Mit jedem Flügelschlag wirbelte der Lindwurm kleine Staubwölkchen auf. Sie drangen Yasha in Augen, Mund und Nase. Er packte sein Bücherbündel fester und zog sich schützend einen Zipfel seines Hemdes vors Gesicht. In diesem Moment schoss der Lindwurm senkrecht in die Höhe. Ein Ruck ging durch Yashas Arm. Für den Bruchteil einer Sekunde baumelten seine Beine in der Luft. »Hiiilfe!«, schrie er erschrocken. Im nächsten Moment buckelte der Lindwurm und Yasha landete unsanft auf seinem Rücken. Es war ein Höllenritt.

Zum Glück legte sich der Ärger des steinernen Schmetterlings bald. Denn anders als Drachen besitzen Lindwürmer nur sehr kleine Flügel, sie kriechen lieber am Boden herum als ordentlich zu fliegen. Nach einer Weile verlor der Talisman die Lust daran, den flügellahmen Lindwurm in der Luft toben zu lassen.

In der Ferne

sah man die Gipfel des

Pilisgebirges. Unter ihnen, auf einem schmalen Feldweg, rollte eine Kolonne bunt bemalter Wohnwagen. Yasha hörte aus der Ferne fröhliche Stimmen und das Klappern der Pferdehufe. Der Talisman schnaufte fast unhörbar. Er ließ den Lindwurm eine Kurve fliegen und überholte die Pferdewagen. Da entdeckte der steinerne Schmetterling unter sich einen alten Freund. »Du sollst nicht mehr alleine sein, Yasha!«, raunte er dem Jungen leise zu und landete am Wegesrand. Sofort erfasste ein leichter Windstoß den Lindwurm. Er löste sich auf und wehte als Staubfahne über die Felder davon. Yasha und die Bücher plumpsten ins weiche Gras.Der erste Wagen hielt mit lautem Quietschen. »Hallo Reisender! Ich sehe, dein Lindwurm hat sich im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Staub gemacht!«, rief eine bekannte Stimme. »Graf Gregorio!«, jubelte Yasha. Inzwischen war auch der letzte Wohnwagen zum Stehen gekommen und die Leute liefen herbei, um zu sehen, warum es nicht weiterging. »Das ist ja Yasha! Mein Kleiner, lass dich drücken!«, johlte Xenia schon von weitem und drängte sich durch die Menschenmenge. Es war ein freudiges Wiedersehen! »Graf Gregorio und seine kleine Geige werden auf dem Pilisgebirge ein Konzert geben! Komm, Yasha! Steig auf! Wir müssen weiter!«, sagte Xenia nach einer Weile. Mit gemischten Gefühlen kletterte Yasha auf den bunten Wohnwagen. Natürlich war es wunderbar, dass er Graf Gregorio und Xenia getroffen hatte. Aber ins Pilisgebirge konnte er sie nicht begleiten. Er musste doch zu Onkel Kyril.

Hitze und Duft des kleinen Steins der Weisen erfüllten das Laboratorium. Das Feuer im Schmelzofen war heruntergebrannt. Onkel Kyril griff nach dem Schürhaken, schob die Glut zusammen, nahm ein Dreibein und stellte es in den Ofen. Schweiß perlte über sein Gesicht. »Wie weit bist du mit dem Zerreiben des Steins, Laszlo?«, rief er über die Schulter hinweg. Prüfend ließ Laszlo Dvorach das rotbraune Pulver in den Mörser zurückrieseln. »Ich glaube, es ist jetzt fein genug, aber viel zu wenig, um Zürban zu vernichten!« Onkel Kyril kicherte: »Schon die kleinste Menge des fertigen Elixiers reicht, um den steinernen Schmetterling darin aufzulösen. Warte nur ab, bis Yasha hier ist. Zusammen mit eurem steinernen Schmetterling ist die Menge groß genug, um Olav Zürban mehrmals ins schwarze Reich zu schicken. Clara, bitte notiere auf der Rezeptur, dass dieser Stein zu klein ist! Und nun lasst uns mit den alchimistischen Versuchen beginnen!«

