Damals bei den Liaweps:

»Neiiin – Zürban!

Flieh, Yasha!«, schrie Laszlo Dvorach und floh in den dichten Dschungel. Nasse Blätter streiften sein Gesicht. Irgendwo schlug krachend ein Blitz ein und erleuchtete für den Bruchteil einer Sekunde die Umgebung. Lange genug für Laszlo, um einen schmalen Pfad zu erkennen. Hinter sich hörte er Zweige brechen – die Liaweps und Olav Zürban hatten die Verfolgung aufgenommen. Verbissen hinkte der Weißmagier weiter, sollten sie ihn nur alle jagen! Umso besser war die Chance, dass Yasha und sein riesiger Freund sich in Sicherheit bringen konnten. Kreuz und quer lockte der Weißmagier seine Verfolger durch den Dschungel.

Laszlo keuchte, als er am Dorf vorbei zur Bucht eilte. Da sah er sie. Ihr Boot glitt mit vollen Segeln durch die schäumenden Wellen. Am Steuer stand der Riese. Ihr Schiff hatte bereits das Ende der Landzunge erreicht. Plötzlich kitzelte es an seinem Hals. Reflexartig schlug der Weißmagier zu. Etwas Dunkles fiel zu Boden. Laszlo Dvorach bückte sich und hob es auf. Es war einer von Olav Zürbans Spionen. Vorsichtig pustete Laszlo auf das kleine Wesen. Erst als die Flügel schneeweiß waren, setzte er den Schmetterling vorsichtig auf ein Blatt. Als er wieder aufs Meer blickte, war das Boot mit Yasha und dem Riesen verschwunden. Sein Sohn war gerettet. Der Weißmagier jubelte innerlich. Mühsam humpelte er an den Strand. Es dröhnte dumpf, als er mit dem Fuß gegen den Einbaum stieß. Olav Zürban hatte die Rückverwandlung unterbrochen, der Fuß war immer noch aus Stein. »Es hätte viel schlimmer kommen können, aber ob ich mich je daran gewöhnen werde?«, fragte sich der Weißmagier. Dann konzentrierte er sich darauf, das schmale Boot auf das stürmische Meer hinauszupaddeln. Immer schneller entfernte er sich von der Küste. Zeit und Raum verschwammen, aus dem Sturm wurde ein Orkan. Erschöpft ließ Laszlo das Paddel sinken und rollte sich zum Schlafen auf dem Boden des Einbaums zusammen.

Zwei Tage tobte

der Sturm. Auf der

Insel Padar saßen die Fischer in ihren Baumhäusern fest. Sie beteten inständig, dass ihre Boote, die unten am Strand lagen, den Sturm unbeschadet überstehen würden. Jetzt eilten die Männer hinunter in die Bucht. Der Mond war aufgegangen und tauchte den weißen Sandstrand in helles Licht. »Da! Habe ich es euch nicht gesagt! Wir hätten das Boot weiter nach oben ziehen sollen, aber ihr wart ja zu faul! Jetzt ist es kaputt!«, rief Junu Zoli erbittert und deutete vorwurfsvoll auf den zerstörten Einbaum. »Ja, Junu, du hast recht! So ein Unglück! Wir werden ewig brauchen, um es zu reparieren!«, kam die Antwort. Geknickt gingen die Männer zum Wrack, um den Schaden in Augenschein zu nehmen.

Hässliche Fratzen, mit denen der Einbaum bemalt war, leuchteten im Mondlicht. Das war nicht ihr Boot. Neugierig schauten sich die drei Fischer um, ob das Wrack vielleicht etwas Brauchbares mit an Land gebracht hatte. »Schaut! Da liegt einer! Seht nach, ob er noch lebt!«, stieß Junu Zoli plötzlich hervor.

