten in der Bewegung inne. »Was?«

»Wir mieten ein Ferienhaus an einem schönen See. Wir gehen schwimmen, angeln ein paar Fische, die wir abends am Feuer grillen. Was hältst du davon?«

Beate stand mit offenem Mund da. Cornelias Vorschlag überrumpelte sie völlig. »Ich kann es nicht glauben«, stotterte sie. »Meinst du das ernst?«

Cornelia trat dicht an Beate heran.

Die hatte immer noch Victor auf dem Arm, der zwischen ihnen laut schnurrte.

Cornelia umfasste die beiden. »Es scheint mir die einzige Möglichkeit, meinen Konkurrenten auszuschalten.«

Beate löste sich gerade so viel aus Cornelias Umarmung, um Victor behutsam auf dem Sofa abzusetzen. Bereitwillig ließ sie sich wieder von Cornelia umfassen. Warme Lippen trafen Beates Mund, verweilten einen schönen, aber viel zu kurzen Augenblick.

»Ist das ein Date?« fragte Beate atemlos.

»So kann man es auch nennen.« Cornelia liebkoste mit den Fingern zärtlich Beates Gesicht. Sie seufzte. »Warum habe ich nur ständig das Verlangen, dich zu küssen?«

»Hast du das?«

»Ja.« Cornelias Daumen strich sanft über Beates Wange.

»Nun, ich habe gehört, es soll sehr ungesund sein, dauerhaft mit unerfüllten Wünschen schwanger zu gehen.« In Beates Augen blitzten tausend kleine Funken des Schalks.

Cornelia ließ sich nicht lange bitten. Mit einem Seufzer zog sie Beate an sich. Beate erwiderte den Kuss ungestüm. Cornelia fuhr mit den Händen unter Beates Jacke, strich Beates Rücken entlang. Cornelias Kuss wurde immer leidenschaftlicher. Abrupt brach sie plötzlich ab, ließ Beate los.

Schweratmend stand Cornelia da. O Gott, ich fühle sonst nie so!

»Alles in Ordnung?« fragte Beate.

»Nein. Ganz und gar nicht.« Cornelia fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Vielleicht ist es nicht immer gut, wenn Wünsche wahr werden.«

»Das heißt, du hast es dir anders überlegt«, stellte Beate fest.

»Nein! Nein das habe ich nicht.«

»Was dann?«

Cornelia suchte nach den passenden Worten, es zu erklären, ohne Erfolg. Sie zuckte hilflos mit den Schultern.

Doch Beate ahnte, was in ihr vorging. »Du hast Angst, dass deine Resistenz gegen Romantik versagt? Dass du dir Gefühle leistest, die du lieber nicht haben willst.«

Cornelia nickte. »Ja«, gestand sie. »Und nein. Alles ist so verwirrend. So wie mit dir war es noch nie.«

Für mich auch nicht, dachte Beate. Aber sie wusste – oder konnte sich vorstellen –, dass es für Cornelia trotzdem nicht dasselbe war. »Ist das gut oder schlecht?« fragte sie deshalb.

Cornelia seufzte. »Das versuche ich immer noch herauszufinden.«

Beate strich über ihre Wange. »Vielleicht kann ich dir dabei helfen«, sagte sie leise.

Cornelia blickte sie an. »Ich würde dich so gern noch einmal küssen«, sagte sie rau. »Aber wenn ich das tue, kann ich für nichts mehr garantieren. Wäre es eine große Zumutung für dich, jetzt in dein Zimmer zu gehen?« Sie schluckte. Sehr viel lieber hätte sie Beate um etwas anderes gebeten.

Beate verstand. Auch sie spürte ein Verlangen, das sie Cornelia gegenüber nicht offen zugeben wollte. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie leicht lachend. »Ich hole mir einen Krimi aus der Bibliothek.«

»Keine Liebesgeschichte?« fragte Cornelia mit schiefgelegtem Kopf.

»Keine Liebesgeschichte«, bestätigte Beate fest. »Abgesehen davon, dass ich annehme, du hast so etwas gar nicht.«

Cornelia blickte sie an, sagte aber nichts.

Beate fasste an die Kette um ihren Hals. »Danke«, sagte sie warm. »Sie ist wirklich wunderschön.«

Cornelia schien zu schlucken. Dann nickte sie stumm.

Beate drehte sich um und ging hinauf in ihr Zimmer.

Cornelia stand noch lange da und blickte ihr nach, obwohl sie schon längst verschwunden war.