10. Kapitel

Die Tür wurde unsacht aufgestoßen und fiel krachend wieder zu. Anke baute sich bedrohlich vor Beates Schreibtisch auf. »Das hast du ja prima hinbekommen! Deine Chefin gegen mich aufzuhetzen, das ist ja wohl wirklich das Letzte!« Ihre Stimme kippte über vor unterdrückter Wut. »Danke, dass ich deinetwegen meinen Job losgeworden bin!«

Beate saß wie versteinert da und starrte Anke an. Wie befürchtet machte die sie für alles verantwortlich. Dafür kam sie sogar extra aus Hamburg nach Berlin!

»Hast du dich jetzt an mir gerächt, ja?« giftete Anke weiter. »Das denkst du vielleicht, meine Liebe, aber da täuschst du dich gewaltig. Ich bin noch nicht am Ende. Und was du kannst, kann ich schon lange. Warte nur ab.«

»Sie vergessen dabei vielleicht, dass Sie es waren, die den Prüfbericht gefälscht hat.« Cornelia war bei dem Krach im Vorzimmer eilig aufgesprungen, um nach dem Rechten zu sehen. Als sie die Situation erfasste, griff sie sofort ein.

Anke blickte sich zu ihr um. »Halten Sie sich da raus. Das hier geht Sie nichts an.«

Cornelia blieb völlig gelassen. »Da staune ich aber. Sie befinden sich in meinen Räumen, bedrohen meine Assistentin, und das geht mich nichts an? Ich denke, Sie verlassen dieses Büro umgehend.«

»Und ich denke, Sie können mich mal!«

Cornelias Augen wurden schmal. Ein deutliches Anzeichen für Ärger. »Ihr Ton gefällt mir nicht.«

»Das bricht mir aber das Herz«, erwiderte Anke ätzend und wandte sich wieder Beate zu. »Du kleines Biest, wenn ich mit dir fertig bin, bist du fertig. Das schwöre ich dir«, zischte sie.

Cornelia platzte der Kragen. Mit zwei Schritten war sie neben Anke und schob sie zur Seite. »Jetzt ist es genug! Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei.«

Anke ging, wie sie gekommen war, mit lautem Türknallen.

Beate saß nach wie vor regungslos hinter ihrem Schreibtisch.

Cornelia schaute sie besorgt an. »Sind Sie in Ordnung?« Beate fühlte Cornelias Hand auf ihrem Arm, sah in deren beruhigende Augen. »Sie kann Ihnen nichts tun.«

Beate fand endlich ihre Sprache wieder. »Da bin ich mir nicht so sicher. Sie wird herausfinden, wo ich wohne, und mich terrorisieren. So war es auch das letzte Mal.«

»Dann werden wir etwas dagegen unternehmen.«

»Ja, ich werde in eine andere Stadt ziehen.«

»Da habe ich ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden!« protestierte Cornelia.

»Ach ja? Inwiefern?«

Darauf wusste Cornelia keine Antwort. Nur dass sie Beate nicht wegen dieser hysterischen Furie verlieren wollte, das wusste sie. Du meinst, du willst deine Assistentin nicht verlieren! korrigierte sie sich selbst. Die Assistentin, die es mit dir aushält, die ihre Arbeit zuverlässig und schnell erledigt, mit der du dich mittlerweile durch einen Blick verständigen kannst. »Keine Angst«, sagte Cornelia beruhigend. »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

Die nächsten Tage bewiesen jedoch das Gegenteil, genau wie Beate befürchtet hatte. Anke fand ihre Adresse und Telefonnummer heraus und begann sie mit Anrufen zu schikanieren. Die Nachbarn begannen Beate schief anzusehen, weil, wie sie herausfand, Anke sie mit unmöglichen Geschichten über Beate versorgte. Ihre Post verschwand aus dem Briefkasten. Die Wohnungstür wurde mit Ausdrücken vollgesprayt. Typen pöbelten Beate auf der Straße an.

Cornelia entging nicht, dass Beates Nervenkostüm zunehmend dünner wurde. Doch alle Vorschläge, die sie machte, um Beate zu helfen, lehnte die ab.

Cornelia machte sich große Vorwürfe. »Hätte ich gewusst, dass mein Anruf bei COMIMPEX solche Auswirkungen hat, hätte ich darauf verzichtet. Es wäre leicht gewesen, die Sache diplomatisch zu erklären. Also lassen Sie mich jetzt wenigstens helfen!« Zum x-ten Mal redete sie auf Beate ein. »Wir mieten Ihnen eine andere Wohnung. Die Sie jetzt haben, ist sowieso zu klein.«

»Das bringt nichts. Anke wird auch die neue Adresse herausfinden. Sie braucht mir ja nur von der Arbeit nach Hause zu folgen.«

»Clemens wird Sie in meinem Wagen nach Hause fahren. Anke kann nicht wissen, dass Sie darin sitzen.«

»Früher oder später findet sie es heraus.«

»Dann . . . dann ziehen Sie zu mir.«

Beate setzte sofort zum Protest an.

