12. Kapitel

Cornelia wartete auf Beate, die jeden Moment zum Frühstück herunterkommen musste. Aus der Küche drangen Laute einer merkwürdigen Aufregung. Cornelia ging hin, um nachzusehen, was diese Aufregung verursachte.

Arthur stand in der Hintertür und redete auf Anna ein. Er hielt etwas in der Hand. Bei näherem Hinsehen erkannte Cornelia eine kleine, struppige Katze. »Sie hockt jetzt den zweiten Tag verängstigt in einem Busch im Garten«, sagte Arthur zu Cornelia. »Wahrscheinlich hat sie die Mutter verloren. Ich habe sie fangen können. Was soll ich mit ihr machen?«

Cornelia schaute amüsiert auf den großen Mann, der ratlos auf das kleine Fellbündel in seiner Hand blickte und sich bemühte es festzuhalten, ohne es zu zerdrücken.

»Sie ist sicher hungrig«, meinte Cornelia unschlüssig. »Aber was isst so ein winziges Ding?« Sie machte Anstalten, Arthur die Katze abzunehmen.

»Vorsicht«, warnte Arthur. »Sie kratzt und beißt wie wild um sich. Sie ist verängstigt.«

Cornelia stupste erst einmal vorsichtig auf die kleine Nase des Streuners, griff dann ebenso vorsichtig zu – und schrie erschrocken auf, als das kleine Bündel zu strampeln und zu beißen begann. »Autsch!«

»Ich sagte ja, sie kratzt«, brummte Arthur entschuldigend, obwohl er für die Attacke ja nichts konnte.

Cornelia ignorierte die Kratzwunde, aus der sofort Blut sickerte, und packte fester zu. »Danke, Arthur. Ich kümmere mich um das weitere.«

»Anna!« wandte sich Cornelia an ihre Haushälterin. »Können Sie bitte Beate holen? Ich glaube, sie kennt sich mit Katzen aus. Sie wird wissen, was zu tun ist.«

»Bin schon da.« Beate stand in der Küchentür. »Was ist denn das für eine Aufregung?« Jetzt sah Beate das Katzenjunge. Fragend schaute sie Cornelia an.

»Arthur hat sie im Garten gefunden«, erklärte die. »Sie miaute kläglich. Hat wohl ihre Mutter verloren.«

Beate trat näher zu Cornelia und betrachtete die Katze. »Die ist ja höchstens acht Wochen alt.« Sie schloss die Küchentür und versicherte sich mit einem prüfenden Blick, dass auch die Fenster geschlossen waren. »Setzen Sie sie ab. So hochgehalten kommt sie sich ja vor wie auf dem Gipfel des Mount Everest.«

Cornelia zögerte. »Sie wird weglaufen.«

»Sie verkriecht sich erst einmal. Aber sie kommt schon wieder vor, wenn wir sie alleinlassen«, beruhigte Beate Cornelia. »Haben wir noch Reste vom gestrigen Abendessen?« fragte Beate Anna. Anna nickte. »Quetschen Sie die zu einem Brei«, riet Beate.

Cornelia setzte die Katze ab. Die flitzte in die nächste Ecke, kauerte sich zusammen und schaute ängstlich um sich.

Anna zerquetschte eine Kartoffel, zerkleinerte Fleisch vom Gulasch und vermischte alles in einer Schale. Das Ganze setzte sie vor den Winzling, der sich aber nur noch mehr in seine Ecke drückte.

»Wir müssen rausgehen. Sie braucht ihre Ruhe«, erklärte Beate und zog die anderen mit sich hinaus aus der Küche.

»Soll ich das Tierheim anrufen?« wandte sich Anna fragend an Cornelia.

Cornelia nickte.

»Aber . . .« Beate brach ab. Sie hatte protestieren wollen, doch ihr fiel ein, dass sie nicht darüber entscheiden konnte, ob die Katze blieb oder nicht. Dennoch konnte sie ihre Enttäuschung nicht verbergen.

Cornelia bemerkte es. Sie erinnerte sich, wie sehr Beate an der Katze gehangen hatte, die sie bei Anke zurücklassen musste. Sicher würde Beate den Winzling gern behalten. Er war ja auch süß. »Warten Sie«, rief Cornelia Anna nach, die bereits zum Telefon ging.

Anna hielt inne.

Cornelia blickte noch einmal kurz zu Beate. »Ich glaube, im Tierheim gibt’s schon genug heimatlose Katzen«, sagte sie.

Beates Gesicht hellte sich auf. »Wir behalten sie?« strahlte sie.

»Ja.« Cornelia schmunzelte. Beates Wir klang merkwürdig in ihren Ohren und ließ gleichzeitig ein Gefühl der Wärme durch ihre Adern fließen.

Anna hörte Cornelias Entscheidung mit Erstaunen.

»Ich fahre gleich los und besorge Katzenfutter«, sagte Beate eifrig. »Außerdem brauchen wir eine Katzentoilette, Streu und so weiter. Ich besorge alles, was notwendig ist.« Sie unterbrach sich und blickte fragend zu Cornelia. »Ich meine . . . wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Im Gegenteil«, lächelte Cornelia. Sie war mehr als einverstanden. Beate schien ganz verliebt in die kleine Katze. Du kannst ruhig zugeben, dass du auch vernarrt in den Winzling bist. Diese großen, neugierigen Augen haben sofort dein Herz erobert. – Ja, aber es waren Beates Augen, die dich bewogen, den Winzling zu behalten.

