Nachdem Yasha das Krankenhaus verlassen hatte, blieb er in Granada und versuchte dem Sinn der geheimnisvollen Worte »Trennung des Wassers« auf die Spur zu kommen. Denn eines war ihm inzwischen klar geworden: Wer auch immer ihm diesen Zettel zugespielt hatte, es sollte ein Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner Eltern sein.

In der altehrwürdigen Universität sprach Yasha mit vielen gelehrten Professoren, aber keiner konnte ihm einen Hinweis darauf geben, an welchem Ort sich die Trennung des Wassers vollzieht. Eine vage Spur schien Gibraltar zu sein, dort treffen das Mittelmeer und der Atlantik aufeinander. Also reiste Yasha zum berühmten Felsen von Gibraltar. Dort ist die Entfernung zwischen Afrika und Europa am kürzesten. Diese Meerenge wird auch »das Tor zum Mittelmeer« genannt. Aber von »Trennung des Wassers« war hier keine Rede, denn nichts trennt die beiden Gewässer. Yasha sah ganz deutlich, dass sie sich vermischten.

Enttäuscht und ratlos

reiste der Junge

nach Granada zurück. Das Rätsel um die Trennung des Wassers stellte ihn vor ein schier unlösbares Problem. Missmutig betrat Yasha die kleine Herberge, in der er ein einfaches Zimmer gemietet hatte. Señora Emilia sah auf und runzelte die Stirn, als sie Yashas langes Gesicht sah. »Der arme Junge!«, dachte die alte Dame und umrundete erstaunlich flink den Tresen der Rezeption, um ihn zu begrüßen. Mit ihrem Gehstock deutete sie resolut auf eine verschlissene Sitzgruppe. Widerwillig ließ sich Yasha auf der Kante des Sofas nieder. Aus Erfahrung wusste er, dass er weder Señora Emilias Fürsorge noch ihrem gesunden Kräutertee entgehen konnte, bevor er ihr alles über seine Reise nach Gibraltar erzählt hatte.

Nach einer Stunde stieg Yasha endlich die schmale Treppe zu seinem Zimmer hoch. Das Gespräch mit Señora Emilia hatte ihm gut getan. Und die weise alte Frau hatte ihm sogar einen guten Tipp gegeben: Er sollte den Stadtteil Sacromonte aufsuchen. Hier leben tausende von Zigeunern in Wohnhöhlen, die den ganzen Berghang durchziehen. »Frag die Zigeuner, mein Junge, sie kommen weit in der Welt herum. Vielleicht können sie dir helfen!«

Noch am selben Abend schlenderte Yasha durch die verwinkelten Gässchen des Zigeunerviertels. An einem Briefkasten blieb er stehen und warf den Brief an Mutter und Vater Gössler ein, den er in der Herberge geschrieben hatte. Die gefährlichsten seiner Abenteuer hatte er natürlich weggelassen, denn Mutter Gössler sollte sich keine Sorgen machen. Sie machte sich nämlich schnell Sorgen. Sacromonte ist ein buntes und lebendiges Viertel. Sobald die Sonne untergeht und sich die Schatten der Nacht über die Stadt legen, werden auf den Plätzen Lichter entzündet und die rhythmischen Klänge des Flamencos lassen die Luft vibrieren. Die schmalen verschlungenen Wege reflektieren noch die Hitze des Tages. Schwerer Duft von Blumen, mit denen die Einwohner ihre Mauern schmücken, liegt in der Luft und dazwischen mischt sich der verlockende Geruch der Garküchen, die auf den Plätzen des Viertels ihre Speisen anbieten.

Yasha setzte sich in ein kleines Café und bewunderte die feurigen Tänze, die Liebe, Leidenschaft und Ehre ausdrückten. Ein besonders talentierter Flamencosänger sang hinreißend schöne Geschichten aus seinem Leben. »Die weise Frau hatte Recht. Hier in Sacromonte«, dachte Yasha, »finde ich vielleicht meine Eltern oder bekomme wenigstens einen Hinweis darauf, wo ich sie finden kann.«

Von nun an ging Yasha jeden Abend, sobald die Sonne unterging, zum Zigeunerberg. Er setzte sich immer in dasselbe kleine Café. Dort lauschte er dem dunkelhaarigen Flamencosänger, dessen Gesang ihn so faszinierte. Doch es vergingen Wochen, bevor Yasha es wagte, den Sänger zu fragen, ob er ihm bei seiner Suche helfen könnte.