»Lassen Sie mich ausreden!« sagte Cornelia. »Mein Haus ist groß genug. Sie können die obere Etage bewohnen. Alles ist völlig separat. Eigene Zimmer, eigenes Bad. Nur keine Küche. Aber Sie sagten ja, was Anna kocht, schmeckt Ihnen sowieso besser als alles andere. Kein Telefonanschluss, keine unmittelbaren Nachbarn, keine herumlungernden Halbstarken. In ein paar Tagen, wenn Anke begriffen hat, dass Sie Ihrer nicht mehr habhaft werden kann, löst sich der ganze Spuk in Wohlgefallen auf.«

Beate seufzte. Das hörte sich himmlisch an. Aber sie konnte das Angebot auf keinen Fall annehmen. »Nein«, lehnte sie ab.

»Wieso?«

»Na, überlegen Sie doch mal! Wie sieht denn das aus, wenn ich bei Ihnen wohne?«

Cornelia stutzte. »Ach so, das meinen Sie.«

»Ja, das meine ich. Und was wird Frau Wagner dazu sagen?«

»Was soll sie schon sagen? Sie denkt sowieso . . . ähm, ich meine, sie kann damit umgehen. Sie wissen doch, dass meine Beziehung mit ihr nicht von der Art ist, was man langläufig als feste Partnerschaft bezeichnet. Wir haben ein Arrangement. Das ist alles. Wir überspringen eben eine Woche.«

Beate gluckste. Trotz des ernsten Hintergrundes ihrer Diskussion fand sie es irgendwie witzig, wie Cornelia sich das alles vorstellte. Und Beate war sich sicher, Cornelia meinte es so, wie sie sagte.

»Vergessen Sie es«, lautete Beates Antwort.

Eine Woche später saßen sie gemeinsam beim Abendessen. Beate hatte Cornelias Angebot auf Dauer nicht ausschlagen können. Nicht nur wegen Ankes fortgesetzter Attacken, auch wegen Cornelias anhaltendem Drängen. »Sie nerven ja noch schlimmer als Anke«, ergab sie sich schließlich ihrem Schicksal.

So fuhr Clemens sie beide am Abend in Beates Wohnung. Beate packte zwei Taschen, und man kam noch pünktlich zum Essen. Anna hörte sich Cornelias Erklärung an, warum Beate die nächsten Tage im Haus wohnen würde, sah von einer zur anderen, ging in die Küche und holte ein zweites Gedeck.

Cornelia war sehr zufrieden mit sich. Sie spießte ein Stück Schweinelende auf ihre Gabel, tauchte es in die leckere Pilzsahnesoße und führte das Ganze genüsslich zum Mund. »Nachher zeige ich Ihnen Ihre Zimmer. Wenn Sie irgend etwas brauchen, wenden Sie sich an Anna. Sie wird sich darum kümmern.«

»Das finde ich irgendwie nicht richtig.«

»Nun fangen Sie nicht wieder so an. Sie sind jetzt hier und bleiben es. Wenigstens für die nächsten Tage.«

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, ich finde es nicht richtig, wenn ich Anna für mich in Anspruch nehme. Es ist mehr als genug, dass sie für mich mit kocht. Mehr möchte ich wirklich nicht. Und ich will gar nicht davon anfangen, dass Sie mir freie Kost und Logis bieten.«

In Cornelias Augen blitzte es kurz spöttisch auf. »Da bin ich aber froh, dass wir über dieses Stadium endlich hinaus sind. Sie sind selbstverständlich mein Gast. Nachdem Sie auch durch meine Schuld in diese Situation geraten sind.«

Nach dem Essen führte Cornelia Beate zu den oberen Zimmern. »Wohnzimmer mit Bibliothek, Schlafzimmer, Bad.« Sie öffnete nacheinander die Türen. »Fühlen Sie sich wie zu Hause.«

»Hier werde ich mich ohne Zweifel besser fühlen als zu Hause! Allein das Bad ist fast so groß wie meine ganze Wohnung«, entschlüpfte es Beate.

»Dann genießen Sie es. Wir sehen uns morgen zum Frühstück? Halb sieben.« Cornelia ging.

