Kaum hatte Yasha sich gewünscht, auf die Insel Cabeluda zu gelangen, donnerte es ganz schrecklich und der Talisman zauberte ihn unsanft auf einen einsamen Strand.

Das Meer gurgelte und schäumte, heftiger Regen prasselte vom Himmel. Angewidert spuckte Yasha die eklige Mischung aus Salzwasser und Sand aus, da türmte sich schon die nächste riesige Welle vor ihm auf. Der Junge hielt die Luft an und krallte die Hände in den Sand, als das Wasser ihn überrollte. Das Meer zerrte mit aller Kraft an ihm. Mühsam rappelte er sich auf und brachte sich in Sicherheit.

In der Ferne entdeckte Yasha ein kleines Fischerdorf. Flink kletterte er über die glatten Felsen am Ufer. Der schmale Pfad, der zu den ärmlichen Häusern führte, war vom vielen Regen ganz schlammig. Kein Mensch war zu sehen. »Natürlich werden die Leute in ihren Häusern sein. Bei diesem Sturm würde man ja nicht einmal einen Hund vor die Tür jagen«, dachte Yasha und wischte sich eine nasse Haarsträhne aus den Augen. Da entdeckte er die Dorfbewohner. Sie saßen auf dem überdachten Teil des Dorfplatzes, unterhielten sich und flickten dabei ihre Netze. Schüchtern näherte er sich. »Hallo«, stellte er sich vor, »ich heiße Yasha und komme aus Budapest. Ist das hier die Insel Cabeluda?« Die Menschen starrten ihn erschrocken an. Eine Frau schrie hysterisch: »Ein Geist! Schon wieder ein Geist, schnell weg!« Die Leute gerieten in Panik. Sie schubsten und drängelten, um möglichst schnell aus Yashas Reichweite zu kommen, und versteckten sich in ihren Häusern.

Nur ein alter,

grauhaariger Mann hatte

sich nicht von der Stelle gerührt. Bedächtig legte er das Netz, an dem er gearbeitet hatte, neben sich auf den Boden und ging auf Yasha zu. Der Junge zuckte erschrocken zusammen, als der alte Mann ihn mit ausdrucksloser Miene am Ärmel griff und hinter sich herzog.

Nach wenigen Metern blieb er vor einem ärmlichen Fischerhäuschen stehen. Eilig schob der alte Mann Yasha ins Haus und verriegelte sorgsam die Tür hinter sich.

»Ich«, sagte der Fischer unsicher und vermied dabei, Yasha anzusehen, »ich bin der Dorfälteste, Manolo Groß. Bist du vom Himmel gefallen? Mit einem Schiff bist du jedenfalls nicht gekommen. Denn mir wurden heute keine Boote gemeldet! Und von einer Insel oder einem Hafen namens Budapest habe ich noch nie etwas gehört.« »Budapest ist eine Stadt in Europa. Ich muss auf die Insel Cabeluda, um meinen Vater …«, setzte Yasha zu einer Erklärung an. Doch der alte Mann unterbrach ihn und raufte sich seine grauen Haare: »Heilige Santa Maria der Fischer, du bist der wandernde Geist eines Schiffbrüchigen!«

Manolo Groß

hatte allen Grund

sich zu fürchten, denn in der letzten Zeit war das Dorf ungewöhnlich oft von Geistern der verschiedensten Art heimgesucht worden. Die »Wandernden« waren besonders gefährlich. Sie brachten Krankheiten und Missernten. Bisher hatte man die Spukgestalten erfolgreich mit Messern und Äxten verjagen können, aber ob das jedes Mal klappen würde? Die Fischer lebten in Angst und wurden sich nicht einig darüber, wie sie der Geisterplage Herr werden sollten. Darum herrschten seit Langem schon Streit und Feindschaft im Dorf.