Sie standen an der Küchentür und beobachteten durch die Glasscheibe das Geschehen dahinter. Mit tapsigen Schritten, die Nase an alles haltend, was auf seinem Weg lag, und daran schnuppernd, erforschte das Katzenjunge gerade die Küche.

»Sie braucht einen Namen«, flüsterte Beate.

»Falls es eine Sie ist«, meinte Cornelia.

»Das finden wir heute abend heraus. Im Moment braucht sie erst einmal Zeit, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen.«

»Und was wird aus Ihrem Frühstück?« Anna, aus ihrem Reich verdrängt, stand ratlos da.

»Wir frühstücken unterwegs«, sagte Cornelia. »Kommen Sie, Beate.«

Beate schaute auf die Uhr. »Das wird aber knapp, wenn wir pünktlich ins Büro kommen wollen.«

»Dann kommen wir heute eben mal ein paar Minuten später«, erwiderte Cornelia leichthin.

Sowohl Beate als auch Anna trauten ihren Ohren nicht. Beate staunte Cornelia mit offenem Mund an. »Später? Sie?« War es möglich, dass Cornelia wegen einer kleinen Katze von ihren Prinzipien abwich?

»Bis zur Besprechung sind wir in jedem Fall da. Das heißt: ich. Sie kümmern sich wie besprochen um die Ausstattung für unseren neuen Mitbewohner.«

»Die Katze ist ein Er«, stellte Beate am Abend nach einem prüfenden Blick fest.

»Wie wäre es? Suchen Sie für ihn einen Namen aus«, schlug Cornelia vor.

»Ich?«

»Ja.«

Beate besann sich kurz. »Wie wäre es mit Victor?«

Cornelia überlegte eine Sekunde. »Klingt gut.«

Anna brachte das Abendessen, und eine Weile beherrschten andere Interessen sie beide.

Zu Beates Verwunderung schlug Cornelia nach dem Essen erneut vor, ihr etwas vorzulesen. »Gönnen Sie mir das Vergnügen«, lächelte Cornelia, als Beate ablehnen wollte.

Cornelia überraschte Beate heute mit Geschichten über längst vergangene Zeiten, mystische, sagenumwobene Legenden. Haben die kriegerischen Amazonen wirklich gelebt? Wo lag Atlantis? Wurde Amerika schon vor Kolumbus entdeckt? Ist das Geheimnis der Osterinseln gelöst? Beate überließ sich der merkwürdigen Anziehungskraft all dieser Rätsel, die am Ende zwar gelöst wurden, an denen aber ein Rest von Zweifeln haften blieb.

Während Cornelia vorlas, versuchte Beate sie zu erforschen. Cornelia Mertens: Ein weiteres Rätsel. Nicht aus der Zeit vor Christi Geburt, sondern hier und jetzt. Eine Frau, die in dem Ruf stand, ausschließlich für ihre Firma zu leben, deren Wesen als unnahbar und kühl galt. Die aber im Moment nicht anwesend war. Vor ihr saß Cornelia, die Verwandelte. Zuvorkommend, aufmerksam, rücksichtsvoll. Eine Cornelia, in die sie sich mehr und mehr verliebte.

»Sie hören ja überhaupt nicht zu«, beschwerte Cornelia sich.

Beate schaute sie verlegen an. »Äh . . . Entschuldigung. Ich war ganz in Gedanken.«

»Und wo?«

Beate errötete. »Ach . . . überall und nirgends.«

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Anke Riemann wird sich hier nicht blicken lassen. Und falls doch, bin ich ja auch noch da.«

»Ich habe keine Angst wegen Anke.«

»Na, um so besser.«

»Im Gegenteil. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich meine Zelte hier abbreche«, sagte Beate. Und wenn erst wieder die alte Distanz hergestellt ist, wird auch dieses dumme Gefühl verschwinden. »Ich suche mir eine neue Wohnung, und dann falle ich Ihnen nicht weiter zur Last.«

»Sie fallen mir nicht zur Last. Kein Grund zu übertriebener Eile.« Cornelia schmunzelte.

»Sie haben offensichtlich noch nichts von den Gerüchten gehört, die sich in der Firma langsam aber sicher ausbreiten«, versuchte Beate es auf andere Weise.

»Ach das.« Cornelia winkte gelassen ab. »Früher oder später bekomme ich immer ein Verhältnis mit meiner neuen Assistentin angedichtet. Meine sexuelle Präferenz ist schließlich kein Geheimnis. Das hat nichts damit zu tun, dass Sie hier wohnen, glauben Sie mir. Die Leute reden eben gern.«

»Und das macht Ihnen nichts aus?«

»Dagegen kann man nichts tun. Ich beachte es gar nicht mehr. Und das sollten Sie auch nicht.«

»Das tue ich nicht.«

»Na, dann ist doch alles in bester Ordnung. Und wie gesagt, es besteht kein Grund für einen übereilten Aufbruch.«