»Amigo!«, sagte der dunkelhaarige Sänger. »Ich habe dich jeden Abend hier gesehen und deine Augen verrieten mir: Der Junge sucht etwas! Also sprich, Amigo, sprich!« Und Yasha schüttete ihm sein Herz aus. Lange blieb der Sänger still und nachdenklich, dann deutete er auf den Talisman: »Du bist Yasha, nicht wahr? Ja, der bist du! Deine Eltern lebten eine Weile hier in Sacromonte. Sie waren aus Afrika gekommen. Aber das ist schon lange her. Dein Vater verdiente sich ein bisschen Geld, indem er hier auf den Plätzen des Viertels sang. Und singen konnte er, Amigo! Die Stimme deines Vaters hat uns bezaubert! Er sang auf Russisch, glaube ich.« »Auf Ungarisch!«, verbesserte ihn Yasha. »Aber woher weißt du meinen Namen?«

»Die Lieder deines Vaters

handelten

immer von dir, seinem verloren gegangenen Sohn. Du siehst deinem Vater sehr ähnlich. Claro, du verstehst! Vor einiger Zeit sind deine Eltern weitergezogen, dorthin, wo sich die Trennung des Wassers vollzieht, aber wo das ist, kann ich dir leider nicht sagen.« Der Sänger lächelte Yasha zu und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu und stimmte ein so unendlich trauriges Lied an, dass sogar die Kastagnetten ein bisschen weinerlich klapperten. Yasha unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Wieder einmal hatte er seine Eltern knapp verpasst. Geistesabwesend bestellte er sich einen Kaffee »solo«. Das ist ein Kaffee ohne Milch und Zucker. »Solo« heißt auf Spanisch auch »alleine« und genau so fühlte sich Yasha in diesem Moment.

Um sich abzulenken,

griff der Junge nach

einer Zeitung. Geistesabwesend überflog er die Überschriften der Artikel: Stierkampf in Córdoba: Stier sprang über die Barrikade. – Orangenernte: ein Rekordjahr! – Eröffnung: Seine Majestät, der König von Spanien, eröffnet eine große Picasso-Ausstellung.

Yasha blätterte weiter, da las er eine Überschrift, die ihn elektrisierte: »Dem Geheimnis auf der Spur: Schreckliches Unwetter in Brasilien überrascht eine Gruppe Wissenschaftler, die dem Rätsel der Trennung des Wassers auf der Spur sind!«

Gespannt las Yasha den Artikel. Ein Hagelsturm hatte in Brasilien hunderte von Dörfern verwüstet. Die Hagelkörner, viele waren größer als Orangen, brachten auch einen Dampfer in der Nähe von Manaus zum Kentern. An Bord befanden sich der berühmte Professor de Sellia aus Spanien und eine Gruppe Wissenschaftler, die das Rätsel der Trennung des Wassers erforschten. Die magischen Aspekte der Trennung des Wassers sollten von dem Zauberer Dvorach und seiner Frau erforscht werden. Die Trennung des Wassers ist eine ausgesprochen rätselhafte und interessante Naturerscheinung. Das schwarze Wasser des Flusses Rio Negro mündet in die gelben Fluten des Amazonas. Auf einer Strecke von zehn Kilometern fließen beide Gewässer nebeneinander her, ohne sich zu vereinen. Geradlinig, wie zwei Straßen.

Yasha war

entzückt, er hatte

das Rätsel auf dem Zettel gelöst. Seine Eltern waren in Brasilien. Gespannt las er das Ende des Artikels: Professor de Sellia und die Wissenschaftler waren mit dem Schrecken davongekommen. Nur der Kapitän des Dampfers hatte eine sehr schwere Kopfverletzung erlitten. Man vermutete, dass er von einem großen Diamanten am Kopf getroffen worden war. Denn als die Hagelkörner geschmolzen waren, funkelte direkt neben dem blutenden Kopf des ohnmächtigen Kapitäns ein riesiger Diamant. Ein rätselhaftes Wunder! Der kostbare Diamant wurde ins San-José-Museum in Manaus gebracht und dort ausgestellt. Die Zeitungen in Brasilien übertrieben fürchterlich. Sie schrieben, dass es statt Hagelkörner Diamanten geregnet hätte, und bauschten das Geschehen gewaltig auf.