Manolo Groß musterte Yasha heimlich. Eigentlich sah sein ungebetener Gast aus wie ein normaler Junge. Wie ein nasser Junge, ergänzte der alte Manolo seinen Gedanken, denn das Wasser tropfte aus Yashas Kleidern und bildete kleine Pfützen auf dem Holzboden. Das wirkte irgendwie recht menschlich. Trotzdem gefiel es dem alten Fischer gar nicht, mit diesem Geist allein zu sein und er wollte ihn so schnell wie möglich wieder loswerden. »Yasha-Geist, bitte verlasse uns!«, flehte er. »Du bist auf der falschen Insel!« Und dann erklärte er dem Jungen, dass die Insel, auf der sie sich befanden, zu den Kapverdischen Inseln vor Afrika gehörte. Yashas Ziel jedoch, die Insel Cabeluda, liegt im Atlantischen Ozean östlich von Brasilien. Manolo Groß deutete mit seiner spindeldürren Hand aus dem Fenster: »Siehst du da unten am Strand das Segelboot? Es soll dir gehören. Du musst noch heute Nacht fortsegeln. Und, Yasha-Geist, du hast Glück: Zu dieser Jahreszeit weht der gute Nord-Ost-Passat. Mit seiner Hilfe ist es leicht für dich, Cabeluda zu erreichen. Ich bringe dir gleich Essen und Trinken für die Reise an Bord.«

Der alte Manolo Groß hatte genug Erfahrung mit Geistern, um zu wissen, dass sie weder Essen noch Trinken brauchen. Aber es ist wichtig, nett zu Geistern zu sein. »Was ist ein Passat?«, fragte Yasha neugierig. »Das ist ein Wind, den alle großen Seefahrer kennen. Ab Juli treibt er die Segelschiffe von Osten aus Europa in Richtung Westen. Aber nun, Yasha-Geist, muss ich alles vorbereiten, damit du heute Nacht aufbrechen kannst!«, erklärte Manolo Groß und bat Yasha, sich in einer Truhe zu verstecken. Heute Nacht, wenn es dunkel würde, sollte sich Yasha zum Strand schleichen, um mit dem Boot davonzusegeln und – bitte, bitte nie wieder herkommen!

Folgsam

tappte Yasha

zur schweren Holztruhe. Kaum hatte sich der eisenbeschlagene Deckel über ihm geschlossen, polterte es laut an der Tür. Yasha konnte hören, wie Manolo Groß zur Tür schlurfte und sie öffnete. Dann vernahm er aufgebrachte Stimmen.

Die gereizten Dorfbewohner drängten sich vor der Tür. Sie waren mit Messern und Äxten bewaffnet und flehten Manolo Groß an, den Geist sofort zu töten! Aber Manolo Groß weigerte sich. Mit ernster Miene wandte er sich an den Priester und befahl ihm, mit den Dorfbewohnern in die Kirche zu gehen: »Bleibt dort und betet für das Dorf, bis ich euch hole«, sagte er streng. »Bei der Heiligen Maria der Fischer: Ich verspreche, noch bevor der Mond aufgegangen ist, hat der Yasha-Geist unsere Insel verlassen!« Fluchend und jammernd folgten die Fischer ihrem Priester zur Kirche. Manolo Groß atmete erleichtert auf. Nun konnte er sich endlich um das Boot und den Proviant für den Geist kümmern. Yasha hatte alles mit angehört und zitterte vor Angst am ganzen Leib. Er war dem Dorfältesten sehr dankbar. Hätte ihn Manolo Groß nicht in der Truhe versteckt, wäre er von den Dorfbewohnern vermutlich totgeschlagen worden. Verzweifelt umklammerte Yasha den steinernen Schmetterling und flüsterte: »Oh, was hast du nur wieder getan? Warum hast du mich nicht sofort nach Cabeluda gebracht? Meine Eltern brauchen mich und ich bin doch kein Segler. Wie soll ich das Boot steuern, wie den Weg finden? Bitte leuchte wenigstens ein bisschen. Es ist hier in der Truhe so dunkel!« Doch der Talisman schwieg und tat Yasha auch nicht den Gefallen zu leuchten. Verzweifelt fing der Junge an zu weinen. Aber das hätte er besser lassen sollen.

Mit leisem

Knarren öffnete

sich die Tür. Hätte Yasha nicht so furchtbar laut geschluchzt, hätte er gehört, dass sich jemand heimlich ins Haus schlich. Die nackten Füße einer großen, schweren Person patschten durch alle Zimmer. Es raschelte und klapperte leise, denn der Eindringling stöberte überall herum. Das zufriedene Lachen, mit dem der Mann eine Handvoll Münzen in seiner Hosentasche verschwinden ließ, verriet, dass hier ein Dieb, vielleicht sogar ein Pirat am Werk war.

Augenblicke später entdeckte der Eindringling den Tresor von Manolo Groß und stellte ihn neben die Haustür, wo er bereits einen ansehnlichen Berg Beute aufgestapelt hatte.

