3. Kapitel

Cornelia betrat wie jeden Morgen Punkt halb acht das Büro. »Schicken Sie bitte eine kleine Aufmerksamkeit an Frau Wagner«, wandte sie sich im Vorbeigehen an Beate. »Ich denke, ein paar Blumen wären nett. Schicken Sie sie ihr ins Atelier.«

»Ich veranlasse es sofort.«

»Ach, und rufen Sie Herrn Herzberg an. Sagen Sie ihm, das Gutachten zur Brandursache verzögert sich. Deshalb können wir noch nichts sagen. Er muss sich weiter gedulden.« Cornelia verschwand in ihr Büro.

Beate suchte Herzbergs Nummer aus dem Ordner heraus, rief ihn an und teilte ihm die Sachlage mit. Am anderen Ende der Leitung blieb es erst einmal still. »Herr Herzberg?« fragte Beate, um sicherzugehen, dass sie verstanden worden war.

»Versicherungen und Banken, ist doch alles eine Soße«, hörte sie daraufhin eine ärgerliche Stimme sagen. »Ihr wollt nur das Geld der Leute abscheffeln. Wenn man im Schlamassel sitzt, kümmert sich niemand um einen. Erst lässt uns die Bank hängen. Und dann, wenn man mal Glück im Unglück hat, will man uns zu Brandstiftern abstempeln, weil nicht sein kann, was nicht sein soll. Wissen Sie eigentlich, wie meine Familie und ich zur Zeit leben? Besuchen Sie uns doch mal! Ich schicke solange meine Frau und das Baby aus dem klapprigen Wohnwagen, dann können Sie sich sogar setzen.«

»Herr Herzberg, es tut mir leid, ich kann es doch nicht ändern.«

»Wir haben keinen Strom, dafür einen alten Gaskocher«, fuhr der Mann wütend fort. »Ich kann Ihnen also sogar Kaffee anbieten. Auf Ihrem Rückweg könnten Sie meine Frau mitnehmen und beim Waschsalon absetzen. Das macht Ihnen doch nichts aus, oder? Ach ja, und vergessen Sie das Gastgeschenk nicht. Wir bevorzugen dicke Wolldecken. Denn wenn die Sanierungsarbeiten nicht bald anfangen, verbringen wir Weihnachten noch in der Pappschachtel. Aber Ihnen ist das ja egal. Sie interessieren sich nicht für das Schicksal der Leute. Ihnen wäre es doch am liebsten, meine Familie und ich wären bei dem Brand ums Leben gekommen. Dann würde jetzt niemand Ansprüche stellen!« Knack. Die Verbindung brach ab.

Beate ließ langsam die Hand mit dem Hörer sinken und legte auf. Laura sah zu ihr herüber. »Wau. Der war laut. Aber nur nicht einschüchtern lassen.«

Beate klopfte unzufrieden mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch. »Also, eines müssen Sie mir erklären, Laura: Warum regt sich ein Mann derartig auf, wenn er weiß, dass das Gutachten ihn entlarven wird?«

»Das kann Show sein.«

»Kann. Ja. Aber für mich klang das echt.« Beate hielt mit dem Geklapper inne. Sie stand auf und klopfte an Cornelias Tür.

»Haben Sie einen Moment Zeit?« fragte Beate, während sie die Tür hinter sich schloss.

Cornelia schaute erstaunt auf. »Was gibt es denn?«

»Ich habe gerade mit Herrn Herzberg gesprochen.« Beate gab in kurzen Worten das Gespräch wieder. »Könnte man die Angelegenheit nicht etwas beschleunigen? Das läge doch im beiderseitigen Interesse.«

Cornelia lächelte nachsichtig. »Sie müssen lernen, sich nicht von jeder Räuberpistole ins Bockshorn jagen zu lassen.«

»Ich glaube nicht, dass Herzberg geschauspielert hat.«

Cornelia nahm ihre Tasche, ohne weiter auf Beate einzugehen. »Ich muss los. Wo ist denn . . .?« Cornelia schaute sich suchend auf ihrem Schreibtisch um. »Ach hier.« Sie nahm einen der Ordner hoch und zog einen Hefter darunter hervor, den sie in ihre Tasche packte. Sie ging zur Tür. Beate stand immer noch vor dem Schreibtisch. »Wollen Sie dort festwachsen?« fragte Cornelia amüsiert.