Laszlo fachte

mit dem Blasebalg

die Glut an. Als die Kohle im Ofen weiß glühte, nickte Onkel Kyril ihm zu. Schwer atmend trat der Weißmagier zur Seite. Clara hatte alle Zutaten sorgfältig abgewogen und sie in kleinen Glasschalen aufgereiht. Leise murmelnd ging sie noch einmal die Rezeptur durch, die der alte Alchimist aus seiner Erinnerung aufschrieb. Onkel Kyril schüttete das Pulver, das einmal Michael Mayars Stein der Weisen gewesen war, in einen Topf mit einem sehr langen Stiel und stellte ihn auf das Dreibein. Als ein dünner Rauchfaden aufstieg, rief er: »Schnell! Den Morgentau!« Mit einer Zange nahm Clara die erste Schale und ließ die klare Flüssigkeit in den glühenden Topf rinnen. Fast augenblicklich wurden sie von einer Wolke aus weißem Wasserdampf eingehüllt. »Nun den Lapislazuli, die Krokodilstränen und das Steinöl«, drang die Stimme des Alchimisten an ihr Ohr. Vorsichtig tastete Clara nach den Schalen und hielt sie Onkel Kyril entgegen, der sich schattenhaft vor dem Ofen abzeichnete. »Hab sie, du kannst loslassen!«, murmelte Onkel Kyril. Seine Augen begannen zu tränen, als er sich über die Feuerstelle beugte. Mit Schwung schüttete er den Inhalt der Glasschalen in den Topf und sprang zurück. Es knallte ohrenbetäubend, eine Stichflamme schoss aus dem Ofen. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte der Schein des Feuers die Umgebung in grelles Licht. Dichter, schwarzer Rauch quoll aus dem Schmelzofen. »Zurück, ihr beiden!«, brüllte Onkel Kyril, während er seinen dicken Lederhandschuh anzog und den Stiel des Topfes packte. Dabei schwappte brennende, ölige Flüssigkeit auf den Boden. Hastig eilte der Weißmagier herbei. Es dröhnte laut, als er die Tür des Ofens zuwarf und die kleinen Flammen mit dem Fuß auszutreten begann. Plötzlich krümmte er sich zusammen. Ein blaues Glimmen ging von seinem steinernen Fuß aus. Der Stein schwoll an und wurde durchsichtig, wie blaues Glas. Darunter erkannte man bereits Laszlos Fuß. Es gab ein hässliches Geräusch, als die ersten Risse das spröde Material sprengten. »Das große Elixier! Es heilt ihn!«, hauchte Onkel Kyril. Neben ihm begann Clara zu schluchzen. Die Tränen hinterließen helle Spuren auf ihrem rußverschmierten Gesicht. »Juuui, uuuuaah! Jetzt kitzelt es ganz doll!«, quiekte der Weißmagier, als die letzten blauen Bröckchen von seinem Fuß rieselten. Clara fiel vor ihm auf den Boden und streichelte liebevoll seinen Fuß. »Unglaublich! Es ist einfach unglaublich! Schon für dieses eine Wunder hat es sich gelohnt, den Stein zu opfern!«, murmelte Onkel Kyril.

Frau Masa

kam vom

Einkaufen. Sie ließ die beiden schweren Taschen fröhlich hin- und herschwingen. Ihr breiter Po wogte wie ein Weizenfeld, als sie mit der Hüfte Schwung holte und der Gartenpforte einen kräftigen Schubs gab. Fröhlich summend watschelte sie den Weg zum Haus entlang. Ein lauter Knall und das leise Beben unter ihren Füßen ließen sie innehalten. Missbilligend spähte sie in den Garten. Dort standen, von Pflanzen verborgen, die Belüftungsrohre des Laboratoriums. Und tatsächlich: Es dauerte nicht lange und dicker, schwarzer Qualm stieg auf. Frau Masa wandt sich ab. Ärgerlich schnaufend zog sie den Schlüssel aus der Schürzentasche und öffnete die Haustür. »Immer diese Kokelei dort unten! Ich will gar nicht wissen, wie Herr Kyril und seine Gäste aussehen!« In diesem Moment setzte sich ein schwarzer Schmetterling auf ihre Hand. »Ha! Sogar der arme Schmetterling ist dreckig geworden! Hast wohl auf der Belüftung gesessen! Mal schaun, ob Tante Masa dich wieder sauber bekommt!«, grollte sie und warf einen bitterbösen Blick in Richtung Kellertür. In der Küche setzte sie den Schmetterling vorsichtig auf den Wasserhahn. Artig klappte der Falter seine Flügel auseinander und blieb still sitzen. Frau Masa lächelte. Der Platz schien ihm zu gefallen. »Wenn ich das Essen fertig habe, schauen wir mal nach, welche Farbe du unter der ekligen Rußschicht hast!«

