8. Kapitel

Beate fühlte sich matt. Es hatte sich die letzten Tage angekündigt. Zuerst die Halsschmerzen, später die immer stärker laufende Nase. Jetzt zeigte das Fieberthermometer ihr eine Temperatur von neununddreißig Komma eins. Das passte zu ihrer Schlappheit. Beate nahm zwei Fiebertabletten und beschloss trotz des noch frühen Abends ins Bett zu gehen. Sie zog sich langsam aus. Jede Faser in ihrem Körper brannte. Sie stützte sich aufs Waschbecken und stöhnte bei der Aussicht, die nächsten Tage mit dieser Erkältung herumzulaufen.

Die Nacht schlief sie eher schlecht als recht, und am Morgen quälten sie zusätzlich noch ausgewachsene Kopfschmerzen. Sie überlegte zum Arzt zu gehen, verschob es aber auf den nächsten Tag, wenn es nicht besser werden sollte. Zwei weitere Tabletten mussten erst einmal genügen.

Im Büro erwartete Beate zu allem Überfluss ein hektischer Tag. Das Telefon klingelte den ganzen Vormittag über ununterbrochen. So blieb die eigentliche Arbeit bis zum Nachmittag liegen, musste aber trotzdem bis zum nächsten Tag fertig werden. Beate rieb sich die Schläfen und suchte in ihrer Tasche nach den Tabletten. Sie fand nur die leere Packung. Auch das noch! Sie musste sich nachher in der Apotheke unbedingt Nachschub holen.

Cornelia kam von einem Termin zurück. Sie legte eine weitere Mappe auf Beates Schreibtisch ab. Beate nieste laut und putzte ihre Nase. »Entschuldigung.« Ihr Kopf zersprang fast vor Schmerz.

»Gesundheit«, sagte Cornelia und ging ins Büro. Einige Zeit später rief sie Beate zu sich. Die setzte sich in den Sessel gegenüber Cornelias Schreibtisch, wartete auf deren Anweisungen. Und wie gewohnt spulte Cornelia diese hintereinander herunter. Beate bemühte sich, ihr zu folgen, verlor jedoch zunehmend die Konzentration. Ihre Augen brannten. Der Kugelschreiber fiel ihr irgendwie aus der Hand. Beate bückte sich nach ihm. Als sie sich wieder aufrichten wollte, versagte ihr Gleichgewichtssinn. Sie stützte sich am Schreibtisch ab.

»Was haben Sie?« Cornelia runzelte die Stirn. »Gab es in einem der Büros vielleicht eine kleine Feier?« witzelte sie.

»Nichts«, wehrte Beate ab, nahm ihren Notizblock und sah Cornelia fragend an. »Wie war das letzte?«

Cornelia wiederholte den letzten Satz, fuhr in ihren Anweisungen fort. Beate schrieb mit. Plötzlich überkam sie erneut ein Schwindelgefühl. Sie schloss die Augen.

Cornelias kühle Hand auf ihrer Stirn ließ sie die Augen wieder öffnen.

»Sie glühen ja!« sagte Cornelia, nahm Beate Kugelschreiber und Block aus der Hand und goss ihr ein Glas Wasser ein. »Los, trinken Sie«, befahl sie.

Während Beate trank, nahm Cornelia den Telefonhörer. »Clemens? Kommen Sie bitte in mein Büro. Sie müssen Frau Thiele nach Hause fahren. Sie ist krank.«

Cornelia drückte nur auf die Gabel des Telefons, wählte eine weitere Nummer. »Doktor Präger? Ja, Mertens hier . . . Können Sie einen Hausbesuch machen? . . . In etwa einer Stunde? Gut . . . Nein, nicht bei mir, ich gebe Ihnen die Adresse gleich, warten Sie.« Sie schaute zu Beate. »Wo wohnen Sie?«

Beate fühlte sich so hundeelend, dass sie einfach die Adresse nannte. Cornelia wiederholte sie für den Arzt und legte auf. Sie goss ein zweites Glas Wasser für Beate ein, das die durstig hinunterstürzte.

Clemens kam.

»Können Sie aufstehen?« fragte Cornelia Beate.

Beate nickte. »Es geht schon wieder. Ich kann auch den Bus nehmen.«

»Kommt ja überhaupt nicht in Frage«, erklärte Cornelia kategorisch. Clemens half Beate, indem er sie vorsichtshalber stützte. Cornelia nannte auch ihm Beates Adresse.

»Bringen Sie Frau Thiele bis in die Wohnung«, wies sie Clemens an. »Sorgen Sie dafür, dass sie sich hinlegt. Doktor Präger wird gleich vorbeikommen.«

Beate lag auf dem Sofa.