Beate schüttelte irritiert den Kopf, folgte Cornelia aus dem Zimmer. Die ging ohne ein weiteres Wort durch die nächste Tür und war verschwunden. Beate setzte sich, innerlich brodelnd, an den Schreibtisch. Genau diese arrogante, selbstgerechte Haltung Cornelias hatte Beate schon beim Vorstellungsgespräch ruckzuck auf die Palme gebracht. Und nun fasste Cornelia schon wieder vorschnell ein Urteil ab. Las nur den Bericht, und die Sache war klar. Deshalb spielte es in ihren Augen auch keine Rolle, dass die Erstellung des Gutachtens länger dauerte. Sie zog gar nicht in Erwägung, dass Herzberg Anspruch auf die Versicherungssumme hatte. Was, wenn sie sich irrte? Für Cornelia war das natürlich keine Überlegung, die sie auch nur in Betrachtung zog. Unfehlbar, wie sie sich nun mal fühlte.

Beate konnte die Wut des Mannes gut verstehen. Und diese Wut war berechtigt! Davon war Beate überzeugt.

Deshalb fuhr sie nach Feierabend zu dem Campingplatz, auf dem zufolge der Unterlagen die Herzbergs wohnten. Sie wusste nicht so recht, was genau sie hierher trieb. War es ein plötzlich aufkommendes Solidaritätsgefühl für einen »Leidensgenossen« oder wollte sie Cornelia etwas beweisen? Beate fragte einen vorbeikommenden Mann nach dem Wohnwagen der Herzbergs.

Der wies auf einen der Wege. »Die Nussschale ganz am Ende.«

Beate ging den bezeichneten Weg entlang. Der Mann hatte nicht übertrieben. Der Wohnwagen war winzig und hatte auch kein Vorzelt, wie die anderen in der Reihe. Der zugehörige Vorplatz war nur ein trostloses Stück Sand. Ein Mann stand auf einer Leiter, die am Wagen lehnte, und spachtelte schadhafte Stellen des Daches aus.

»Sind Sie Herr Herzberg?« sprach Beate ihn an.

Der Mann drehte sich um. »Ja. Warum wollen Sie das wissen?«

»Mein Name ist Thiele. Wir haben heute vormittag miteinander telefoniert.«

Herzberg erinnerte sich nicht. »Haben wir?« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Mertens Versicherungen«, erinnerte Beate ihn.

Herzberg hielt inne. Dann kam er die Leiter herunter. Er ging auf Beate zu und schaute sie eindringlich an. »Na, Sie trauen sich was«, brummte er. »Was wollen Sie?«

»Ich . . . wollte mir ansehen, wie Sie hier wohnen.«

»Warum?«

»Um mir Argumente zu verschaffen?« Beate schaute sich unsicher um. »Dies ist kein offizieller Besuch.«

»Sagen Sie nicht, Sie wollen sich für uns einsetzen.« Deutliche Skepsis schlug Beate entgegen.

»Ich kann es zumindest versuchen.«

»Ist das Ihr Ernst?« Herzbergs Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Oder nur ’n Trick?«

»Es ist kein Trick«, versicherte Beate.

»Sie arbeiten doch für die Versicherung?« Herzberg fiel es sichtlich schwer, sich einen Reim auf das alles zu machen.

»Seit ein paar Tagen. Nennen Sie mich eine Idealistin, aber ich halte Sie nicht für Brandstifter.«

Herzberg schüttelte den Kopf. »Wenn es so ist . . . bekommen Sie wirklich einen Kaffee. Kommen Sie rein.« Er wies auf die Tür des Wohnwagens. Beate zog den Kopf ein, während sie die zwei Stufen der kleinen Treppe hochstieg. Innen erwartete sie ein Schock. Die Enge allein war schon beklemmend. Hinzu kamen von Feuchte stellenweise aufgequollene Wände und muffige Luft. Auf einer Bank, eingezwängt zwischen einem Tisch, der die Bezeichnung kaum verdiente, und der Wand, saß Herzbergs Frau und fütterte das Baby. Sie blickte Beate erstaunt an.

»Setzen Sie sich«, forderte Herzberg sie auf. Beate schob sich auf die andere Sitzbank, gegenüber der Frau und dem Baby. Herzberg nahm eine Tasse aus einem kleinen Fach, goss Beate aus der Thermoskanne auf dem Tisch Kaffee ein und setzte sich auf das Bett.