Der schwarze

Schmetterling kniff

ärgerlich die Äuglein zusammen und flatterte auf die Küchenlampe. Aber das bemerkte Frau Masa nicht. Sie hatte sich umgedreht und hastete mit roten Wangen zwischen Herd und Esszimmer hin und her. Als sie um Punkt 12 Uhr die Kellertür öffnete, bemerkte sie gerührt, dass der schwarze Schmetterling ihr folgte. Mit wippender Schleife stapfte Frau Masa die Treppe nach unten, betrat den Vorratsraum und schob die Kräuterbündel zur Seite. Trockene Blättchen rieselten auf den Boden. Mit tollkühnen Flugmanövern wich der schwarze Schmetterling den Geschossen aus und sah gerade noch, wie Onkel Kyrils Haushälterin den losen Ziegelstein aus der Mauer zog und auf einen Knopf drückte. Knarrend öffnete sich die Geheimtür zum Laboratorium. »Das Essen ist gleich fertig!«, brüllte Frau Masa nach unten. »Einen Moment! Wir kommen gleich!«, tönte es aus der Tiefe. Der schwarze Spion flatterte in den Flur. Hinter sich hörte er, dass Frau Masa schnaufend die Treppe erklomm.

Verzweifelt flog er in die Küche. Hier war das Fenster geöffnet, aber ein Fliegengitter versperrte ihm den Weg in die Freiheit. Er untersuchte die feinen Maschen. Gab es denn kein Loch, durch das er entschlüpfen konnte? Panik stieg auf. Die Küche war das Reich der dicken Frau, die ihn waschen wollte! »Pfui Teufel!«, lispelte er leise und flog zurück in den Flur. Da klingelte es an der Haustür. Der kleine Spion fühlte einen schwachen Luftzug, als Frau Masa öffnete. Vor der Tür stand der Postbote mit einem Paket. »Oh weh, der Meister!«, dachte der schwarze Schmetterling. Er bekam Schluckauf und ließ sich hastig auf einem dunklen Bild nieder. Dort breitete er seine Flügel ganz flach aus und hoffte, nicht entdeckt zu werden. Sein leises »Hicks, hicks« wurde von der Stimme des hageren Mannes übertönt. »Gnädige, verehrte Dame! Hier ist ein Paket von der Firma Lecker-Himmel. Es ist sehr schwer. Soll ich es in die Küche tragen?« Frau Masa nickte dankbar und bat den Boten herein. »Lecker-Himmel! Was hat Herr Kyril dort bestellt? Es muss etwas Gutes zu essen sein!«, überlegte sie voller Vorfreude, als sie zur Küche voranging. Der Bote stellte das Paket auf den Küchentisch und wirbelte herum. Das Letzte, was Frau Masa sah, waren seine Augen, das eine blau, das andere braun. Sie riss schützend die Arme nach oben und fiel in Ohnmacht.

Olav Zürban

schüttelte tadelnd

den Kopf und schnippte ein wenig Vergiss-es-Puder vom Ärmel. »Man soll doch keine Fremden ins Haus lassen! War Ihnen das nicht bekannt, meine Beste?«, zischte er und öffnete das Paket. Aufgeschreckt flogen die schwarzen Schmetterlinge aus ihrem Gefängnis. Nach einem letzten Blick auf die Haushälterin verließ der Schwarzmagier die Küche. Im Flur vor dem Bild stoppte er und zischte seinen kleinen Spion an: »Und nun zu dir! Sind Kyril Mayar und Yashas Eltern noch dort unten?« Zaghaft nickte der Schmetterling und schielte sehnsüchtig zur offenen Haustür. »Zeig mir sofort den Eingang zum Laboratorium! Und wehe dir, du weißt nicht, wie die Tür aufgeht, dann zerquetsche ich dich wie einen Wurm!«, donnerte Olav Zürban und packte den zitternden Falter am Flügel.