Beate schaute ihr nach und sich anschließend erst einmal zaghaft um. Gewöhn dich nur nicht zu sehr an den Luxus! warnte sie sich. In ein paar Tagen gehst du zurück in deine kleine Wohnung. Oder besser in eine andere, denn zurück in ihre jetzige Wohnung, nach all dem, was vorgefallen war, konnte sie wohl nicht. Na, wie dem auch sei. In jedem Fall würde ihre zukünftige Bleibe sehr viel bescheideneren Verhältnissen genügen müssen. Was ja nicht hieß, da gab sie Cornelia recht, dass sie diese hier nicht einfach genießen konnte. Beate entschloss sich, erst einmal ein ausgiebiges Bad zu nehmen.

»Bitte sagen Sie mir, dass einige der Gäste für den heutigen Abend kurzfristig abgesagt haben. Am besten alle«, empfing Cornelia Beate am Morgen zum Frühstück.

Beate blickte Cornelia fragend an. »Nein, wieso? Ich habe die Einladungen vor zwei Wochen rausgeschickt, und es kam nur eine Absage. Aber das habe ich Ihnen gesagt. Das heißt, es bleibt bei zwölf Personen.«

Cornelia stöhnte. »Ich bin erledigt. Meine wichtigsten Geschäftskunden kommen, nicht zuletzt in Erwartung eines delikaten Essens, zu mir nach Hause, und ich werde für alle Pizza bestellen müssen.«

»Ist Anna krank?« fragte Beate.

»Nein, aber ihre Nichte. Sie sollte in der Küche helfen. Allein kann Anna das nicht schaffen.«

»Ich rufe nachher sofort beim Personalservice an«, sagte Beate. »Vielleicht bekommen wir dort kurzfristig einen Ersatz.«

»Ja, tun Sie das.«

Als Cornelia von ihrer morgendlichen Besprechung zurück ins Büro kam, musste Beate diese Hoffnung jedoch zerschlagen. »Tut mir leid. Ich habe bei allen Leihfirmen angerufen, die im Branchenbuch zu finden waren. Nichts zu machen. Zu kurzfristig.«

»Ich habe es befürchtet«, seufzte Cornelia. »Jetzt ist guter Rat teuer. Ich habe den ganzen Tag voll mit Terminen. Sonst, das schwöre ich Ihnen, würde ich mir selbst die Küchenschürze umbinden.« Cornelia neigte leicht den Kopf, schaute Beate nachdenklich an und begann zu lächeln. »Können Sie eigentlich Kartoffeln schälen?«

»Natürlich kann ich . . .« Beate stockte.

Cornelia legte eine schuldbewusste Mine auf. »Ich weiß, das sieht jetzt so aus, als würde ich eine Gegenleistung dafür verlangen, dass Sie bei mir wohnen. Ich versichere Ihnen, dem ist nicht so. Sie können ablehnen. Aber wenn Sie Anna helfen könnten? Beate, bitte, ich bin verzweifelt!!!«

»Sie wissen genau, dass ich nicht ablehnen kann«, sagte Beate. »Ich muss ja geradezu dankbar sein, dass ich eine Gelegenheit bekomme, mich zu revanchieren.«

Cornelia grinste. »Manchmal sind Ihre komischen Ansichten direkt zu was nütze.«

Gegen vierzehn Uhr fuhr Clemens Beate nach »Hause«, wo sie von Anna erwartet wurde. Ohne viel Zeit zu verlieren, wies Anna Beate in die Arbeit ein.

Als Cornelia um halb sieben nach Hause kam und kurz in die Küche schaute, waren die beiden voll im Schwung. Anna klapperte mit den Topfdeckeln. Beate war gerade dabei, das frisch gespülte Service, das lange Zeit unbenutzt im Schrank gestanden hatte, aus dem Geschirrspüler zu nehmen. »Die Gäste kommen in einer Stunde«, erinnerte Cornelia.

»Als wenn ich das nicht wüsste«, erwiderte Anna nur.

Cornelia ging duschen und zog sich für den Abend um.

Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, deckte Beate gerade den Tisch ein. Beate schaute auf – und starrte Cornelia fasziniert an. Nicht dass Cornelia sonst unattraktiv aussah, im Gegenteil. Aber gegen das Abendkleid, das sie jetzt trug, verblasste alles, was Beate bisher an ihr gesehen hatte. Zwangsweise wurde sich Beate ihres eigenen, eher desolaten Äußeren bewusst. Eine in der Küchenhitze verschwitzte und zudem von Fettspritzern dekorierte Seidenbluse, samt zerknitterter Hose.

Cornelia lächelte über das unübersehbare Kompliment in Beates Augen.

Verlegen schaute Beate zur Seite.