Laszlo Dvorach fühlte sich gar nicht so schlecht, als er erwachte. Sein Blick fiel auf eine aufwändig geschnitzte und polierte Holzdecke. Nackte Füße tapsten über den Boden. Sekunden später beugten sich viele lächelnde Gesichter über ihn. »Da haben Sie aber Glück gehabt! Das war ein schlimmer Sturm. Wir dachten, dass es uns die Baumhäuser wegreißt. Sie sind in Indonesien auf der Insel Padar gestrandet. Übrigens: Ich bin Bud Miller und das hier ist mein Bruderherz Tchokray, der zweite Miller. Wir sind Wissenschaftler aus Kanada und erforschen hier …« Bevor der junge Mann seinen Satz beenden konnte, wurde er energisch zur Seite geschoben. Eine junge Frau erschien mit einem Tablett und stellte es neben Laszlo auf den Boden.

»Von Venedig nach Padar.

Das klingt nach

Abenteuer. Schade, dass Graf Gregorio nicht mitgekommen ist!«, dachte Yasha und spähte nach unten. Die vielen Inseln sahen aus, als hätte ein Riese sie mit Mandelgrießbrei in das strahlendblaue Meer gekleckert und ganz sparsam mit kleinen Pistazienstücken bestreut. »Hilfe! Ich falle!«, schrie Yasha. Der Talisman funkelte verschmitzt und überlegte fieberhaft, wo er seinen Schützling am besten absetzen sollte. Nicht, dass der steinerne Schmetterling es mit Absicht tat, aber bisher hatte fast jede Landung einen minimalen technischen Schönheitsfehler gehabt. Diesmal, so nahm sich der Talisman vor, sollte die Landung perfekt werden. In rasantem Sturzflug flogen sie auf Padar zu. Viel zu schnell für Feinarbeit beim Lenken! Mit einem riesigen Platsch landete Yasha im türkisfarbenen Wasser. Der steinerne Schmetterling hatte den Strand knapp verfehlt. Schnaubend kam der Junge an die Oberfläche. »Das fängt ja gut an, Talisman!«, prustete er und schwamm mit wenigen Zügen ans Ufer.

Hohe Felsen ragten wie Wächter aus dem weißen Zuckersand und dem Meer. Ein dichtes Wäldchen wuchs bis an den Strand. Im Hintergrund erhoben sich die spitzen Berge, die aus der Luft wie der Sonntagsgrießbrei von Mutter Gössler ausgesehen hatten. Weiter unten lagen trockene, von Baumgruppen unterbrochene Gras- und Gestrüppflächen. Durch das Wäldchen führte ein Trampelpfad. Er endete vor einem hohen Bretterzaun.

Wasser tropfte aus

Yashas nassen Kleidern

in den Sand. Er zog das aufgeweichte Foto seines Vaters vorsichtig aus der Hosentasche und legte es zum Trocknen auf einen Felsen. Der Padar-Drache auf dem Bild starrte ihn aus seinen tückischen Äuglein an.

Yasha lief ein Schauer über den Rücken. »Ich sollte mich beeilen, nach oben in die Siedlung zu gelangen. Vielleicht finde ich dort meinen Vater?«, dachte er sehnsüchtig.

In diesem Moment erklang ein ohrenbetäubender Lärm. Erschrocken fuhr der Junge herum. Eine Horde Affen brach durch die Büsche. Die Tiere tobten so wild über den Strand, dass große Sandfontänen in die Luft geschleudert wurden. Dann entdeckte die Bande einen Baum, auf dem leuchtend gelbe Früchte wuchsen. Die Äffchen prügelten und schubsten, jeder wollte als Erster oben sein. Schließlich tummelten sich alle auf einem Ast, der sich gefährlich weit übers Wasser neigte. Das konnte nicht gut gehen! Und tatsächlich, Sekunden später bog sich der Zweig nach unten und die Äffchen purzelten ins Meer! Der Zweig schnellte erleichtert nach oben. Die gelben Früchte lösten sich und hagelten auf die Äffchen herab. Die Getroffenen kreischten empört auf. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie laut zeternd ans Ufer schwammen und im dichten Gestrüpp verschwanden. Yasha lachte und lachte. Er kicherte noch immer, als er den schmalen Trampelpfad nach oben lief.