Die bunt

bemalten Wagen

holperten über die Landstraße. Rechts und links von ihnen erstreckte sich eine Kirschplantage. Yasha saß eingeklemmt zwischen Xenia und Graf Gregorio auf dem Kutschbock. »Das würdest du wirklich für mich tun?«, fragte er gerade. »Na klar begleite ich dich zu Onkel Kyril!«, antwortete Graf Gregorio, während sie ins Dorf fuhren. Xenia zügelte die Pferde vor dem Haus des Alchimisten, sprang vom Kutschbock und verschwand im Wagen. Von außen hörte man sie hektisch rumoren. »Yashas Bücher! Hier! Nehmt mir mal die kleine Geige ab! Himmel, wo ist nur das Medaillon mit dem Bild der Heiligen Sara?«, tönte es dumpf aus dem Inneren des Wagens. Yasha sah Graf Gregorio an und zog die Augenbraue in die Höhe. In diesem Moment tauchte Xenia auf. Sie umarmte die beiden und reichte Graf Gregorio die goldene Kette, an der das Bild der Schutzpatronin des fahrenden Volkes hing. »Die Schwarze Sara wird auf euch aufpassen!«, sagte Xenia mit rauer Stimme und wandt sich ab. »Los! Es geht weiter, Leute!«, brüllte sie, kletterte vorne auf den Wagen und ließ die Zügel knallen. Die Pferde setzten sich in Bewegung. Yasha und Graf Gregorio gingen zu Onkel Kyrils Haustür und klingelten. Nach einer Weile hörten sie schlurfende Schritte. Durch die Milchglasscheibe schimmerte Frau Masas weiße Schürze. Yasha schnaufte erleichtert. Die Bücher waren höllisch schwer! Lange konnte er sie nicht mehr halten. Die Tür öffnete sich. Ihre dicke Brille verlieh Frau Masa das Aussehen einer Eule, als sie die beiden Freunde fragend musterte. »Guten Tag, Frau Masa! Ich bin es, Yasha. Und das ist Graf Gregorio. Dürfen wir reinkommen?« Zögernd gab Frau Masa den Weg frei. Erlöst stellte Yasha die Bücher im Flur ab. »Wo ist Onkel Kyril?« Die Haushälterin schaute ihn mit starren Augen an und hob bedauernd die Schultern. Dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. »Ach ja! Jetzt erinnere ich mich an dich! Wie konnte ich das nur vergessen. Du hast die Bücher für Herrn Mayar geholt! Braver Junge! Ich geh jetzt in die Küche. Macht es euch so lange gemütlich!«, sagte sie und verschwand mit wehenden Kleidern.

Der Talisman

glühte

warnend. Yasha fuhr sich nachdenklich durch die Haare. Frau Masa wirkte verändert. »Komm! Lass uns nachsehen, wo Onkel Kyril ist!«, unterbrach Graf Gregorio seine Gedanken. Sie suchten im ganzen Haus und im Garten, aber nirgends fanden sie eine Spur. Sorgenvoll deutete Yasha auf den zerknitterten Strohhut, der in der Garderobe hing. »Onkel Kyril geht niemals ohne seinen Hut nach draußen. Er muss hier im Haus sein. Nun bleibt nur noch das Laboratorium. Dort haben wir noch nicht nachgesehen. Ich hoffe, ihm ist nichts passiert!« Graf Gregorio schüttelte den Kopf: »Nein! Mach dir keine Sorgen, Yasha! Wahrscheinlich arbeitet er und hat über seine Experimente die Zeit vergessen.«

Sie gingen in den Keller.

