6. Kapitel

Beate hielt sich an das vorgeschlagene Rezept. Zwei Wochen lag es jetzt zurück, dass sie und Cornelia so aneinandergeraten waren.

Und, zumindest aus Beates Sicht, mittlerweile lief alles ganz gut. Sie begleitete Cornelia zu ihren Terminen, wann immer die es wünschte. Schon nach kurzer Zeit filterte Beate, ohne dass es noch eines helfenden Wortes von Cornelia bedurfte, aus der Flut der Informationen die Daten heraus, die für die Versicherung relevant waren. In einigen Fällen stellte Beate auf Anweisung Cornelias zusätzliche Recherchen an. Aus all dem entstanden die Zuarbeiten.

Beate vermied konsequent jede persönliche Bemerkung. Sie hatte ihre Lektion gelernt! Allerdings, hin und wieder geriet sie dennoch mit Cornelia aneinander. Doch das bezog sich immer auf die Arbeit. Eben saßen sie noch friedlich zusammen, besprachen eine Sache, plötzlich gab eine Bemerkung den Anstoß, und sie bekamen sich in die Wolle. Es schien fast so, als brauchten sie einmal pro Woche eine richtige Auseinandersetzung. Dann krachte es ordentlich im Karton. Doch der Rauch verzog sich ebenso schnell, wie er gekommen war.

»Guten Morgen, Frau Thiele«, grüßte Cornelia wie jeden Tag beim Betreten des Büros.

»Guten Morgen, Frau Mertens«, erwiderte Beate. »Alles Gute zum Geburtstag.«

Cornelia blieb kurz stehen. »Danke.«

Beate glaubte ein flüchtiges Lächeln zu erkennen. Oder war es nur Einbildung?

»Gibt es irgend etwas Besonderes?« fragte Cornelia geschäftsmäßig.

»Nein.« Beate schüttelte den Kopf.

»Gut.« Cornelia ging zu ihrem Zimmer. Verwundert blieb sie in der Tür stehen, als sie den Strauß Blumen auf ihrem Schreibtisch sah. Er war nicht sehr groß, ganz einfach gehalten. Also nicht von Ramona. Cornelia blickte zurück über ihre Schulter, durch die noch offene Tür, zu Beate. Die sah konzentriert auf den Bildschirm ihres Computers. Cornelia lächelte in sich hinein und zog langsam die Tür zu.

Der Strauß verbreitete seinen Duft im gesamten Zimmer. Cornelia ging zum Schreibtisch und betrachtete die Blumen. Typisch Beate Thiele. Immer für eine Überraschung gut. Bis eben war Cornelia noch der festen Überzeugung gewesen, dass ihre Assistentin sie nicht besonders mochte. Nicht, dass sie das irgendwie störte. Nein. Es spielte keine Rolle. Und nun die Blumen! Hatte sie sich, was Beate Thiele betraf, geirrt? Oder betrachtete die es als eine Art Pflichtübung, ihr diese Aufmerksamkeit zukommen zu lassen?

Das Telefon klingelte und unterbrach Cornelia in ihren Überlegungen. Auf dem Display konnte Cornelia sehen, dass der Anruf von Beate kam. »Ja, gibt es doch noch etwas?«

»Ja . . .« Kurzes Zögern. »Frau Wagner rief eben an. Sie . . . sie hat für heute abend abgesagt.« Beate schwieg betreten.

Als Ramona Wagner angerufen hatte, hatte sie sie zu Cornelia durchstellen wollen, weil sie davon ausging, dass Ramona Cornelia gratulieren wollte. Doch Ramona hatte offensichtlich ganz vergessen, dass heute Cornelias Geburtstag war. Beate hatte Ramona vorsichtig daran erinnert. Sie war dabei natürlich davon ausgegangen, dass Ramona Wagner ihre Absage daraufhin zurücknehmen würde. Doch nichts dergleichen.

Beate wartete auf Cornelias Antwort.

»Ist gut«, sagte Cornelia. »Ach, und – danke für die Blumen.«

»Keine Ursache.« Beate legte auf.