Die Hitze ließ die Luft über dem Sandweg flimmern. Vor dem Zaun stank es eklig. Yasha versuchte die Luft anzuhalten. Das schwere Tor trieb ihn zur Verzweiflung. Es klemmte rechts oben in der Ecke und widersetzte sich standhaft allen Bemühungen, sich öffnen zu lassen. »Aber jetzt – du dummes Tor!«, rief Yasha, nahm Anlauf und warf sich mit aller Kraft dagegen. Dem hatte die Pforte nichts mehr entgegenzusetzen. Mit Schwung wurde der Junge in den Garten katapultiert.

Yasha raste auf etwas Rotes zu. »Bremsen! Bremsen!«, dachte er und kam im letzten Moment zum Stehen. Die gigantische Tomate direkt vor seiner Nase vibrierte sanft. »Nicht auszudenken, welche Schweinerei es gegeben hätte, wenn ich in das Ding hineingerannt wäre!«, nörgelte Yasha leise vor sich hin, während er sich auf die Suche nach den Besitzern des Gartens machte.

Schmale Sandwege durchzogen die Obst- und Gemüsebeete. Die Pflanzen ragten bis in den blauen Himmel. Mit den gigantischen Tomaten hatte der Junge ja schon Bekanntschaft gemacht. Aber hier war alles riesig! An einem Rankgerüst wuchsen Bohnen so groß wie Schuhe und Erbsen mit dem Umfang von Tennisbällen. Die Kirsche, die soeben zu Boden fiel, hatte das Ausmaß eines Fußballs. Mit Mühe hob Yasha sie auf und biss hinein. Das war ein toller Garten.

Plötzlich raschelte und schabte es

auf der anderen

Seite des Zauns. Irgendetwas schlich da entlang. »Hallo!«, rief Yasha. »Wer ist da?« Niemand antwortete. Schwungvoll warf Yasha die angebissene Kirsche über den Zaun. Mit einem schmatzenden Geräusch zerplatzte sie auf der anderen Seite. Das Rascheln verstummte. Hatte er einen Volltreffer gelandet? Neugierig drückte Yasha seine Nase an der Bretterwand platt, um durch einen schmalen Spalt auf die andere Seite zu spähen. Eine Mauer aus grünen Blättern wogte wie von unsichtbaren Händen bewegt und verriet, dass sich dahinter geheimnisvolles Leben versteckte. Mit schrillen Warnschreien flogen zwei Kakadus auf. Auf einmal krachte etwas Schweres gegen den Zaun, es folgten würgende Geräusche. Erschrocken sprang Yasha zurück. Der Zaun wackelte bedrohlich, dann herrschte Stille! Der beißende Gestank, den Yasha bereits am Tor gerochen hatte, erfüllte die Luft. In diesem Moment näherten sich Schritte, ein zierlicher Mann mit vielen, fein geflochtenen Zöpfen bog um die Ecke und starrte Yasha überrascht an. Auf der anderen Seite des Zaunes raschelte es wieder und heftige Schläge erschütterten die Bretterwand. Polternd stellte der Mann seine Gießkanne auf den Boden und zog Yasha zu einem Baum. Er griff nach einer Strickleiter und winkte Yasha, ihm zu folgen. Mit affenartiger Geschicklichkeit stieg der Asiat in die Höhe. Die Kletterpartie endete auf einer Plattform, deren glattpolierte Holzplanken weit über den Zaun des Gartens ragten. Aufgeregt deutete der Mann nach unten. Yasha beugte sich über das Geländer und bekam eine Gänsehaut. Es waren drei ausgewachsene Exemplare! Die Drachen! Sie waren auf der Jagd. Schleifen … Rülpsen … dann eine Art Plätschern. Träge glitten ihre schuppigen Leiber durchs Unterholz. Die langen, gespaltenen Zungen tasteten auf der Suche nach Beute fühlend hin und her. Leise begann der Mann zu erzählen: »Ich bin Junu Zoli. Du siehst die großen Drachen zum ersten Mal? Wir nennen sie Oras. Sie haben sich in den letzten Jahren verändert. Früher, als es auf der Insel noch Hirsche, Wildschweine und Büffel gab, gingen sich Menschen und Drachen aus dem Weg. Aber die großen Beutetiere sind ausgestorben und die Oras haben gelernt, vom Fleisch der Menschen zu leben. Sie liegen versteckt im Gebüsch und warten auf ihre Beute. Ihr Biss enthält ein tödliches Gift. Ausgerechnet meinen sanften Bruder Ismael haben sie sich als Ersten geholt. Seitdem starben viele Menschen, denn die Oras sind immer hungrig. Wir können den geschützten Garten nur in der Nacht verlassen, wenn die Drachen in ihren Verstecken schlafen.«