Der Arzt schloss gerade seine Tasche, als es klingelte. »Ich gehe schon«, sagte er. Eine Minute später stand er wieder im Zimmer, neben ihm Cornelia.

Beate blickte sie verblüfft an.

»Frau Thiele hat eine schöne verschleppte Grippe«, wandte sich Präger an Cornelia. »Warum die Leute so scharf darauf sind, dass es ihnen erst einmal richtig schlecht geht, bevor sie einen Arzt konsultieren, werde ich nie begreifen. Statt zwei, drei Tagen wird sie jetzt mindestens eine Woche zu Hause bleiben müssen. Ich habe ihr ein Rezept ausgestellt und die Krankmeldung.«

»Ich sorge dafür, dass sie die Medikamente sofort bekommt«, erwiderte Cornelia. »Clemens wartet unten im Wagen. Er kann zur Apotheke fahren.«

»Sehr gut. Ich bin hier fertig. Ich kann ihm das Rezept gleich geben.«

»Danke.«

Präger ging.

Cornelia stand immer noch an derselben Stelle im Raum wie vorher. Jetzt ging sie zu Beate. »Was sollte das werden? Der sterbende Schwan?« In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Vorwurf und Sorge. Da Cornelia sich nicht entscheiden konnte, welche dieser beiden Regungen in ihr überwog, wusste sie auch nicht so recht, wie sie fortfahren sollte. Sie setzte sich einfach in den Sessel gegenüber der Couch. »Soll ich Ihnen einen Tee machen?«

Beate nickte schwach. »Danke.«

Cornelia ging in die Küche, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Sie öffnete ein paar Schranktüren, fand erst die Tassen, schließlich den Tee. Was machst du hier, Cornelia? fragte sie sich dabei. Seit wann betreust du deine Angestellten zu Hause, wenn sie krank sind? Seit wann fährst du überhaupt zu ihnen? – Sie kippt in meinem Büro fast aus den Latschen, da habe ich ja wohl so eine Art Pflicht zu sehen, wie es ihr geht, beantwortete sie sich die Frage. Allerdings musste sie zugeben, dass ihr diese Pflicht nichts ausmachte, ja sogar angenehm war.

Sie ging mit dem fertigen Tee ins Wohnzimmer und stellte die dampfende Tasse vor Beate ab. »Wen können Sie anrufen, damit er in den nächsten Tagen mal nach Ihnen schaut?«

»Das ist doch nicht nötig. Ich komme schon klar«, wehrte Beate ab.

Cornelia verstand. Es gab niemanden, den sie anrufen konnte. Beate wohnte ja erst ein paar Wochen in der Stadt. So schnell fanden sich keine Freunde.

Es klingelte an der Wohnungstür. »Das wird Clemens sein«, sagte Cornelia und ging zur Tür. Sie kam mit einer kleinen Tüte wieder und packte die verschiedenen Schachteln und Fläschchen aus. »Alle Achtung. Da haben Sie ganz schön was zu schlucken!« Sie las die verschiedenen Aufschriften auf den Verpackungen, drückte die Tabletten aus den Folien, die Beate nehmen musste, und reichte sie ihr. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«

Beate nahm die Tabletten in die Hand und setzte sich auf.

»Und dann legen Sie sich hin und schlafen«, befahl Cornelia, die mit dem Glas zurückkam. »Morgen früh schicke ich Ihnen Anna vorbei. Sie macht Ihnen ein ordentliches Frühstück und kocht was für später. Das brauchen Sie dann nur noch warmzumachen.«

Bisher hatte Beate Cornelias Hilfe widerspruchslos angenommen, doch jetzt protestierte sie. »Das ist jetzt aber wirklich nicht nötig!«

»Oh, keine falschen Skrupel. Sie müssen nicht denken, ich tue das für Sie. Ich tue das in erster Linie für mich. Eine Assistentin, die krank im Bett liegt, nützt mir nichts. Ich brauche Sie im Büro. Je mehr Ruhe Sie haben und je besser für Sie gesorgt wird, desto eher sind Sie wieder fit.«

»Verstehe.«

Cornelia stand etwas unentschlossen vor Beate. »Ja, dann lasse ich Sie jetzt allein. Oder kann ich noch was für Sie tun?«

»Nein, wirklich nicht. Den Rest schaffe ich allein. Danke für alles.«

Cornelia nickte. »Ja dann«, wiederholte sie. Warum nur widerstrebte es ihr, Beate alleinzulassen? Cornelia beugte sich zu Beate hinunter und legte die Hand auf ihre Wange. »Sehen Sie zu, dass Sie schnell wieder gesund werden. Ich brauche Sie.« Sie räusperte sich. »Ich kann die Arbeit unmöglich allein schaffen«, fügte sie hinzu, um ihren überraschenden Gefühlsausbruch abzuschwächen. Sie richtete sich wieder auf. »Ich sage Doktor Präger, er soll morgen noch einmal vorbeischauen.« Sie wandte sich zum Gehen.