Kurz nach dem Mittag kam ein Bote, der ein kleines Päckchen von Ramona Wagner brachte. Beate nahm es in Empfang und brachte es Cornelia. Cornelia sah erstaunt von ihrem Schreibtisch auf. »Da schlug ihr wohl ein wenig das schlechte Gewissen«, meinte sie nur. In ihrem Gesicht bewegte sich kein Muskel. Es war nicht zu erkennen, ob Cornelia sich freute oder ärgerte. Oder ob sie wirklich nichts fühlte.

Beate ging hinaus.

Cornelia las die Karte.

Connie Schätzchen, alles Gute zum Geburtstag.
Wir feiern nach, ja?

Cornelia öffnete den kleinen Karton. Er enthielt ein teures Schreibset. Cornelia verzog nur kurz die Mundwinkel. Wie praktisch! dachte sie. Davon habe ich ja auch erst zwanzig oder dreißig.

Kurz vor Feierabend klopfte Beate an die Tür. »Noch eine schlechte Nachricht.« Sie zuckte bedauernd mit den Schultern. »Clemens fällt heute für die Heimfahrt aus. Seine Frau rief an, dass eines der Kinder beim Klettern vom Baum gefallen ist. Er musste mit dem Kind ins Krankenhaus fahren. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«

»Nein.«

»Sie fahren selbst?«

»Nein.«

Beate sah Cornelia verdattert an. »Nein?«

»Ich kann nicht Auto fahren«, erklärte Cornelia kurz angebunden.

»Oh.« Beate blickte etwas ratlos. »Ja, was dann?«

»Rufen Sie Anna an. Sie soll sich ein Taxi nehmen und herkommen. Sie kann mich fahren.«

Jetzt verstand Beate überhaupt nichts mehr. Was sollte das Ganze? Sie konnte sich nicht enthalten zu fragen: »Ist das nicht etwas umständlich?« Um sofort hinzuzusetzen: »Ich meine . . . ich könnte Sie ja fahren.« Cornelia sollte nicht denken, sie wollte sich in ihre Angelegenheiten einmischen.

Cornelia überlegte kurz. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht?«

»Aber nein«, versicherte Beate.

»Gut. Dann machen wir es so.«

Zehn vor sechs packte Beate zusammen, ging zum Wagen in die Tiefgarage und fuhr vor den Haupteingang, aus dem, pünktlich achtzehn Uhr, Cornelia Mertens trat und in den Wagen stieg. Die Fahrt verlief schweigend. Beate musste sich konzentrieren. Der Wagen lenkte sich ungewohnt. Dazu kam noch der Feierabendverkehr. Das beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit. Vor Cornelias Haus hielt Beate an. Cornelia bedankte sich und stieg aus. Beate fuhr den Wagen in die Garage. Sie schloss gerade das Tor, als sie plötzlich Cornelias Stimme hinter sich hörte. »Möchten Sie nicht mit hineinkommen? Anna hat sowieso für zwei gekocht.«

Beates Verblüffung stand ihr wohl ins Gesicht geschrieben, denn Cornelia fügte hinzu: »Sie kocht wirklich ausgezeichnet. Also, warum das gute Essen verkommen lassen?«

»Ja, . . . ja gern«, erwiderte Beate unsicher. Eigentlich hätte sie lieber abgelehnt. Doch sie wollte nicht riskieren, dass sich das Verhältnis zu Cornelia, das sich gerade einigermaßen normalisierte, durch irgendwelche Missverständnisse wieder anspannte.

»Fein.« Cornelia lächelte, wandte sich zum Haus und ging hinein. Dort empfing Anna sie. »Alles Gute zum Geburtstag, Frau Mertens!« Anna blickte sichtlich irritiert auf Beate.

»Danke, Anna.« Cornelia konnte sich denken, was Anna dachte. Sie hatte Ramona erwartet. Beate konnte sie nicht einordnen.