»Wir können lüften, wie wir wollen. Die Feuchtigkeit bekommen wir nicht raus. Alle unsere Sachen in den Schränken sind klamm.«

»Wie lange wohnen Sie denn schon hier?«

»Drei Wochen. Der Wagen gehört uns nicht. Freunde haben ihn uns zur Verfügung gestellt. Es war die einzige Unterkunft, die wir so schnell finden konnten. Wir wollten nicht zu meinen Eltern. Die haben nur eine kleine Wohnung von fünfzig Quadratmetern. Für vier Erwachsene und ein Baby viel zu eng. Außerdem können sie nicht besonders gut mit meiner Frau. Und für ein Hotel haben wir nicht genug Geld. Wir haben ja alles ins Haus gesteckt.«

»Aber das hier?« Beate schüttelte den Kopf. »Gibt es denn wirklich nichts anderes?« Dagegen war ja ihre Wohnung noch ein Luxusappartement! »Ich meine, die Sanierungsarbeiten werden ja auch nicht über Nacht fertig.«

»Deshalb wäre es ja gut, wenn sie wenigstens bald beginnen würden«, meinte Herzberg. Er setzte seine Frau über die Umstände von Beates Besuch ins Licht.

»Meinen Sie, Sie können uns helfen?« Herzbergs Frau schaute Beate fragend an. »Warum wollen Sie das überhaupt tun?«

»Das ist schwer zu erklären.« Eigentlich gar nicht. Beate lächelte. »Ich kann auch wirklich nichts versprechen. Außer, dass ich mein Möglichstes tun werde. Ich spreche Ihr Problem jedenfalls gleich morgen früh noch einmal an.« Beate kam eine Idee. »Warum geben Sie nicht wenigstens das Baby zu Ihren Eltern?« fragte sie Herzberg.

Er und seine Frau sahen sich an. »Daran haben wir noch gar nicht gedacht«, gaben sie zu.

»Würden die es denn nehmen?« fragte Beate.

»Ich glaube schon«, nickte Herzberg. »Sie mögen zwar meine Frau nicht, aber das Baby lieben sie.«

Beate stand auf. Automatisch duckte sie sich, weil sie dem Eindruck erlag, sie würde sonst mit dem Kopf an die Decke stoßen. Herzberg stand ebenfalls auf, reichte Beate die Hand. »Sie sind uns jederzeit willkommen. Auch wenn wir nicht viel anbieten können.«

»Das wird sich hoffentlich bald ändern, Herr Herzberg. Und wenn sie erst wieder in Ihrem Haus wohnen, dann lachen Sie und Ihre Frau über diese ganze Geschichte.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr.«

»Ich würde gern noch einmal über die Herzberggeschichte mit Ihnen reden«, überfiel Beate Cornelia am nächsten Tag, sobald die das Vorzimmer betrat.

Cornelia runzelte die Stirn. »Ich dachte, das Thema wäre erledigt.«

Beate sprang ins kalte Wasser. »Ich war gestern abend bei der Familie. Ich glaube, Sie schätzen den Fall falsch ein«, sagte sie ohne weitere Überlegung.

Cornelias eisiger Blick ließ sie sofort verstummen. Augenblicklich erinnerte Beate sich an Cornelias Worte beim Einstellungsgespräch, die unmissverständlich klar gemacht hatten, dass sie sich in nichts hineinreden ließ.

Beate schluckte. Etwas Diplomatie wäre wohl angebracht gewesen. Aber nun war es sowieso zu spät, also konnte sie ebensogut weitersprechen. »Sie könnten doch dem Gutachter einmal auf die Füße treten. Er würde den Fall vorziehen, wenn Sie es dringlich machen«, schlug sie, diesmal allerdings eher zaghaft, vor.

Laura schaute Beate entgeistert an. Was tat sie da?

»Grasnick macht seine Arbeit so schnell und gut er kann«, erwiderte Cornelia kühl und ging weiter.

»Im Rahmen der normalen Abfolge!« rief Beate hinter ihr her.

Cornelia, die schon an ihrer Bürotür angelangt war, kam zurück und stellte sich vor Beate hin. »Was wollen Sie?«

Beate senkte den Blick. »Entschuldigen Sie. Aber es ist wirklich nicht zumutbar, wie die da draußen leben.«

»Daran kann ich nichts ändern. So oder so. Ich kann mich nicht um jeden Fall persönlich kümmern. Wenn ich das tue, bin ich bald nur noch damit beschäftigt. Herzberg muss warten.«

»Leicht gesagt, wenn man lebt wie Sie.«

»Wie bitte?« fragte Cornelia scharf.