Angelockt durch diese falschen Berichte zogen tausende von Mineiros, das sind Gold- und Diamantensucher, zum Fluss. Sie hofften, hier die so genannten Diamanthagelkörner zu finden. Die Regierung musste eingreifen, denn viele Mineiros ertranken, als sie nach den Diamanthagelkörnern tauchten, oder wurden von hungrigen Krokodilen gefressen.

Yasha ließ die Zeitung sinken. Der Talisman war sehr heiß geworden. Der Junge schaute ihn nachdenklich an: Seine Eltern waren in Brasilien! Und der Diamant, das konnte sich Yasha gut vorstellen, könnte der Diamant des Sultans von Suzibo gewesen sein, der ihm auf dem Wolkenfetzchen entwischt war. Der Talisman unterbrach Yashas Gedankengänge, er wurde jetzt ungeduldig heiß und leuchtete stark. »Also gut, Talisman!«, sagte Yasha: »Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche nach Manaus zur Trennung des Wassers zu gelangen! Aber, Talisman, bitte sanft!«

Tropische Hitze brachte Yasha zum Schwitzen und die schrillen Laute des Dschungels klangen betäubend in seinen Ohren. Er fühlte sich ein bisschen schwummerig, denn der Boden unter ihm schwankte leicht. Irritiert kniff der Junge die Augen zusammen. Er trieb auf einem Riesenblatt mitten auf einem Fluss! Plötzlich erklang ein Ruf: »Hallo, du da, soll ich dir helfen?« Yasha hob den Kopf. Vor ihm, auf einem langen, schmalen Holzboot, stand ein Junge und winkte ihm zu. Das Blatt war zwei Meter breit und schaukelte gefährlich, als Yasha zu dem fremden Jungen ins Boot kletterte. Später erfuhr er, dass das Blatt eine Art Seerose war, die Victoria Regia heißt, und dass er sich auf dem Amazonas befand.

Der Junge ruderte Yasha zum Ufer und deutete mit der Hand auf zwei gigantische Bäume: »Wenn die Sonne genau zwischen den Bäumen erscheint, kommt hier der Dampfer nach Manaus an.« Und so war es auch.

Yasha drängte sich zwischen vielen anderen wartenden Passagieren auf den voll beladenen Dampfer. Vom Bug des Schiffes aus hatte er eine wunderbare Aussicht auf den Amazonas. Dichter Dschungel säumte die Ufer. Die Pflanzen leuchteten in saftigem Grün und das Sonnenlicht zauberte goldene Reflexe in die Blätter. Flinke Affen sprangen durch die Bäume und bunt schillernde Papageien flogen in Schwärmen auf, sobald der Dampfer an ihnen vorbeifuhr. Im Fluss schwammen seltsam leuchtende Wasserpflanzen. Das Zischen und Stampfen des Dampfers wurde vom Lärm des Dschungels übertönt. Die Luft flirrte nur so vom Zirpen der Zikaden, dem Schreien der Brüllaffen und dem Gekreisch der Vögel. Es war fast so, als hätten sich die Tiere des Dschungels versammelt, um im Konzert zu fordern: »Hier ist unser Paradies. Schützt es und sorgt dafür, dass das so bleibt!« Dann sah Yasha die Trennung des Wassers mit eigenen Augen. Der Dampfer hatte die Stelle erreicht, an der der Rio Negro in den Amazonas mündet. Schon von weitem sah Yasha, dass der Fluss aus einer schwarzen und einer gelben Wasserbahn bestand. Und im Moment sah es nicht so aus, als würde sich das Wasser je miteinander vereinen. »Trennung des Wassers!«, krächzte ein alter Mann neben Yasha leise. »Ein großes Wunder!« Dann deutete er mit seinem mageren Arm auf ein Schiffswrack, das schräg im schwarzen Wasser lag und bekreuzigte sich. »Der schreckliche Hagel!«, sagte der Alte. »Hagel, so groß wie mein Kopf! Sehr schlecht!« Der Rest der Fahrt verlief ohne besondere Vorfälle und Yasha schmiedete einen Plan.