»Anna, das ist Frau Thiele. Lauras Nachfolgerin.«

»Oh.« Anna lächelte freundlich. »Guten Abend.«

»Clemens musste seine Tochter ins Krankenhaus bringen. Deshalb hat Frau Thiele mich gefahren«, erklärte Cornelia. »Sie isst mit mir zu Abend.«

Anna wollte etwas erwidern, doch Cornelia winkte ab. »Schon gut. Zwei Gedecke reichen. Frau Wagner hat abgesagt.«

Anna ging in die Küche.

Cornelia wandte sich an Beate. »Kommen Sie. Sie werden sich alle zehn Finger nach Annas Rollbraten ablecken.« Sie grinste. »Natürlich rein bildlich gesprochen.«

Im Esszimmer goss Cornelia ihnen einen Whisky ein. »Eigentlich nicht nötig, den Appetit anzuregen, aber . . .«

». . . auf Ihren Geburtstag«, sagte Beate und nahm eins der Gläser.

Während des Essens herrschte zunächst Schweigen. Es schien Beate, als wäre Cornelia in Gedanken, und sie wollte sie nicht stören. Überhaupt, fragte Beate sich, wie bist du eigentlich hierher geraten? Na wie auch immer. Sie saß jetzt hier, und, das musste sie zugeben, Cornelia hatte nicht übertrieben. Der Braten schmeckte hervorragend. Ebenso die Sahnekartoffeln. Beate tauschte die halbe Pizza, die noch von gestern im Ofen stand, gern gegen dieses Essen.

Jetzt schien Cornelia sich auf ihre Gastgeberrolle zu besinnen. »Wer hätte gedacht, dass wir beide, nach unserem denkbar schlechten Start, einmal so friedlich beieinandersitzen«, sagte sie und brachte damit das Gespräch in Gang.

Beate schaute leicht verlegen. »Warum haben Sie mich damals überhaupt eingestellt, nachdem ich Sie so angefahren habe?«

»Ihre Hartnäckigkeit hat mich beeindruckt«, antwortete Cornelia wahrheitsgemäß. »Ich dachte, wenn Sie diesen Eifer auch bei der Arbeit an den Tag legen, ist das eine feine Sache. Ich kann mit Widerspruch durchaus leben. Hätte ich allerdings geahnt, dass wir dauernd so aneinandergeraten – vielleicht hätte ich mich anders entschieden. Nun ja, die letzten Wochen liefen dafür ganz gut. Finden Sie nicht?«

Beate nickte. »Ja. Und es tut mir wirklich leid, was ich in Marthas Restaurant gesagt habe. Ich weiß, dass ich damals zu weit gegangen bin.«

»Keine Sorge. Das ist Schnee von gestern. Nur eins wüsste ich gern: Welcher Teufel hat Sie geritten, mir so etwas an den Kopf zu werfen? Ich meine, Ihnen muss doch klar gewesen sein, dass ich Sie dafür in den Boden stampfen würde.«

»Ich war wohl durch das Zusammentreffen mit Anke verunsichert. Ich meine . . . dass Sie die Sache mitbekommen haben«, bekannte Beate.

»Das verstehe ich nicht. Dachten Sie, ich würde mich über Sie lustig machen?« Cornelia runzelte die Stirn.

»Nein.« Beate seufzte. »Oder doch. Ich dachte, in Ihren Augen wirkt das Ganze sicher lächerlich. Anke hat sich einfach peinlich benommen. Und ich habe mich für sie geschämt.«

»Aber warum? Sie können doch nichts dafür, dass sich die Frau emotional auf so niedrigem Niveau bewegt. Es gibt nun mal Menschen, die suchen und finden die Fehler nur bei anderen.«

»Aber ich war mit ihr zusammen. Nicht nur einen Monat oder zwei, sondern eineinhalb Jahre. Ich habe sie geliebt. Jedenfalls anfangs.«

»Und Sie haben sich von ihr getrennt«, stellte Cornelia sachlich fest.