Beate fühlte sich zu schlapp für einen Widerspruch.

Am nächsten Morgen begrüßte Cornelia statt Beates freundliche Stimme nur der leere Stuhl, der sie daran erinnerte, dass sie diese Woche ohne Beate auskommen musste.

Cornelia forderte eine Aushilfe vom Personalbüro an. Die kam, von einer anderen Abteilung, und Cornelia fand, sie war eine Katastrophe. Die Frau hatte ihrer Meinung nach einen Intelligenz-Quotienten von zwanzig. Ein Zehnjähriger übertraf ihre Auffassungsgabe um Längen.

Cornelia musste Dinge mehrmals erklären, so dass sie unzufrieden schnaufte, weil sie einfacher dran gewesen wäre, wenn sie die Zeit genutzt hätte, die Sache gleich selbst zu erledigen. Hatte die Frau endlich begriffen, worum es ging, kam sie so langsam in Gang wie eine Schnecke. Kurz und gut: Sie war das ganze Gegenteil von Beate.

Dass die Frau nichts dafür konnte, weil sie von niemanden in das Metier eingeführt, sondern einfach ins kalte Wasser geschmissen wurde, ließ Cornelia dabei völlig außer acht. Auch dass sie sonst häufig über Beate fluchte, weil die sie mit einer Unüberlegtheit oder bissigen Kommentaren in Rage brachte.

Der Tag war völlig chaotisch, und Cornelia hasste nun einmal so ein Drunter und Drüber. Sie liebte ihre geregelte Ordnung. Und wenn zu dieser Ordnung gehörte, Beates komische Ansichten in Kauf zu nehmen, dann war das eben so.

Cornelia rief Ramona an. Sie brauchte jemanden, der sie aufbaute.

»Was beklagst du dich?« fragte Ramona verständnislos. »Sie ist doch nur ein paar Tage krank. Dann kommt sie wieder. Und du wirst über sie genauso klagen wie über die Aushilfe. Das geht jetzt schon so seit dem ersten Tag, als sie bei dir anfing.«

»Wie meinst du das?«

»Sag mal, Liebes, ist dir eigentlich aufgefallen, dass du mir seit Wochen alle möglichen und unmöglichen Geschichten um diese Frau erzählst? Jedes Mal, wenn wir zusammen sind, muss ich mir anhören: Beate hier, Beate da, Beate dort.«

»Das stimmt doch gar nicht.«

»Ach, und was machen wir gerade? Über wen reden wir, selbst wenn sie nicht im Büro ist? Ich meine, ich bin nicht der eifersüchtige Typ. Wir sind uns einig, dass keine von uns der anderen etwas schuldig ist. Aber wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist vernarrt in die Kleine.«

»Du spinnst!«

»Fein! Worüber regst du dich dann so auf?«

»Über die Aushilfe!« Cornelia schmiss den Hörer auf den Apparat.

Kurz vor vier verkündete die Aushilfe Cornelia, dass sie Feierabend hatte. Cornelia winkte nur resigniert ab und ließ sie gehen. Es wäre ohnehin zu zermürbend gewesen, der Frau zu erklären, wie sie die Auswertungen abfassen sollte, oder gar mit ihr über flexible Arbeitszeiten zu diskutieren. Cornelia rief im Personalbüro an und bestellte die Frau für den nächsten Tag ab.

»Soll ich Ihnen jemand anderen schicken?«

»Bloß nicht«, wehrte Cornelia ab. Seufzend machte sie sich daran, die Unterlagen für den nächsten Morgen selbst zu erstellen.

Kaum zu Hause, ging Cornelia als erstes trotz Verbot in die Küche. »Hallo Anna.«

»Guten Abend.«

»Was gibt es denn heute zu essen?«

Anna zog verwundert die Brauen hoch. Normalerweise erkundigte sich Cornelia nie danach. Sie wusste, Anna kochte abwechslungsreich, und egal was es war, es schmeckte stets ausgezeichnet. »Eier in Senfsoße«, gab sie bedächtig Auskunft.

»Ah, gut.«

Doch statt nun zu gehen, drückte sich Cornelia immer noch in der Tür herum.

Anna schaute sie fragend an.

Cornelia schaute fragend zurück.