Dann ging der Dieb auf die schwere Holztruhe zu und horchte auf. Dass eine Truhe laut schniefend heulen konnte, war dem Mann neu und irgendwie gefiel ihm das gar nicht! Nach seinem Geschmack sollten sich in Truhen nützliche Dinge wie Goldmünzen, Schmuck oder wenigstens einige Flaschen Rum befinden. Vielleicht weinte die Truhe ja, weil sie leer war, überlegte der Dieb und rückte nachdenklich sein schwarzes Piratenkopftuch zurecht. Dann näherte er sich neugierig, hob seinen riesigen Fuß, holte aus und versetzte der Truhe einen festen Tritt.

» Aua!

Sofort aufhören!«, tönte es

dumpf aus der Tiefe. Mit einem lauten Krachen flog der Deckel auf und Yasha sprang aus seinem Versteck. Der riesige Mann erschrak und rannte zur Tür, um mit seiner Beute zu fliehen. Aber Yasha war schneller und versperrte ihm den Weg – wenn man das »versperren« nennen konnte! Denn vor ihm stand ein Riese, der so groß war, dass Yasha von ihm nur den gigantischen Riesenbauch sehen konnte, der in einem rotweiß gestreiften Pullover steckte. An der Tür hob der Riese den Tresor von Manolo Groß hoch und schüttelte ihn wie eine Streichholzschachtel vor Yashas Nase hin und her.

Yasha ballte seine Fäuste und boxte heftig auf den gestreiften Bauch ein. Immer wieder: rechts, links, rechts, links – so hart er konnte. Doch er merkte schnell, dass er den Riesen so nicht besiegen konnte. Also begann er, vor seinem Gegner hin- und herzuhüpfen und ihn zu ärgern. Yasha wollte den Riesenpirat so lange aufhalten, bis Manolo Groß zurückkam.

Der Riese schlug mit dem Tresor nach Yasha. Doch der Junge war auf der Hut und wich den Hieben geschickt aus. Dabei schnitt er freche Grimassen. Aus dem Beutehaufen neben der Tür ergriff er wahllos Gegenstände und warf sie dem Riesen um die Ohren. Soeben hatte er einen Volltreffer gelandet. Die kleine geblümte Blumenvase traf den Riesen genau auf der Nase: Das hatte gesessen! »Du kleiner Schuft!«, grollte der Riese und rollte furchteinflößend mit den Augen: »Ich mach dich noch kleiner, als du jetzt schon bist. Gib auf! Die Beute nehme ich mir sowieso und bringe sie nach Cabeluda!«

Yasha horchte auf. Cabeluda … seine Eltern … und was hatte der fiese Riese dort zu suchen? Der Junge war für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt. Das nutzte der Riese sofort aus. Er drückte Yasha mit dem Tresor gegen die Wand und umklammerte seinen Hals mit einer Hand. Der Junge wehrte sich verzweifelt. Die Luft wurde knapp. Er wollte schon aufgeben, da merkte er, dass der Talisman warm wurde. »Talisman, zu Hilfe! Bitte hilf mir doch!«, röchelte er heiser. Und der Talisman half! Wie immer legte er sich ordentlich ins Zeug, wenn er bemerkte, dass Yasha es ohne seine Hilfe nicht schaffen würde.

Yasha war

plötzlich

unglaublich stark. Er riss dem erstaunten Riesen den Tresor aus der Hand und schlug ihm damit so heftig in den Bauch, dass der riesige Kerl ohnmächtig zu Boden fiel. Dann packte er ihn am Kragen und schleppte ihn hinter das Haus. Zur Sicherheit verpasste Yasha seinem Opfer noch einen leichten Schlag mit dem Tresor auf den Kopf. Geschafft! Der Junge rieb sich die schmerzenden Hände. Er war mächtig stolz.

Doch es blieb ihm kaum Zeit, sich über seinen Sieg zu freuen. In der Ferne sah er Manolo Groß vom Hafen zurückeilen. Oh weh! Er musste schnell aufräumen. Im Haus sah es sicher furchtbar aus. Erwachsene und Ordnung sind ein ganz spezielles Thema. Das wusste Yasha noch von früher, als er bei seinen Zieheltern gelebt hatte. Und eines war sonnenklar: Seine Wurfgeschosse lagen überall herum und hatten sicher alles verwüstet. Ein wenig lustlos – denn Aufräumen gehörte keineswegs zu Yashas Lieblingsbeschäftigungen – betrat der Junge das Haus. Und er staunte nicht schlecht, als er sah, dass alles wieder ordentlich an seinem Platz stand. Von Scherben keine Spur, sogar die kleine geblümte Vase, die auf der Nase des Riesen zerbrochen war, stand heil und mit frischen Blumen gefüllt auf dem Tisch! Der schwere Tresor stand wieder in seinem Versteck, als wäre nichts geschehen. Yasha war seinem guten magischen Talisman unendlich dankbar und hüpfte zufrieden in die Truhe zurück.