Beate seufzte erneut. »Ja. Es war die einzige Möglichkeit, mich nicht selbst aufzugeben.« Während Beate das sagte, fragte sie sich verwundert: Was passiert hier gerade? Warum erzähle ich ausgerechnet Cornelia Mertens davon? Das ist doch absurd. Cornelia interessiert weder, wie ich mich damals gefühlt habe, noch wie ich mich jetzt fühle oder jemals fühlen werde. Für Cornelia sind Gefühle dieser Art Zeitverschwendung.

Dennoch fuhr Beate fort. »Komisch, ich dachte immer, Liebe kann nicht groß genug sein. Aber sie hat mich erdrückt.«

»Das war keine Liebe«, meinte Cornelia.

Beate traute ihren Ohren nicht. Hatte Cornelia das gerade wirklich gesagt? Hatte sie dieses Wort benutzt? Liebe. Was wusste denn Cornelia Mertens davon?

»Anke Riemann brauchte Sie nur zur Selbstbestätigung«, stellte Cornelia weiter fest und hob die Hand, weil sie sah, dass Beate zu einer Erwiderung ansetzte. »Ich weiß schon, was Sie sagen wollen: Wir waren uns einig, dass wir derart persönliche Themen nicht vertiefen. Ich sage schon nichts mehr.«

»Was ich vermisse, ist unsere Katze«, gestand Beate. »Ich musste sie bei Anke lassen, weil ich ja nicht wusste, wo und wie ich unterkommen würde.«

»War es Ihre Katze?«

»Nein. Wir haben sie gemeinsam von einem befreundeten Paar bekommen. Sie hieß Carlotta.«

»Wer hat diesen Namen ausgesucht?«

»Das war ich. Und ich glaube die letzten Wochen bin ich nur bei Anke geblieben, weil ich die Katze nicht verlassen wollte.«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Doch.«

Cornelia schüttelte den Kopf. »Sie sind wirklich unglaublich.«

»Unglaublich was?«

Cornelia winkte ab. »Das kann ich nicht mit einem Wort beschreiben.«

»Kein Problem. Benutzen Sie einfach ein paar mehr. Ich höre Ihnen zu«, meinte Beate salopp. Plötzlich wollte sie es wissen: Was dachte Cornelia über sie? Und gleich darauf fragte sie sich: Warum interessiert dich das, Beate?

»Das sagen Sie nur, weil Sie ein Kompliment erwarten«, stellte Cornelia fest.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Stimmt es etwa nicht?«

»Ich habe nicht an so etwas gedacht, bis Sie es erwähnt haben. Wollten Sie mir denn ein Kompliment machen?« Beate konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen. »Also, unglaublich – was?«

Cornelia lächelte über Beates Schlagfertigkeit. »In jedem Fall unglaublich hartnäckig, bis hin zur Dickköpfigkeit«, sagte sie. »Außerdem gescheit und sehr gefühlsbetont. Ach, und nicht zu vergessen: hübsch.«

Beate senkte bei Cornelias letzten Worten schnell den Blick auf ihren Teller.

»Was ist?« fragte Cornelia. »Sie sagten doch, ich soll Ihnen ein Kompliment machen.«

»So habe ich das nicht gesagt.« Beate fühlte, wie sie rot wurde.

»Im Grunde sind wir gar nicht so verschieden«, meinte Cornelia.

»Das sehe ich aber ganz anders«, widersprach Beate energisch.

»Warum?« Cornelia schmunzelte und aß weiter.

»Sie sind . . .« Beate hielt inne. Kalt wie ein Eisblock, hatte sie sagen wollen. Aber stimmte das wirklich? Unnahbar – traf es vielleicht besser. Andererseits saßen sie sich hier sehr nah gegenüber und führten ein nicht eben unpersönliches Gespräch. »Undurchschaubar«, beendete Beate den Satz. Ja, das war das richtige Wort.

»Sie meinen unzugänglich«, verbesserte Cornelia wissend. »Sie finden mich arrogant und gefühllos.«

»Anfangs«, gab Beate zu. »Wie konnte ich auch anders? Sie selbst sagten, Sie sind eine Tyrannin. Und manchmal sind Sie das auch.«

»Nur manchmal?«

»Es wird immer seltener.« Beate wunderte sich selbst über ihre Feststellung. Doch so war es wirklich. »Vielleicht ist es ja nur eine Art Gewöhnungseffekt«, setzte sie schulterzuckend hinzu.