Als der

Dampfer in Manaus

anlegte, fragte er den alten Mann, der noch immer neben ihm an der Reling lehnte, nach dem Weg zum San-José-Museum. Der Alte deutete mit seiner Hand auf ein riesiges, prächtiges Gebäude und erzählte Yasha, dass sich das Museum direkt neben dem Opernhaus befand.

Dann begann der alte Mann in Erinnerungen an die Zeit zu schwelgen, in der Manaus durch den Handel mit Kautschuk eine sehr reiche Stadt gewesen war. Er hatte als junger Mann auf einer der Kautschukplantagen gearbeitet. In früheren Zeiten konnte man Gummi nur aus dem kostbaren weißen Saft des Kautschukbaumes herstellen. Schon die Indianer Amazoniens wussten den Saft des Kautschukbaumes zu nutzen. Sie nannten ihn den Baum, der Tränen weint, denn wenn man den Stamm des Kautschukbaumes anritzte, quoll der dickflüssige, weißliche Saft wie Tränen aus dem Schnitt. Der alte Mann redete noch immer und bemerkte nicht, dass Yasha schon längst weitergeeilt war. Im Museum war es herrlich kühl. Gleich im ersten Raum entdeckte Yasha den Diamanten. Er war in einer Vitrine ausgestellt. Der Junge drückte seine Nase an der Scheibe platt und betrachtete ihn genau. An einem kleinen Riss im Stein erkannte er sofort, dass das der Diamant des Sultans von Suzibo war! Langsam schritt ein Wächter durch den Raum. Missmutig registrierte er die Finger- und Nasenspuren, die Yasha auf der Glasvitrine hinterließ. Er wollte gerade zu einer Strafpredigt ansetzen und zuckte erstaunt zurück, als Yasha ihn anbrüllte: »Der hier gehört mir! Das ist mein Diamant. Ich habe ihn vom Sultan von Suzibo, der Diamant ist auf einer Wolke hierher gekommen. Machen Sie sofort die Vitrine auf!«

Es dauerte einen Augenblick, bis der Wächter sich von seinem Staunen erholt hatte und in der Lage war, seiner Empörung Luft zu verschaffen: »Wie bitte, du frecher Bengel? Rede nicht so einen Unfug. Sieh zu, dass du hier weg kommst!« Aber Yasha brüllte und tobte weiter um die Vitrine mit dem Diamanten herum. Dem Wärter riss nun endgültig der Geduldsfaden: »Pass auf, dass ich dich nicht selbst in eine Wolke verwandle!«, brüllte er außer sich vor Wut.

Angelockt durch

das Geschrei

liefen mehrere Wächter und viele neugierige Besucher in dem Raum mit der Vitrine zusammen. Unter ihnen auch der Bürgermeister und einige Würdenträger von Manaus. Wieder einmal steckte Yasha in ernsten Schwierigkeiten. Da fiel ihm sein Talisman ein. »Talisman, lass dir was einfallen, aber schnell!« Der Talisman ließ es dreimal ganz laut knallen, Funken flogen durch die Luft und schon stand Yasha in einem Sultansgewand vor der verdutzten Menge. Auf seinem Turban glänzte der große Diamant aus der Vitrine. Total verstört schauten die Umstehenden von der Vitrine zum Turban und vom Turban zur leeren Vitrine. »Macumba, Macumba, starker Zauber!«, schrien sie erschrocken. Macumba ist in Brasilien ein alter Volksglaube, zu dem die Hexerei mit weißer und schwarzer Magie gehört. Mit jemanden, der Macumba ausübt, möchte niemand etwas zu tun haben, denn vor den Zaubersprüchen fürchten sich alle Brasilianer sehr. Die große Menge verängstigter Menschen stand wie eine Wand vor Yasha. Keiner sprach etwas, keiner rührte sich. Alle waren wie versteinert.

Als Yasha anfing, seine Geschichte zu erzählen, bekreuzigten sich die Leute. Der Junge berichtete vom Zettel, auf dem nur die Worte »Trennung des Wassers« gestanden hatten und dass er seit Jahren auf der Suche nach seinen Eltern war.