Da kam auch schon Manolo Groß und klopfte vorsichtig auf den Deckel der Truhe. »Schnell!«, flüsterte er. »Komm raus! Wenn die Glocken der Kirche aufhören zu läuten, musst du auf hoher See sein. Und hier, Yasha-Geist, ist eine Seekarte! Lies sie gut durch und halte dich genau an die Anweisungen, denn die Reise nach Cabeluda ist sehr gefährlich! Und nun segle davon, du wandernde Seele!«

Yasha rannte die Klippen hinunter zum Segelboot. Bald würde er seine Eltern finden. Die Segel waren schon gehisst. Und nun? Yasha war noch nie gesegelt. Er wollte fast aufgeben und Manolo Groß bitten, ihn zu begleiten, aber dann sagte er sich ganz laut: »Ich kann, ich kann, ich kann!« – und los ging die Reise. Das Einzige, was Yasha wusste, war, dass er sein Boot in Richtung Westen steuern musste.

Das Läuten von Kirchenglocken hallte über das Meer. Sicher hatte Manolo Groß den Dorfbewohnern inzwischen die gute Nachricht vom Verschwinden des Yasha-Geistes gebracht. Lächelnd schaute der Junge zurück und sah in der Ferne die Kapverdischen Inseln hinterm Horizont verschwinden. Dann ging der Mond auf. Er spiegelte sich im Wasser und tauchte das Meer in ein silbernes Licht. Es war ein wunderschöner Anblick. Der leichte, beständige Wind ließ das kleine Segelboot schnell durchs Wasser gleiten. Im hellen Mondlicht studierte Yasha die Seekarte. An mehreren Stellen waren Seeschlangen und andere Ungeheuer eingezeichnet. Manchmal stand daneben: Vorsicht! Diese Stelle unbedingt vermeiden! Gefährlich!

» Lieber Gott,

hilf mir!«,

flüsterte Yasha. Er war ganz allein auf dem zweitgrößten Ozean der Welt, dem Atlantik. Das war ein unheimliches Gefühl. Plötzlich hörte er ein unheimliches Poltern. Es kam von unten aus der Kajüte. Yasha hielt den Atem an und lauschte. Da war jemand! »Ein Seeungeheuer!«, dachte Yasha und presste seinen Talisman fest an sich. Ängstlich spähte er durch die kleine Luke nach unten. Dort erwartete ihn – im wahrsten Sinne des Wortes – eine riesige Überraschung. Der Riesenpirat hatte es sich zwischen Kisten, Fischernetzen und Taurollen gemütlich gemacht. In der Hand hielt er eine fast leere Flasche Rum. Als er Yashas verdutztes Gesicht über sich auftauchen sah, lachte er laut: »Hahaha, Mückenseele! Geh wieder ans Steuer und segle mich nach Cabeluda, wenn du das kannst! Zu trinken und essen habe ich genug! Und trödle nicht rum, meine Leute warten schon auf mich!« Dabei zeigte der Riese auf die Kisten, die Manolo Groß für Yasha auf das Boot gebracht hatte. Dann schlummerte er wieder ein. »Der Kerl ist betrunken! Ich hoffe, er wirft mich nicht über Bord!«, dachte Yasha bestürzt und kniff sich sehr fest in den Arm, um festzustellen, ob er das alles nur träumte. Aber an dem Schmerz merkte er, dass er wach war. Der Riese hatte sich an Bord geschlichen und segelte als blinder Passagier mit. Aber eigentlich war das gar nicht so schlecht, der Riese war ja ein Pirat. Und Piraten kennen sich auf dem Meer bekanntlich bestens aus. Und natürlich konnte er segeln und wusste genau, wo sich die Inselgruppe Fernando de Noronha befand, innerhalb der Cabeluda liegt.