Sie waren fertig mit dem Essen. Cornelia stand auf. »Wie wäre es mit einem weiteren Glas Wein?« fragte sie. »Wir könnten diese Unterhaltung noch ein wenig fortführen.«

Beate erhob sich ebenfalls. Sie wusste nicht so recht, was sie von dem Angebot halten sollte. Erst die Einladung zum Essen und nun – was sollte das werden? Cornelia fühlte sich offenbar als Gastgeberin zu weiterer Konversation verpflichtet. Das mochte ja bei ihren sonstigen Gesellschaften so sein. Aber doch nicht bei ihr, Beate. Das musste Cornelia doch auch wissen.

»Ich wollte Sie mit der Frage nicht in eine Gewissenskrise stürzen«, feixte Cornelia. »Wenn Sie lieber nach Hause fahren möchten, rufe ich Ihnen ein Taxi.«

Beate errötete. Stand ihr die Verwirrung so deutlich im Gesicht geschrieben? »Ich gebe zu, ich bin etwas verwundert.« Das Gegenteil zu behaupten wäre sowieso unglaubhaft.

»Schon gut, ich rufe das Taxi.« Cornelia ging zum Telefon.

»Warten Sie!« rief Beate hinter ihr her.

Cornelia drehte sich um. »Ja?«

Beate lächelte unsicher. »Sie würden mich ja für unhöflich halten, wenn ich nach diesem köstlichen Essen einfach so verschwinde, nicht wahr?«

Cornelia kam zurück. »Nun ja, irgendwie würde es schon nach Flucht aussehen«, erwiderte sie mit einem versteckten Lächeln. Sie ging zum Tisch und goss Wein in die Gläser nach.

Anna kam, um abzuräumen.

»Es hat traumhaft geschmeckt, Anna«, sagte Beate.

Anna schaute Beate überrascht an. Sie war es nicht gewohnt, von Cornelias Gästen Komplimente über ihr Essen zu erhalten. Man nahm es als selbstverständlich, beachtete sie gar nicht.

»Das freut mich«, sagte Anna, während sie das Geschirr auf den kleinen Wagen stellte.

»Anna ist die beste Köchin weit und breit«, erklärte Cornelia. »Ich bin froh, dass sie es bei mir schon so lange aushält. Ich habe mir dafür zwar in meinem eigenen Haus ein Küchenverbot eingehandelt, aber das ist es mir wert.«

»Sie brächten ja sowieso nur Unordnung hinein«, erwiderte Anna geschmeichelt.

»Da hören Sie es«, lachte Cornelia.

Anna ging, den Wagen vor sich her schiebend, Richtung Küche.

Cornelia reichte Beate ihr Weinglas.

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?« fragte Beate.

»Wenn sie nicht zu persönlich ist.«

Beate suchte nach den richtigen Worten. »Sie sind eine kluge, resolute Frau«, begann sie vorsichtig. »Sie haben auf alles eine Antwort, Unmögliches gibt es für Sie nicht.« Cornelias Augen blitzten spöttisch. Beate beeilte sich zum Punkt zu kommen, bevor eine Bemerkung Cornelias sie restlos aus dem Konzept brachte. »Aber sagen Sie, Sie haben wirklich nie den Führerschein gemacht?«

Cornelias Gesicht verdüsterte sich schlagartig. Das Funkeln in ihren Augen erstarb. Sie drehte sich um und schaute aus einem der Fenster.

Beate bereute ihre Frage sofort. Offensichtlich hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Beate wartete auf die unausweichliche schroffe Abfuhr. Aber die blieb aus. Cornelia verharrte einfach nur schweigend und regungslos an ihrem Platz.

Gerade als Beate sich für die Frage entschuldigen wollte, begann Cornelia zu sprechen. Allerdings so leise, dass Beate sie kaum verstehen konnte.