Der Bürgermeister nahm seinen ganzen Mut zusammen und deutete auf den Talisman. »Dieser Talisman …!«, flüsterte er. »Ich habe von ihm gehört.« Und er berichtete Yasha, dass seine Eltern für Professor de Sellia gearbeitet hatten. Der Zauberer Dvorach hatte dem Bürgermeister von seinem verlorenen Sohn und dem Talisman erzählt. »Wo sind sie?«, unterbrach Yasha ganz aufgeregt. Beruhigend tätschelte der Bürgermeister Yasha die Schulter und nahm seine Erzählung wieder auf.

Professor de Sellia war inzwischen nach Spanien zurückgekehrt. Aber das Ehepaar Dvorach musste in Brasilien bleiben, da sie kein Geld für die Überfahrt besaßen. Von den Mineros, die glaubten, dass es Diamanten geregnet hätte, erfuhren sie von Rondônia, der Diamant-Hölle Brasiliens, einem sehr schlechten und bösen Ort. An die Berichte aus den Zeitungen, dass es am Amazonas Diamanten geregnet hätte, glaubten die Dvorachs nicht. Aber dass in den Minen von Rondônia Diamanten zu finden waren, da waren sie sich sicher. Und da sie schnell zu Geld kommen mussten, um in Europa nach ihrem Sohn suchen zu können, machte sich das Ehepaar Dvorach auf den langen und beschwerlichen Weg nach Rondônia.

Die Umstehenden

hatten sich entsetzt

bekreuzigt, als der Name Rondônia fiel. »Ja«, sagte der Bürgermeister, »Rondônia ist in der Tat ein fürchterlicher, gefährlicher Ort. Viele Diamanten, viele schlechte Menschen und der Tod warten auf jeden, der sich dorthin wagt!« Große Tränen kullerten Yashas Wangen hinunter. Seine Eltern hatten sich wegen ihm in Lebensgefahr begeben. »Ach, Talisman! Was machen wir jetzt?« Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten! Am Eingang des Museums ertönte ein unheimliches, heiseres Krähen. Beunruhigt lauschten alle den langsamen, schlurfenden Schritten, die von einem leisen, hellen Klimpern begleitet wurden und sich mit erschreckender Langsamkeit dem Raum näherten. Aus dem Halbdunkel des Flures tauchte ein dämonisches Wesen auf: Es war schwarz wie die Nacht, mit wirren, leuchtenden Augen und schäumendem Mund. An den Fetzen, das es trug, hingen hunderte kleiner Amulette, die leise vor sich hin klimperten. Unter dem Arm trug das Wesen einen Hahn, der furchtbar laut zu kreischen begann. Mit einem einzigen Schnitt durchtrennte der Macumbista dem Hahn die Kehle. Das Blut spritzte durch den Raum. Yasha war entsetzt. Schnell griff der Bürgermeister nach seinem Arm: »Warte, Yasha, der Macumbista wird jetzt deuten!« Der Macumbista schaute auf die Muster, die das Blut des Hahns auf dem Boden hinterlassen hatte, dann beugte er sich hinunter und strich mit seinen Fingern durch die frischen Blutspuren. Dabei machte er merkwürdige zuckende Bewegungen und fing an, heftig zu zittern. »Weg!«, schrie er auf Yasha zeigend: »Weg! Der Junge und sein Diamant werden sonst großes Unglück über Manaus bringen. Weg, weg, weg!«

In diesem Augenblick zerplatzte die Vitrine mit einem lauten Knall in tausend Scherben. Der Macumbista fiel von seiner Deutung erschöpft in Ohnmacht. Schnell wurde er von zwei Museumswächtern aus dem Raum getragen. Yasha war so verängstigt, dass seine Zähne laut klapperten. Auch die umstehenden Leute fürchteten sich und gerieten in Panik. Sie drängelten und schubsten, um möglichst schnell aus dem Museum zu entfliehen. »Du musst hier weg, Yasha!«, sagte der Bürgermeister dramatisch und schob Yasha mit sanftem Nachdruck vor sich her. Der arme Junge konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen, seine Beine schlotterten erbärmlich und fühlten sich an wie butterweiches Gummi. »Geh fort von hier und nimm den Diamanten mit, aber geh nicht nach Rondônia, denn das ist die Hölle!«, flüsterte der Bürgermeister dicht neben Yashas Ohr.