Ein schneller Blick traf Laura. Die zuckte ratlos die Schultern.

»Frau Thiele . . .« Cornelia sah wieder Beate an. »Kommen Sie bitte mit in mein Zimmer.« Sie drehte sich abrupt um. Beate folgte. »Schließen Sie bitte die Tür«, sagte Cornelia, während sie an ihrem Schreibtisch Platz nahm.

Beate tat es und stand nun abwartend da. Sie war sich im klaren, dass die folgenden Minuten alles andere als angenehm werden würden.

Cornelia schaltete ihren Computer an und beobachtete den Bildschirm, gerade so, als wären die Informationen des Setupprogramms spannende Nachrichten.

Beate wurde zunehmend nervöser. Warum eigentlich? fragte sie sich. Du hast nichts Falsches gesagt und dir demzufolge nichts vorzuwerfen. War es nicht so, dass Cornelia, wenn sie nur wollte, Herzbergs Anliegen forcieren und dessen Familie helfen konnte? Stimmte es etwa nicht, dass sie es nur deshalb nicht tat, weil sie nicht nachempfinden konnte, wie sich andere in ihrem Unglück fühlten? Was die Leute zuallerletzt brauchten, war eine Versicherung, die ihnen Steine in den Weg legte. Beate richtete sich innerlich auf. Sie würde sich hier nicht niederbügeln lassen!

»Wollen Sie mir erklären, was das gerade eben war?« fragte Cornelia endlich.

»Ich . . . ich wollte Sie nicht belehren oder so«, stotterte Beate wieder besseren Vorhabens. »Ich dachte nur, wenn Sie . . . es wäre doch nur ein Anruf!« Prima Beate! Jetzt hast du es ihr richtig gegeben, verspottete sie sich selbst.

Cornelia musterte Beate eingehend. »Sie verstehen nicht, worum es geht, nicht wahr?«

»Sagen Sie es mir!«

Cornelia stand auf, kam um den Schreibtisch herum und lehnte sich an die Tischkante. »Es geht um Grundsätze. Grundsätze bilden die Basis für ein erfolgreiches Geschäft. Ich weiß, das klingt nüchtern, um nicht zu sagen herzlos. Aber das ist leider nicht zu ändern.«

Beate konnte dem Argument nicht folgen. »Es würde Sie nichts kosten, den Gutachter anzurufen. Was würden Sie verlieren?«

»Es kostet mich Zeit«, hielt Cornelia entgegen. »Aber Sie haben recht, das wäre das wenigste. Das eigentliche Problem ist: Mache ich meinen Einfluss zu oft geltend, verliert meine Stimme an Gewicht in wirklich wichtigen Fällen.«

»Und wonach legen Sie fest, was wichtig ist und was unwichtig?« wollte Beate wissen.

»Glauben Sie mir, wenn ich sage, ich kann das beurteilen.« Weiter ging Cornelia nicht auf Beates Frage ein. »Im übrigen bin ich es nicht gewohnt, Entscheidungen mit meiner Assistentin zu diskutieren. Und ich gedenke auch nicht, es zur Gewohnheit werden zu lassen.« Damit war für Cornelia das Gespräch beendet.

Laura empfing Beate mit fragendem Blick, als sie wieder aus Cornelia Mertens’ Büro herauskam. »Und?«

Beate stieß verärgert die Luft aus. »Sie hatten recht. Cornelia Mertens kennt keine Gefühle. Nur Prinzipien!«

»Daran gewöhnen Sie sich schon«, meinte Laura. »Und wenn ich Ihnen etwas raten darf: Verkneifen Sie sich in Zukunft alle Ratschläge. Sonst sind Sie bald diejenige, die eine neue Assistentin einarbeitet. Allerdings unfreiwillig.« Laura stand auf und nahm einen Ordner aus dem Regal. »Ich muss ein paar Seiten kopieren. Bin gleich wieder da.«

Beate ließ sich in ihren Stuhl fallen. »Grundsätze. So ein Blödsinn«, brubbelte sie vor sich hin. Sie schaute missmutig auf die Tür, hinter der Cornelia saß. Unschlüssig starrte Beate aufs Telefon. Nun ruf Herzberg schon an! Du kannst ja nichts an der Sache ändern.

Beate wählte seufzend die Nummer. Als das Freizeichen zum ersten Mal ertönte, legte sie schnell wieder auf. Konnte sie nicht? Konnte sie doch!