»Meine Eltern und mein älterer Bruder starben bei einem Autounfall, als ich zweiundzwanzig war.« Cornelia hielt sich am Fensterrahmen fest. Ihre Finger verkrampften sich dabei. »Ich fuhr sie zum Flughafen. Ein Taxi rammte uns frontal.«

Beate schluckte. Aber woher hätte sie das ahnen sollen?

»Es stellte sich heraus, dass der Taxifahrer eins Komma acht Promille Alkohol im Blut hatte«, erzählte Cornelia weiter. »Ich habe nur dank des Airbags überlebt. Ab diesem Tag konnte ich mich hinter kein Steuer mehr setzen. Ich bekomme sofort Panik. Schaffe es nicht mal, den Wagen zu starten. Verständlicherweise vermeide ich es, in ein Taxi zu steigen, solange es nicht unbedingt nötig ist. Deshalb habe ich Clemens.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Beate ehrlich bedauernd. Und sie sah ein, dass sie Cornelia, zumindest in einem Punkt, Unrecht getan hatte. Clemens war nicht, wie sie bisher annahm, der Ausdruck einer exzentrischen Laune Cornelias. Ganz im Gegenteil. Vielleicht hast du Cornelia bisher überhaupt falsch eingeschätzt? Anna zumindest machte nicht den Eindruck, als ob sie unter Cornelia litt. Und Laura? Laura hatte über ihre Chefin immer mit Respekt gesprochen, oft sogar mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Weil sie erkannt hatte, dass Cornelia gar nicht die kühle, unnahbare Frau war, für die sie sich ausgab? Sicher, man brauchte eine gewisse Portion Selbstbewusstsein in Cornelia Mertens’ Nähe, sonst konnte man leicht überfahren werden. Das erweckte bei vielen den Eindruck der Rücksichtslosigkeit. Und Cornelias Unduldsamkeit gegenüber Fehlern schüchterte gewiss ein. Andererseits, wenn man bedachte, dass sie die Verantwortung für ein ganzes Unternehmen trug, konnte man nicht erwarten, dass Cornelia leicht über alles hinwegsah.

Beate legte mitfühlend ihre Hand auf Cornelias Schulter. »Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein.«

Cornelia drehte sich um und schaute Beate an. Aber ihre Gedanken waren immer noch weit weg. »Ja, zumal ich von einem Tag zum anderen die Firma übernehmen musste. Gott sei Dank kannte ich die meisten der Abteilungen, weil ich parallel zu meinem Studium diverse Praktika hier absolviert hatte. Aber Sie können sich vorstellen, dass eine junge Frau von zweiundzwanzig nicht nur mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen hat, wenn sie in einer solchen Firma als Chefin einsteigt. Mein Studium musste ich natürlich abbrechen.«

»Wirklich erstaunlich«, sagte Beate mit unüberhörbarer Anerkennung. Langsam verstand sie, was es mit Cornelias Selbstdisziplin auf sich hatte.

»Ich hatte so viel zu arbeiten, dass mir nicht einmal richtig Zeit zur Trauer blieb«, gestand Cornelia. »Und nun ist es zur Gewohnheit geworden.«

Beate senkte den Blick. Es berührte sie, Cornelia so verletzlich zu sehen. Cornelia trat vom Fenster weg. »Aber ich belästige Sie hier mit meinen Problemen  . . .«

»Das tun Sie nicht«, unterbrach Beate sie. »Wirklich nicht. Es ist doch normal, wenn man mal über das spricht, was einen bewegt.«

Cornelia schüttelte den Kopf. »Ich weiß, für Sie ist es das. Aber ich bin darin nicht sehr erfahren. Es liegt mir überhaupt nicht.« Cornelia machte eine Pause. Sie schien nachzudenken. »Schon komisch«, sagte sie.

»Was?« fragte Beate irritiert.