Aber genau das hatte Yasha vor. Denn er musste seine Eltern finden, koste es, was es wolle! »Talisman!«, murmelte er leise. »Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche nach Rondônia zu gelangen.« Es ruckelte und blitzte um ihn herum und ehe er sich versah, landete Yasha mit einem dumpfen Aufschlag direkt auf seinem Hosenboden. Schniefend wischte er sich den Dreck aus dem Gesicht. Yasha befand sich am Rand eines riesigen Kraters. Hier war wirklich die Hölle. Undurchdringlicher Dschungel grenzte an eine riesige Fläche aus schier endlosen Mengen an Geröll, Sand und stinkendem Schlamm. Vorsichtig spähte der Junge in den Krater hinunter. Hier in der Diamantmine von Rondônia arbeiteten tausende von abgemagerten, schlammverkrusteten Menschen in der glühenden Hitze. Auf dem matschigen Boden des Kraters schlugen ausgemergelte Elendsgestalten das harte Gestein in kleine Stücke, andere füllten ihre Tragekörbe damit. Auf wackligen Leitern kletterten die Träger unermüdlich mit den schweren Körben auf dem Rücken nach oben.

Am Rande

des Kraters neben

einem steinernen Gebäudekomplex schütteten sie unter strenger Aufsicht ihre Körbe vor schwer bewaffneten Männern aus. Yasha sah, dass einige so erschöpft waren, dass sie von den Leitern abrutschten und in den Krater herabstürzten. Es war ein trostloser Anblick. Die Vorstellung, dass seine Eltern hier in Rondônia waren, ließ ihn verzweifeln.

Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf Yashas Schulter und der Junge fuhr erschrocken zusammen: »Fauler Bengel, was sitzt du hier herum? Scher dich sofort an die Arbeit!« Langsam drehte sich Yasha um. Vor ihm stand ein gewaltiger Kerl mit einem Gewehr in der Hand, ein Aufseher. Hastig versuchte Yasha zu erklären, dass er nicht zu den Arbeitern gehörte. Da brüllte der Aufseher: »Wo ist dein Schein? Der Passierschein?«

Natürlich besaß Yasha keinen Passierschein, der ihm erlaubt hätte, sich frei auf dem Gelände der Diamantmine zu bewegen. Völlig eingeschüchtert starrte er den Mann mit dem Gewehr an. »Ich … ich suche meine Eltern!«, stotterte Yasha. »Sie sind hier in Rondônia!« Ein Anflug von Mitleid huschte über das harte Gesicht des Aufsehers. »Verschwinde, sonst kommst du lebenslänglich in den Krater und das Leben hier ist kurz!«, knurrte er dem Jungen zu. In Panik rannte Yasha davon. Immer wieder rutschte er auf dem glitschigen Schlamm aus und verletzte sich an den scharfkantigen Steinen, die hier überall lagen. Nachdem er fast den halben Krater umrundet hatte, blieb Yasha erschöpft liegen. Eine Frau und ein Mann, die mit leeren Körben auf dem Rücken zurück in Richtung Krater eilten, halfen Yasha auf die Beine. Mit einem scheuen Lächeln hob die Frau den völlig verdreckten Talisman auf, wischte ihn an ihrem Rock ab und reichte ihn Yasha. Der Junge bedankte sich. Das Paar schaute Yasha lange an, als wollten sie ihm etwas sagen. Da tauchte auch schon einer der brutalen Aufseher auf. Erschrocken duckte sich das Paar und eilte hastig auf die steile Leiter zu, die in die Grube führte. Am Rand des Kraters blickten sie noch einmal verzweifelt zurück zu Yasha. Dann verschwanden sie eilig in die Tiefe.

Augenblicklich fiel es Yasha wie Schuppen von den Augen: Die beiden waren seine Eltern. Seine Eltern! Er fühlte ganz tief in sich, dass es so war! Sie hatten ihn so lange angeschaut und wahrscheinlich das Gleiche gefühlt wie er!