Jetzt ging Anna ein Licht auf. »Frau Thiele ging es heute morgen leider noch nicht so gut«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage. »Ich habe ihr ein Huhn abgekocht und daraus eine Fleischbrühe gemacht. Damit hat sie für heute und morgen erst mal etwas Leichtes. Es ist übrigens sehr rührend, dass Sie sich so um sie gekümmert haben.«

»Rein egoistische Motive«, schwächte Cornelia ab.

»Ja, das sagte Frau Thiele auch. Aber wir waren uns einig, dass Sie eigentlich ein netter Kerl sind. Bildlich gesprochen.«

Cornelia brummte nur und ließ Anna wieder allein.

Am nächsten Tag zögerte Cornelia bis zum Nachmittag. Schließlich rief sie Beate an. »Wie geht es Ihnen?«

Beate war für einen Moment sprachlos, als sie Cornelias Stimme hörte, fing sich aber schnell. »Sie rufen doch nur an, um herauszufinden, wann ich wieder ins Büro komme«, mutmaßte sie mit unüberhörbarer Ironie in der Stimme.

Cornelia schmunzelte. »Ja natürlich, warum sonst?«

»Ich fürchte, morgen werden Sie in jedem Fall noch auf mich verzichten müssen. Aber nach dem Wochenende werde ich wohl wieder fit genug sein, um mich von Ihnen scheuchen zu lassen.«

»Ich hatte gestern eine Aushilfe an Ihrer Stelle«, erzählte Cornelia zu ihrer eigenen Verwunderung gutgelaunt. Der Ärger des gestrigen Tages war vergessen.

»Und heute liegt die Ärmste mit einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie?« fragte Beate belustigt.

»Im Gegenteil! Ich stand kurz vor diesem Schicksal.«

»Niemals!«

»Wenn ich es Ihnen doch sage. Die Frau hat mich fast in den Wahnsinn getrieben.«

Beate kicherte. »Sie sind unmöglich! Was kann die Frau dafür, dass man es Ihnen nicht rechtmachen kann?«

»Wollen Sie damit sagen, ich bin . . . schwierig?« tat Cornelia entsetzt.

»Schlimmer noch. Sie sind eine Katastrophe!« Im Gegensatz zu dem, was Beate sagte, bekam ihre Stimme einen warmen Klang. »Man weiß bei Ihnen nie, woran man ist. Sie sagen, Sie sind eine Tyrannin. Und plötzlich, ohne Grund, machen Sie irgend etwas Nettes. Ich finde das ziemlich irritierend.«

Cornelia schwieg zunächst verdattert, fing sich aber schnell. »Das äh . . . war mir gar nicht bewusst.«

»Nun ja, Sie müssen sich keine Sorgen machen.« Beate fand zu ihrem vorlauten Spott zurück. »Die meiste Zeit sind Sie schon ziemlich unausstehlich. Werden Ihrem Ruf also durchaus gerecht.«

Cornelia wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte. »Ich kann also am Montag wieder mit Ihnen rechnen?« flüchtete sie sich in geschäftsmäßigen Ton.

»Ja, ich denke schon«, sagte Beate. Täuschte sie sich oder atmete Cornelia am anderen Ende erleichtert auf?

»Gut.«

Schweigen.

Eigentlich kannst du jetzt auflegen, Cornelia! Sie kommt Montag wieder. Alles ist geklärt. »Soll ich Ihnen Anna morgen noch einmal vorbeischicken?« fragte Cornelia statt dessen.

»Das ist wirklich nicht nötig.«

»Mögen Sie ihr Essen nicht?«

»Ich mag es mehr als mein eigenes, aber ich möchte Anna nicht zu sehr ausnutzen.«

»Sie macht das gern. Ich schicke sie Ihnen.«

Beate lachte. »Nein!«

Cornelia seufzte. »Dass Sie sich immer so zieren müssen. Rufen Sie wenigstens Clemens an, dass er Ihnen Ihren Wochenendeinkauf abnimmt.«

»Ich ziere mich nicht. Aber ich bin kein Pflegefall. Es war nett, dass Sie mir Anna vorbeigeschickt haben. Die Hühnerbrühe war genau das richtige, um mich wieder aufzupäppeln. Nun kann ich mich wieder selbst versorgen. Und ein Supermarkt liegt direkt bei mir um die Ecke. Trotzdem danke.«

»Also sehen wir uns am Montag?«

»Ja! Soll ich noch sagen: Ich freue mich?«

»Ich würde nie von Ihnen verlangen, dass Sie lügen.« Cornelia legte auf und grinste. Sie ist und bleibt eine Nervensäge!