Im Vorratsraum

knisterten trockene Pflanzenteile unter ihren Schuhen. »Hinter den Kräuterbündeln ist ein loser Stein. Er müsste ungefähr auf deiner Augenhöhe sein!«, wisperte Yasha. Graf Gregorio untersuchte die Wand. Es dauerte nicht lange und ein zufriedener Seufzer verriet, dass er den losen Stein gefunden hatte. »Zieh ihn raus! Dahinter ist ein kleinen Knopf, den musst du drücken!«, zischte Yasha Graf Gregorios Rücken zu. Quietschend und knarrend setzte sich der geheime Mechanismus in Gang. Die Tür öffnete sich. Gleichzeitig flammten kleine Lichter in den Nischen der Wand auf und beleuchteten die Treppe. Die beiden Freunde sahen sich an. »Wenn jemand hier unten wäre, hätte das Licht gebrannt«, bemerkte Graf Gregorio überflüssigerweise und seine Stimme hallte dumpf von den Wänden wider. Im Laboratorium roch es nach kaltem Rauch. Auf den Tischen standen Glasschälchen, Töpfe und allerlei anderes Gerät. Onkel Kyril schien vor Kurzem hier gearbeitet zu haben. Neugierig sah sich Graf Gregorio um. Auf einem kleinen Tisch an der Wand stand ein dunkler Holzkasten. Eine geschnitzte Fratze mit schmalen Augen verzierte die Vorderseite. Graf Gregorio öffnete den Deckel. Der Inhalt erinnerte ihn an die Schatzkiste eines kleinen Jungen. Ein paar Steine, zwei Fledermäuse aus Plastik, zwei Trachtenpüppchen und ein kleiner Stoffbeutel lagen darin. Yasha hatte sich über ein paar Notizblätter gebeugt. »Schau mal!«, sagte er und hielt seinem Freund ein Blatt Papier unter die Nase. »Onkel Kyril hat eine Rezeptur für das große Elixier aufgeschrieben. Ich kann die Geheimschrift lesen! Hör zu! …« In diesem Moment öffnete sich oben die Tür. »Bitte kommt hoch! Das Essen ist fertig!«, brüllte Frau Masa.

Onkel Kyrils Hund lag in einer Ecke und schnarchte leise, als sie das Esszimmer betraten. In zwei geblümten Tellern dampfte Suppe. Erwartungsvoll setzten sich Yasha und Graf Gregorio und griffen zu den Löffeln. »Oh, was ist das!«, wunderte sich Graf Gregorio und verzog das Gesicht. »Brokkolisuppe mit Lakritzbonbons!«, hauchte Yasha fassungslos. »Komm, Alchemikus! Hier ist etwas ganz Feines für dich!«, lockte er und stellte seinen Teller auf den Boden. Träge öffnete der alte Wachhund ein Auge, dann hob er seine Schnauze und schnüffelte ohne besondere Begeisterung. Yasha schob den Teller näher an ihn heran: »Komm! Koste doch mal!« Alchemikus bedachte Yasha mit einem beleidigten Blick und vergrub winselnd seine Schnauze zwischen den Pfoten. Graf Gregorio kicherte schadenfroh: »Der Hund mag es auch nicht! Komm! Wir schauen mal in die Küche!« Mit diesen Worten stand er auf und griff den roten Samtkasten mit der kleinen Geige. Yasha nickte: »Wenn wir sehen, dass Frau Masa wieder so etwas Merkwürdiges kocht, schleichen wir nochmal runter ins Laboratorium!«

»Psst, nicht reingehen!«,

zischte Yasha

und erwischte seinen Freund gerade noch am Jackenzipfel. Durch die Küchentür beobachteten sie, wie Frau Masa zwei Heringsfilets mit Senf bestrich. Es knisterte leise, als sie in eine Tüte griff und die Heringe mit Gummibärchen belegte. »Und nun die Schokoladensoße …!«, trällerte sie fröhlich, während sie einen kleinen Topf vom Herd nahm und genussvoll einen Finger hineintauchte. »Mmmh, ganz schön viel Knoblauch drin!«, hörten sie Frau Masa sagen. Graf Gregorio schaute Yasha an und tippte sich bedeutungsvoll mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Sie ist erst so, seit Onkel Kyril verschwunden ist!«, flüsterte Yasha und deutete zur Kellertür.