»Halt, halt!«,

schrie er. »Ich

bin Yasha und ich habe den …« Der Talisman verbrannte ihm die Hand, so dass er laut aufschrie: »Aua!« Und so stand Yasha am Rand des Kraters und wusste nicht, was er tun sollte. Ein Zug Träger, angetrieben von ihren Aufsehern, hastete an Yasha vorbei, ohne ihn zu beachten. Auf einmal zupfte ein kleiner Junge, der einen schweren Wasserkanister schleppte, Yasha am Ärmel und hob wortlos einen verbeulten Blechbecher. Yasha nickte dankbar. Der kleine Junge stellte seinen Kanister auf den Boden und füllte den Becher mit Wasser. Yasha nahm einen tiefen Schluck. »Kennst du meine Eltern, sie heißen Dvorach?«, flüsterte Yasha und schaute dabei ängstlich zu den Aufsehern, die die Trägerkolonne bewachten. »Ja!«, hauchte der kleine Wasserträger leise. »Bitte gib das meinen Eltern!«, sagte Yasha und ließ den Diamanten unauffällig in den leeren Becher plumpsen. In diesem Moment starrte einer der Aufseher zu ihnen herüber.

Der kleine Wasserträger

zuckte zusammen, schnappte sich hastig seinen Kanister und nahm Yasha den Becher aus der Hand. Dann kletterte er eilig die Leiter in den Krater hinunter. »Gib den Diamanten meinen Eltern, damit sie aus dieser Hölle entfliehen und nach Europa zurückreisen können!«, rief Yasha dem Wasserträger hinterher. »Du hast Glück! Du hast noch Eltern und wirst sie bald wiedersehen! Ich bin ganz allein auf der Welt und ich werde hier in Rondônia sterben«, tönte es aus der Tiefe des Kraters zurück. Da wurde der Talisman ganz warm und Yasha beugte sich gefährlich weit über den Rand. Nun konnte er den Jungen, der sich mit Tränen in den Augen an der Leiter festklammerte, sehen: »Sag meinen Eltern, ich hätte gesagt, du solltest mit ihnen reisen! Nun sieh zu, dass du sie so schnell wie möglich findest. Und verlier den Diamanten nicht!«

Yasha streifte sich seinen Glücksbringer vom Hals und ließ den Talisman an dem alten Stoffband über dem Abgrund baumeln, damit der kleine Wasserträger ihn sehen konnte. »Beschreib meinen Eltern den Talisman, dann werden sie wissen, dass ich wirklich hier war!«

Olav Zürban lag auf seinem frisch bezogenen Bett im Quartier der Minenaufseher. Für heute war sein Wachdienst vorbei und darüber war er sehr froh, denn der Dreck in Rondônia war ihm zutiefst zuwider.

Wohl zum

hundertsten Mal

stellte er sich die Frage, warum er dem Jungen im Krankenhaus den Zettel mit dem Hinweis auf die Trennung des Wassers zugespielt hatte. Das war wirklich dumm von ihm gewesen. Nun blieb dem Schwarzmagier nichts anderes übrig, als hier in Rondônia persönlich auf sein Opfer zu warten. Böse starrte er mit seinem zweifarbigen Blick auf das Wellblechdach, unter dem sich die Hitze unbarmherzig staute, als erwarte er von dort eine brauchbare Antwort.

Natürlich wusste er, dass Yasha wieder im Besitz seines Talismans war. Einer seiner schwarzen Schmetterlinge war dabei gewesen, als der Arzt dem Jungen seinen Glücksbringer zurückgegeben hatte. Innerhalb von Sekunden hatte der magische Schutz des Talismans Yasha in ein unsichtbares Nichts aufgelöst und dem flatternden schwarzen Spion war es nicht möglich gewesen, dem Jungen durch Granada zu folgen.

Nach einem letzten Blick in den Krater zog sich Yasha vorsichtig zurück. Mehr konnte er für seine Eltern und den kleinen Wasserträger nicht tun. Wenn er hier in Rondônia blieb, bestand die Gefahr, dass er die Situation nur verschlimmerte. Hastig versteckte sich der Junge hinter einem Stapel leerer Körbe und flüsterte: »Talisman! Ich muss hier weg! Schnell! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche zurück nach Ungarn zu gelangen!«

Der Talisman
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