Es wurde eine lange Nacht für Yasha. Die Strömung erfasste das kleine Segelboot und trug es immer weiter fort. Als die Sonne wie ein großer roter Feuerball am Horizont aufging, begann es in der Kajüte zu rumoren: Der Riese erwachte. Die ersten Sonnenstrahlen hatten ihn so sehr an der Nase gekitzelt, dass er heftig niesen musste. Yasha verdrehte die Augen – gleich würde es mit der morgendlichen Ruhe vorbei sein!

Schwankend

erschien der Riese

an Deck. Nachdem er sich ausgiebig gereckt und gestreckt hatte, griff er einen Eimer, lehnte sich über die Reling und füllte ihn mit Wasser. »Seelen tut das gut«, dröhnte der Riesenpirat und leerte den Eimer mit einem Schwung über Yasha aus. Der Junge kreischte und schnappte nach Luft. Das Wasser war eiskalt! »Jetzt bist du wach geworden, kleiner Wurm!«, grinste der Riese, schubste Yasha vom Steuer weg und schaute auf den Kompass.

»Du Trottel, du Pechseele! Du bist ganz und gar vom Kurs abgekommen! Hast uns direkt in die stillen Gewässer gesteuert! Rudern wirst du jetzt, du dummer Junge! Denn hier wird nie ein Windchen aufkommen! Das wird eine lange Reise!«, brüllte der Riese, denn er war furchtbar wütend. »Riese, bitte sei mir nicht böse!«, flehte Yasha ihn an. »Ich bin noch nie gesegelt und du hast so fest geschlafen, dass ich dich nicht wecken konnte. Aber ich habe die Seekarte von Manolo Groß.«

Wütend riss der Riese ihm die Karte aus der Hand. Dann knüllte er sie zusammen und warf sie ins Meer. Entsetzt rannte Yasha zum Achterdeck und fischte sie wieder aus dem Wasser. Dabei bemerkte er den großen schwarzen Schatten, direkt unter dem Boot. Gebannt starrte er in die Tiefe: »Riese! Komm mal her!«, schrie er. »Was ist das?« »Das können nur die Seeschlangen vor Sierra Leones Schwelle sein!«, brüllte der Riese. »Alle Segel runter, Axt rausholen, Enterhaken, Messer. Pechseele! Hol alles, was wir als Waffe gebrauchen können, an Deck! Die Bestien werden gleich kommen!«

Die Gegend um Sierra Leones Schwelle ist mit Seeschlangen verseucht. Genau so war es auch in der Karte eingezeichnet, die Warnung »Lebensgefährlich!« hatte Manolo Groß sogar mit einem roten Stift unterstrichen.

Schwitzend schleppte

Yasha die Waffen

an Deck. Immer mehr Seeschlangen umkreisten das kleine Boot und es dauerte nicht lange, bis die ersten angriffen. Das Segelboot begann gefährlich zu schaukeln. Der Riese und Yasha versuchten, die Schlangen mit ihren Enterhaken zurück ins Wasser zu schieben. Aber es waren zu viele! Einige der glitschigen Seeungeheuer hatten sich fest um die Reling gewickelt und ließen sich von dort aus aufs Deck fallen. Plötzlich verlor Yasha das Gleichgewicht, seine Axt fiel ihm aus der Hand und rutschte über die Planken. Eine große, blaue Seeschlange hatte sich um seine Beine gewunden. »Hilfe«, schrie der Junge, »Hilfe!« Aber der Riese war zu beschäftigt. Er musste sich selber gegen mehrere Angreifer verteidigen. Dabei lachte er verwegen und hatte richtig Spaß an dem Kampf.

Yasha kam immer mehr in Bedrängnis, die blaue Seeschlange hatte ihn fast völlig eingewickelt und starrte ihn jetzt mit gierig funkelnden Augen an. Gleich würde sie ihr großes Maul aufreißen und ihn verschlingen. Yasha drehte den Kopf zur Seite. Da sah er, dass die Luke zum Laderaum offen stand. Das empfindliche Schwanzende der Schlange fegte nervös über der Luke hin und her. Die Seeschlange zog sich fester zusammen, dabei rollte sie ein kleines Stückchen näher an die Luke. Wenn Yasha jetzt die Nerven behielt und seine Hand noch ein kleines bisschen weiter ausstrecken würde, könnte er den Lukendeckel erreichen.