Schmale Augen starrten aufmerksam in Richtung Treppe. Insgeheim beglückwünschte sich Olav Zürban zu seiner Entscheidung, als Holzkiste verwandelt auf sein Opfer zu warten. Ahnungslos liefen Yasha und sein Freund, Graf Gregorio, an ihm vorbei. Dabei kicherten sie und schienen sich köstlich zu amüsieren. »Wartet nur! Euch wird das Lachen gleich vergehen!«, dachte der Schwarzmagier böse. Und wer genau hinsah, konnte erkennen, dass der Kasten seinen hölzernen Mund zu einem schmalen Strich verzog.

Yasha drückte auf den kleinen grünen Knopf, der die sieben Türen vor der geheimen Kammer öffnete. »Hier auf dem Steinblock lag der kleine Stein der Weisen!«, sagte er enttäuscht. Graf Gregorio kratzte sich am Kopf. »Du sagtest doch, Onkel Kyril hat ein Rezept für das große Elixier aufgeschrieben. Vielleicht hat er es schon hergestellt? Dann wäre klar, warum der Stein nicht mehr hier ist! Lass uns zurück ins Laboratorium gehen und nachsehen!«

Yasha setzte sich

an den Tisch, auf

dem die Rezeptur lag. Mit konzentrierter Miene las er. Eine Notiz am Rand erweckte seine Neugier. »Dieser Stein ist zu klein«, entzifferte er die krakelige Geheimschrift.

Derweil sah sich Graf Gregorio suchend um. In der Nähe des Schmelzofens lag ein Haufen blauer Splitter, die im Licht geheimnisvoll schimmerten. Er hob einige auf und legte sie vor seinen Freund auf den Tisch: »Könnte das das Elixier sein?« Zweifelnd schüttelte Yasha den Kopf: »Nein, ich glaube nicht! Wir müssen nach einer öligen Flüssigkeit suchen! Die letzte Zutat des Elixiers ist Steinöl!«

Zusammen durchsuchten sie das Laboratorium. Schließlich stieß Yasha einen triumphierenden Schrei aus. Auf dem Boden eines rußgeschwärzten Topfes schimmerte eine dunkle Ölschicht. Neugierig schnupperte er. Es roch schwach nach Erde, Blüten, Feuer und dem süßen Geruch von Regen auf ausgedörrter Erde.

Ein lautes Krachen

ließ Yasha

und Graf Gregorio herumfahren. Splitter flogen durch die Luft. Der Holzkasten mit den schmalen Augen zerbrach in tausend Teile. An der Stelle, wo er gestanden hatte, saß Olav Zürban und warf seinen Umhang mit einem eleganten Schwung über die Schulter. Seine schwarzen Schmetterlinge flogen daraus hervor und verteilten sich im ganzen Laboratorium. Nachlässig warf Olav Zürban einige Gegenstände neben sich auf den Tisch. »Die Zeit ist gekommen, Yasha! Nimm deinen Talisman ab und wirf ihn weit weg!«, zischte er drohend. »Du hast unser kleines Spiel verloren! Schau, wen ich hier hab!« Nebliger Atem quoll aus seinem Mund, als er ein kleines Püppchen hochhob und es anpustete. Der weiße Dunst formte eine Gestalt. »Mutter Gössler!«, rief Yasha verzweifelt und starrte auf seine Ziehmutter, die qualvoll zuckte. Der Schwarzmagier grinste und warf die kleine Puppe achtlos auf den Boden. »So, Yasha! Jetzt zeige ich dir, wer noch alles hier ist! Auch deine richtigen Eltern habe ich gefangen! Es liegt ganz allein an dir, wie lange sie leiden!«, sagte er mit gefährlich sanfter Stimme und blies seinen Atem über die anderen Gegenstände. Yasha sah Vater Gössler, Onkel Kyril, Panna, Androsh, den Riesen, Steju, Marisa, die einen kleinen Jungen auf dem Arm trug, und da waren auch seine Eltern. Olav Zürban schlug mit der Hand durch den Nebel und die Gestalten verschwanden. Yasha war wie versteinert. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Die Gedanken wirbelten durcheinander. »Was soll ich tun? Onkel Kyrils Stein ist zu klein! Zu klein für was? Der Talisman ist ein Stein der Weisen. Soll ich ihn ins Elixier werfen? Aber dann ist er für immer verloren. Was wird Vater dazu sagen?«

Lauernd näherte sich der Schwarzmagier. Es knirschte leise unter seinen Stiefeln. »Ich kann, ich kann, ich kann dich besiegen!«, dachte Yasha und ging langsam rückwärts, bis er neben dem Arbeitsplatz von Onkel Kyril stand. Hinter sich hörte er ein vertrautes Klicken. Graf Gregorio hatte den Geigenkasten geöffnet.