»Dass ich ausgerechnet Ihnen das alles erzähle.«

Dieser Gedanke kam Beate bekannt vor. Zu Cornelia sagte sie: »Ich kann Sie beruhigen. Schließlich bin ich ja, sozusagen von Berufs wegen, die Diskretion in Person. Niemand erfährt von mir auch nur ein Wort.«

»Das weiß ich, Beate«, meinte Cornelia beinahe sanft. Zum ersten Mal sprach sie Beates Vornamen bewusst aus. Eine ungewohnte Wärme breitete sich dabei in ihr aus, und Cornelia fragte sich verwundert, woher das kam. Fast war sie versucht, Beate übers Haar zu streichen. Verwirrt räusperte sie sich. »Und ich weiß Ihre Loyalität zu schätzen«, fügte sie in gewohnt sachlichem Ton zu. »Ebenso wie Ihre Direktheit, die mir, zugegebenermaßen, oft auf die Nerven geht. Noch ein Glas Wein?« fragte sie mit einem Blick auf Beates leeres Glas.

»Nein, danke«, lehnte Beate ab.

»Etwas anderes?«

»Ich glaube, ich möchte jetzt gern nach Hause fahren.«

»Ja. Ja natürlich.« Cornelia ging zum Telefon und wählte die Nummer einer Taxizentrale. »Das Taxi kommt in fünf Minuten«, sagte sie, als sie auflegte. »Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir den Abend zu verbringen.«

»Das war kein großes Opfer. Ich fand es sehr . . . angenehm.« Beate lag daran, das klarzustellen. »Ungewohnt, aber angenehm.«

Cornelia zog erstaunt die Augenbraue hoch. »Wirklich? Sie meinen, ich finde den Abend nicht auf Ihrem Überstundenzettel wieder?«

Beate lachte. »Dafür, dass Sie mir das zutrauen, müsste ich die Stunden eigentlich aufschreiben.«

»Fordern Sie auch gleich eine Extrazulage«, meinte Cornelia scherzhaft.

»Extrazulage? Wofür?«

»Oh, nur nicht so bescheiden. Ich weiß, Sie hätten meine Einladung lieber abgelehnt. Sie hatten sicher Ihre Gründe, es nicht zu tun. Aber die Aussicht auf einen angenehmen Abend mit mir war es bestimmt nicht.«

»Ja«, gab Beate zu. »Aber jetzt bin ich froh, dass es die Gründe gab und ich nicht abgelehnt habe.«

Cornelia schaute verdutzt. Was schwang da in Beates Stimme für ein merkwürdig sanfter Ton mit?

Draußen hupte es. »Da ist schon das Taxi.« Cornelia brachte Beate zur Tür. »Dann also bis morgen.«

»Ja, bis morgen«, verabschiedete Beate sich.

Cornelia schloss die Tür hinter ihr. Einen Moment blieb sie nachdenklich stehen. Froh? Warum war Beate froh, diesen Abend in ihrer Gesellschaft verbracht zu haben? Wo sie doch schon tagsüber schwer miteinander auskamen. Andererseits musste Cornelia zugeben, dass auch sie sich, trotz der ernsten Gespräche an diesem Abend, seltsam gelöst fühlte.

Anna kam aus der Küche. »Brauchen Sie noch etwas?«

»Nein, Anna. Danke.«

»Dann gehe ich jetzt.«

»Ja, gute Nacht, Anna.«

»Gute Nacht.« Anna blieb jedoch stehen. »Ich will ja nicht neugierig sein, aber seit wann vermischen Sie Arbeit mit Privatem?«

»Das mache ich doch gar nicht«, widersprach Cornelia. Dann verstand sie. »Ach, Sie meinen wegen Frau Thiele?« Cornelia lachte. »Anna, da liegen Sie jetzt aber völlig daneben. Es ist, wie ich sagte: Beate hat Clemens vertreten. Und weil Sie ja sowieso für zwei gekocht haben, habe ich sie eingeladen. Das ist alles.«

»Schade. Und ich dachte schon, Sie hätten mal ‘ne nette Frau gefunden.« Anna ging.

Cornelia schaute ihr verdutzt nach.