Die Gäste kamen kurz darauf, und Anna begann die Vorspeise zu servieren. Währenddessen räumte Beate die Küche auf. Es folgten der Hauptgang, Dessert und Kaffee. Anna servierte, Beate entfernte die Reste des jeweiligen Ganges und spülte. Der Geschirrspüler konnte die Mengen nicht bewältigen.

Es war zweiundzwanzig Uhr, als Anna und sie endlich verschnaufen konnten. Sie tranken Kaffee.

»Na?« fragte Anna. »Das haben Sie wohl nicht erwartet?«

Beate stöhnte. »Sie sagte etwas von Kartoffeln schälen. Und ich dachte mir wohl auch, dass es noch etwas mehr zu tun gibt. Aber dieser Marathon . . .« Beate dehnte ihren schmerzenden Rücken. Die Füße hatte sie bereits auf einen Stuhl hochgelegt. »Ich bin halb tot. Ich habe nur noch einen Wunsch: schlafen.«

»Gehen Sie ruhig hoch, den Rest schaffe ich schon allein«, sagte Anna.

»Nein. Das wäre unfair Ihnen gegenüber.«

»Jetzt sind nur noch ein paar Gläser abzuräumen. Die stelle ich morgen in den Geschirrspüler. Sie brauchen sich deshalb keine Gedanken zu machen.«

»Also dann«, Beate stand auf und reckte sich erneut, »verlasse ich das Schlachtfeld. Gute Nacht, Anna.«

»Gute Nacht.«

Beate ging durch die Eingangshalle. Die Stimmen der Gäste drangen nur gedämpft hierher. Gerade als Beate die Treppe hochgehen wollte, hörte sie hinter sich Cornelia ihren Namen rufen.

Beate drehte sich um. Cornelia kam zu ihr. Immer noch die eindrucksvolle Erscheinung im Abendkleid.

Beate fühlte sich bei Cornelias Anblick doppelt zerschlagen. »Wie machen Sie es eigentlich, nach einem Vierzehn-Stunden-Tag immer noch so gut auszusehen?« entfuhr es ihr.

Cornelia schaute Beate eindringlich an. »Der Verdienst gebührt nicht mir allein. Wissen Sie nicht? Alle starken Frauen und Männer in Wirtschaft und Politik verdanken ihren Erfolg ihrer Sekretärin oder Ehefrau beziehungsweise beiden. Sie sind meine Frau im Hintergrund.« Cornelia neigte ihren Kopf und streifte Beates Wange mit einem flüchtigen Kuss. »Danke«, flüsterte sie.

Beate errötete leicht. »Dann gebührt der Dank heute aber eher Anna als mir.«

»Ja, aber Anna möchte ich nicht küssen«, sagte Cornelia ernst. »Nicht so.«

»Was meinen Sie mit . . .?« Weiter kam Beate nicht. Cornelias Lippen verschlossen ihr sanft den Mund. Nicht sehr lange. Nur zwei oder drei Sekunden dauerte die Berührung. Und nur kurz streiften Cornelias Finger Beates Nacken. Dann löste sie sich wieder.

Beate stand völlig verwirrt da. »Das . . . das war nicht nötig«, stotterte sie.

»Nein. Aber ich wollte es trotzdem tun.« Cornelias Augen durchdrangen Beate für einen kurzen Moment.

»Gute Nacht«, sagte Beate hastig und wandte sich der Treppe zu, stolperte jedoch, als sie die erste Stufe nehmen wollte. Cornelia reagierte blitzschnell und verhinderte einen Sturz. Beate murmelte ein verlegenes »Danke« und bemühte sich, so gelassen zu erscheinen wie nur möglich, als sie die Treppe hochstieg. Was nicht so leicht war mit dem Gedanken an Cornelias Augen im Rücken.

Irgendwie gelang es Beate, auch die letzten Meter bis zu ihrem Zimmer nicht zu rennen, sondern normal zu gehen. Sie atmete erleichtert auf, als sie die Tür hinter sich schloss, und versuchte das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bekommen. Doch erst als sie endlich im Bett lag, gelang ihr das einigermaßen. An den nächsten Tag wagte Beate nicht zu denken. Sie wollte nicht darüber spekulieren, ob Cornelias Blicke sie spöttisch oder ärgerlich streifen würden. Das war völlig unwichtig, denn sie würde sich so oder so hundsmiserabel fühlen. Weil sie mit ihrer kindischen Reaktion dem Kuss eine Bedeutung gegeben hatte, die ihm überhaupt nicht zukam. Cornelia war nur der Laune eines Augenblicks gefolgt. Du, Beate, hast daraus ein Problem gemacht!