Mit zitternden Händen streifte Yasha den Talisman über den Kopf. Dicke Tränen rollten über seine Wangen, als er ihm einen letzten Kuss gab. Über Olav Zürbans Gesicht glitt ein triumphierendes Lächeln: »Gut so, mein Kleiner! Nun lege ihn brav auf den Tisch!«, schmeichelte er. In diesem Moment erklang ohrenbetäubende Musik. Graf Gregorio strich wie ein Teufelsgeiger über die Seiten. Irritiert zuckte der Schwarzmagier zusammen. Yasha zielte und warf den steinernen Schmetterling in hohem Bogen ins Elixier. Es brodelte, dicke rote Blasen stiegen an die Oberfläche, als die beiden Steine der Weisen ihre Kräfte vereinten. Sie spürten das Böse in ihrer Nähe und machten sich bereit, es zu vernichten. »Jetzt!«, brüllte Graf Gregorio und die kleine Geige spielte so schrill, dass die zähe Flüssigkeit aus dem Topf geschleudert wurde.

Spiralförmige Kreise ziehend flog das Elixier durch den Raum. Geistesgegenwärtig warfen sich Yasha und Graf Gregorio zu Boden. Immer enger wurden die Kreise, als das Elixier sein Ziel entdeckte. Gnadenlos wickelte es sich um Olav Zürban. Innerhalb weniger Minuten brannte er wie eine Fackel und seine Schreie hallten von den Wänden. Krachend flog die Ofentür auf. Der Schwarzmagier wurde hochgehoben und in den Ofen gezerrt. Mit einem lauten Knall schloss sich die Tür hinter ihm!

Die Reste

des glühenden

Elixiers tauchten den Raum in rötliches Licht und die Luft begann zu pulsieren. Eine unendliche Stille begleitete den Sieg des Guten über das Böse. Es fühlte sich an wie der Sonnenaufgang an einem Junimorgen. Yasha lag am Boden und hielt schützend die Arme über seinen Kopf. Als ihn jemand sanft an der Schulter berührte, sah er auf und schaute in das lächelnde Gesicht von Mutter Gössler. Mit einem Freudenschrei warf er sich in ihre Arme. »Alles ist gut, mein Liebling. Komm! Steh auf! Ich bringe dich zu deinen Eltern!«, sagte sie und half ihm auf die Beine. In diesem Moment verdunkelten die schwarzen Schmetterlinge die Sicht. Aufgeregt flatternd drängten sie sich um den Jungen. Lächelnd hob Yasha die Hand. Silberne Funken sprühten, als die Falter seine Finger berührten. Als weiße Schmetterlinge zerstreuten sie sich und gaben den Blick frei. Da sah Yasha sie: die Menschen, die er liebte. Vater Gössler, Onkel Kyril, Panna, Androsh, den Riesen, Steju, Marisa mit ihrem kleinen Sohn.

Yashas Blick fiel auf ein Paar, das ihn mit strahlenden Augen ansah. Schüchtern schaute er zurück. »Yasha! Mein geliebter Sohn! Ich bin so stolz auf dich!«, schallte die Stimme Laszlo Dvorachs zu ihm herüber. Yasha rannte los und fiel seinen Eltern in die Arme. Gerührt sahen die anderen zu.

Dem Riesen kullerte, platsch,

eine große Träne

herunter! Verlegen grinste er in die Runde. Da fingen alle an, laut zu lachen. Sie umarmten sich und verließen tanzend vor Freude Onkel Kyrils Laboratorium. Und die weißen Schmetterlinge: Sie flatterten hinterher.

Der Talisman
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