Die Seeschlange

zischte leise,

als hätte sie seine Gedanken gelesen und zog sich noch fester zusammen. Dabei rollte sie wieder ein kleines bisschen auf die Luke zu. Yasha bekam kaum noch Luft. Verzweifelt streckte er seine Hand aus. Endlich: Mit den Fingerspitzen bekam er den schweren Deckel zu fassen. Dem Jungen war klar, dass er nur eine einzige Chance hatte. Er wartete, bis sich die zuckende Schwanzspitze der Schlange mitten über der Luke befand und schlug den Deckel zu. Die Seeschlange zischte vor Schmerz auf und lockerte ihre Umklammerung. Yasha sprang auf und griff nach seinem Enterhaken. Mit einem Schwung warf er die Seeschlange, die sich immer noch vor Schmerz wand, ins Meer.

Auch der Riese hatte seine Gegner besiegt. Lachend rief er: »Und jetzt ein Gläschen Rum für mich. Und du, Pechseele, räumst das Deck auf!« Damit verschwand er in der Kajüte. »Ein Gläschen Rum, und noch eins, und noch eins …«, tönte es aus dem Bauch des Bootes. Doch plötzlich hörte Yasha einen dumpfen Schlag, einen Schrei und verzweifeltes Röcheln. Schnell griff er nach einem Enterhaken und sprang in die Kajüte.

Eine Seeschlange hatte sich auf den Riesen gestürzt und würgte ihn. Sein Gesicht war schon lila angelaufen. Er war kurz vorm Ersticken. Wütend zischte die Schlange Yasha an. Reglos blieb der Junge stehen und einen schrecklichen Moment lang starrten sie sich in die Augen. Dann hob die Seeschlange den Kopf zum Angriff. Auf diesen Moment hatte Yasha gewartet. Zielsicher schleuderte er den Enterhaken wie einen Speer und traf die Schlange direkt unterm Kopf in den Hals. Ekliger, stinkender grüner Saft spritzte ihm ins Gesicht. Dann sank das Ungeheuer wie ein nasser Lappen in sich zusammen. Der Riese lag reglos am Boden. »Er darf nicht tot sein!«, schrie Yasha verzweifelt. Da fiel sein Blick auf die Rumflasche und er goss dem Riesen einen großen Schluck davon in den offenen Mund. Keine Reaktion. Verzweifelt raste er an Deck und holte einen Eimer Wasser. Den schüttete er über den bewusstlosen Riesen. Nichts passierte.

Yasha massierte

sein Herz und fächelte ihm

Luft zu. »Riese, Riese! Land in Sicht!«, log er. »Wach auf! Cabeluda!« Keine Reaktion. »Oh Talisman, bitte hilf ihm doch!« Aber der Talisman wollte nicht helfen. Vielleicht, weil er den Riesen nicht leiden mochte, aber es konnte genauso gut sein, dass ihn Yashas mutiger Kampf gegen die Seeschlangen zu sehr angestrengt hatte. Yasha schluchzte verzweifelt. Er fühlte sich von allen im Stich gelassen. Mit letzter Kraft baute er aus einem Segel eine Hängematte für den Riesen und wuchtete ihn hinein. Nachdem er ihn gut zugedeckt hatte, begab er sich wieder nach oben. Auf dem Meer regte sich kein Lüftchen. An segeln war gar nicht zu denken. Die Gegend hier wurde völlig zu Recht »die stillen Gewässer« genannt.

Das Boot sah schlimm aus.

Yasha warf die toten Ungeheuer ins Meer und säuberte das Deck. »Wenn ich nicht aus dieser Flaute herauskomme, bedeutet das unser Ende«, grübelte Yasha. Da fiel ihm die Seekarte ein, die der Riese in seinem Hochmut ins Meer geworfen hatte. Yasha entknüllte sie. An manchen Stellen war die Tinte verlaufen und man konnte nicht mehr alles erkennen. Mühsam entzifferte Yasha: »Unbedingt Sierra Leones Schwelle meiden! Lebensgefahr durch Seeschlangen und schlimmes Windstillegebiet! Sofort südlichen Kurs über den Äquator einschlagen! Da weht der Süd-Ost-Passat direkt in Richtung der Inselgruppe Fernando de Noronha.« Yasha holte sich ein Ruder und den Kompass. Dann paddelte er das Segelboot in Richtung Süden. Es war sehr mühsam und bald taten ihm die Arme weh. Aber er hielt tapfer durch und hoffte auf ein Wunder. Am Abend kam endlich eine leichte Brise auf. Erleichtert legte er das Ruder zur Seite und hisste die Segel. Dann schaute er auf den Kompass und nahm Kurs auf Cabeluda. Bei dieser Geschwindigkeit würde er in zwei, spätestens drei Tagen dort ankommen.