Cornelia Mertens beendete ihr Diktat, das aus einer langen Liste Anweisungen und einer Flut von Kommentaren bestand. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen dazu?« Sie schaute Beate an.

»Keine. Jedenfalls nicht zu dem Besprochenen.«

»Sondern?«

Beate zögerte. Die Zurechtweisung von heute morgen reichte ihr eigentlich. Sie wollte sich nicht gleich wieder einen Rüffel einhandeln.

»Keine Angst. Ich reiße Ihnen schon nicht den Kopf ab«, ermunterte Cornelia sie.

»Eines verstehe ich nicht«, meinte Beate. »Warum so umständlich?«

»Was meinen Sie?«

»Diese zeitraubenden Diktate. Es wäre doch einfacher, Sie mailen mir, was Sie brauchen.«

»Einfacher schon. Aber, das wird Sie jetzt überraschen, in diesem Fall geht es mir tatsächlich um das persönliche Gespräch.«

»Das überrascht mich allerdings«, musste Beate zugeben.

Cornelia hatte bisher nicht den Eindruck gemacht, als ob sie Wert auf Beates Meinung legte.

Cornelia grinste, denn sie erriet Beates Gedanken. »Das Schlüsselwort ist Erfahrung. Oder besser Erfahrungsaustausch. In einer Mail bekämen Sie nur die Fakten der Fälle mit, aber kein Gespür für die Besonderheiten, die Unterschiede. Doch genau das brauchen Sie, wenn Sie mir später Recherchen und andere Aufgaben abnehmen sollen. Und dann werde ich Sie gelegentlich auch nach Ihrer Meinung fragen. Allerdings –« Cornelia machte eine Pause, in der sie Beate nachdenklich betrachtete. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir jemals an diesen Punkt gelangen werden.«

»Weswegen?«

»Wissen Sie, wer mich vor einer Stunde angerufen hat?«

»Wer?«

»Herr Grasnick.« Cornelias Augen fixierten Beate. Ihrer Stimme war nicht die Spur einer Erregung anzumerken, als sie weitersprach. »Und raten Sie mal, was er gesagt hat.«

Beate biss sich auf die Lippen. Sie ahnte, was kommen würde.

»Das Gutachten sei fertig. Nachdem es doch so wichtig war, wie ihm meine Assistentin versicherte, hat er sich gleich darangesetzt.«

Schweigen. So beherrscht, wie Cornelias Stimme klang, ihre Augen sandten eine klare Botschaft: Ärger. »Sagen Sie mir, dass das ein schlechter Scherz von Laura war. Sie kann es sich leisten. Sagen Sie mir, dass nicht Sie es waren. Sie, die mir noch vor wenigen Tagen versicherte, dass ich mich voll und ganz auf Sie verlassen kann.«

Beate senkte betreten den Blick. Dass die Sache so schnell auffliegen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Der Triumph, den sie verspürt hatte, als sie Grasnick anrief, das gute Gefühl, weil sie Herzbergs Familie half, all das löste sich gerade in Nichts auf. Doch damit nicht genug. Es machte der Erkenntnis Platz, dass Cornelia Mertens zu recht wütend auf sie war.

»Es war nicht Laura«, gestand sie. »Ich habe Grasnick angerufen, als Laura nicht im Zimmer war.«

Beate sah die Enttäuschung in Cornelias Augen, während sie den Kopf schüttelte.

»Es tut mir leid«, sagte Beate. »Ich habe in dem Moment nur daran gedacht, wie es den Leuten geht. Und da habe ich –« Sie brach ab. »Ich dachte ja nicht, dass es rauskommt«, fügte sie schließlich kläglich hinzu. »Ich dachte, Grasnick schickt einfach das verdammte Gutachten und fertig.«

Cornelia seufzte. »Wenigstens sind Sie ehrlich.« Sie machte eine Pause. »Was soll ich jetzt mit Ihnen machen? Ich kann solche Eigenmächtigkeiten nicht tolerieren.«

Beate fühlte Cornelias Blick auf sich ruhen. Sie konnte den Ausdruck jedoch nicht deuten. Absolute Stille lag im Raum.

Schließlich senkte Cornelia abrupt den Kopf und schaute in die vor ihr liegenden Unterlagen. »Sie können gehen«, sagte sie leise. »Erinnern Sie Laura an den Monatsbericht. Ich brauche ihn morgen mittag.«

Beate traute sich nicht einmal aufzuatmen. Eilig verließ sie Cornelias Büro.