Regelmäßig ging Yasha in die Kajüte, um nach dem Riesen zu sehen. Sein Zustand war unverändert. Er lag noch immer ohnmächtig in der Hängematte. Yasha legte ihm seinen Talisman auf die Brust. »Hilf ihm!«, flehte er. »Ich muss wieder nach oben, das Schiff steuern.« Es war der Abend des dritten Tages. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie Cabeluda erreichen würden. Yasha schaute auf die Seekarte von Manolo Groß: »Cabeluda nur von Norden ansegeln, denn …« Mehr konnte der Junge nicht entziffern. An dieser Stelle war die Karte verwischt.

Gegen Mitternacht näherten sie sich einer rauen Küste. Hohe Wellen brachen sich an den vielen Klippen. Der Wind blies das Wasser zu hohen Säulen auf. Das Boot könnte an einem der Felsen leckschlagen und kentern. Entsetzt holte Yasha die Segel ein und warf einen schnellen Blick auf den Kompass. »Mein Gott!«, dachte er. »Ich fahre die Insel von der falschen Seite an und bin schon viel zu nahe am Ufer!«

Das Boot wurde wie eine winzige Nussschale hin- und hergeworfen. Yasha umklammerte das Steuerrad und manövrierte das Boot vorsichtig um die spitzen Klippen. Da hörte er aus der Kajüte lautes Stöhnen. Durch die Luke sah er den Riesen, der in der Hängematte gegen die Wände geschleudert wurde. Mitten auf seiner Stirn prangte eine große, blutige Beule. Mühsam richtete sich der Riese auf und kroch benommen die Treppe hoch: »Das ist die weiße Böe, ein sehr gefährlicher Wind, der von den Klippen herunterfegt! Du Pechseele! Ändere sofort den Kurs auf West-Nord-West.« Dann fiel er zurück in die Kajüte.

Mit Mühe

riss Yasha

das Steuerrad herum. Das Boot stöhnte und ächzte, die Wellen schlugen über die Reling. In gewaltigen Strömen lief das Wasser über die Treppe in die Kajüte. »Wir sinken!«, brüllte Yasha. »Talisman! Hilfe!« Da erinnerte er sich, dass er seinen Talisman dem Riesen auf die Brust gelegt hatte. Wie von Sinnen raste er nach unten. Der Riese hockte in einer Ecke auf dem nassen Boden und drückte sich sein schwarzes Piratentuch auf die schmerzende Beule. Von ihm konnte Yasha keine Hilfe erwarten. Das Wasser stand schon knöchelhoch in der Kajüte. Darin schwammen Taue, Netze, Flaschen und auch die Wolldecke des Riesen. Wie sollte er in diesem Durcheinander den Talisman finden? Yasha ging auf die Knie und tastete hektisch den Boden ab. Dabei stieß er mit dem Kopf an die Hängematte. Es tat nicht weh, aber er hatte gemerkt, dass etwas darin lag. Natürlich, warum war er nicht gleich darauf gekommen? Man konnte den Talisman sogar durch den Stoff leuchten sehen, wenn man genau hinsah! Glücklich nahm er seinen Schatz an sich und küsste ihn: »Oh Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche auf der Insel Cabeluda zu sein.« Dann fiel Yasha in Ohnmacht.

Als er wieder zur sich kam, lag er in einem kleinen Bambushäuschen. Neben ihm hockte der Riese und hielt Yashas Hand vorsichtig in seiner riesigen Pranke. Als er merkte, dass Yasha aufwachte, kullerten die Tränen wie ein Tropenregen aus seinen großen Augen. »Du Pechseele! Du hast mir das Leben gerettet. Jetzt wirst du für immer bei mir bleiben!«, schluchzte er gerührt. »Diese Insel soll deine sein. Mein Haus soll deines sein. Alles, was ich habe, soll dir gehören.« Liebevoll tätschelte er Yasha den Arm. Dann erhob er sich, um Yasha einen Kakao zu holen. Als der Riese mit dem dampfenden Becher in der Hand zurückkam, war der erschöpfte Junge tief und fest eingeschlafen.

Der Talisman
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