Yasha war bestürzt

und legte dem

Indonesier tröstend die Hand auf den Arm. Eine Weile schwiegen die beiden. Dann zeigte Yasha Junu Zoli das Foto seines Vaters. »Der Steinfußmann, du kennst ihn?«, rief der Mann erfreut aus. »Ja, das ist mein Vater! Ist er hier?«, fragte Yasha und schaute Junu Zoli erwartungsvoll an. Junu Zoli zuckte unbehaglich mit den Schultern. Er hatte das Gefühl, dass seine Antwort dem Jungen nicht gefallen würde. Widerstrebend begann er zu erzählen: »Wir haben den Steinfußmann unten in der Bucht gefunden. Er lebte lange Zeit bei uns im Dorf. Es war seine Idee, den Zaun und die Beobachtungsplattform zu bauen, damit wir unsere Häuser auch tagsüber verlassen können, um im Garten zu arbeiten! Einmal hat ihn ein Drache gebissen. Aber dein Vater hatte großes Glück und der Drache Pech. Er hatte ihn an seinem Steinfuß erwischt. Was meinst du, der Ora war fertig mit der Welt! Er hat sich immer wieder mit der Pfote über die Schnauze gewischt, muss höllische Zahnschmerzen gehabt haben!« Bei dieser Erinnerung lächelte Junu Zoli. »Wir sind deinem Vater so dankbar für den Zaun. Er ist ein kluger Mann! Übrigens: Dein Vater hat auch immer da gesessen, wo du jetzt sitzt.« Yasha hörte Junu Zoli mit glänzenden Augen zu.

»Hier auf Padar lernte der Steinfußmann die kanadischen Wissenschaftler kennen. Die beiden haben die Drachen erforscht und einen Weg gefunden, uns von dieser Plage zu befreien. Sie werden einen Frachter mieten, Tierfänger einstellen und jede Menge Transportkisten bauen lassen. Ja! Und um das Geld dafür zu beschaffen, sind sie nach Europa gereist. Der Steinfußmann blieb bei uns. Dann kam ein sehr glücklicher Tag für deinen Vater. Ein Junge namens Androsh kam nach Padar, um deinen Vater zu deiner Mutter nach Budapest zu bringen. Der Ort heißt ›Pannaspraxis‹ oder so ähnlich. Yasha! Es tut mir so leid, dass dein Vater nicht mehr hier ist …« Yasha aber lächelte ihn glücklich an. Sein Vater und seine Mutter hatten sich gefunden und waren bei Panna in Budapest. Das war eine gute Nachricht. Er würde so bald wie möglich nach Ungarn reisen. Junu Zoli räusperte sich und sagte: »Komm! Lass uns nach unten klettern! Gleich wird es dunkel und ich muss fischen gehen!«

Im Garten zog

Junu Zoli eine kleine

weiße Muschelpfeife aus seiner Tasche. Er blies hinein. Dreimal ertönte ein schriller Pfiff. Sofort waren kleine Schritte zu hören. Kurz darauf erschien eine junge Frau. Sie trug einen hohen Kopfputz, ein blaues Kleid mit gelbem Blumenmuster und ihre kleinen Füße steckten in roten Sandalen. Über dem Arm trug sie ein ordentlich gefaltetes Fischernetz und in der Hand einen langen, stabilen Stock. Mit einem Lächeln reichte sie beides Junu Zoli. »Sie ist so bunt wie ein Paradiesvogel«, schoss es Yasha durch den Kopf. Frau Zoli lächelte und führte Yasha zu einem Baum. Dort band sie eine winzige Hängeleiter von einem Holzpfahl los. »Ü, ü …!«, zirpte sie und hielt Yasha einladend die Leiter hin. Mit einer zierlichen Bewegung deutete sie nach oben. Durch eine Klappe im Boden des Baumhauses gelangten sie in einen kleinen Vorraum. Es war sehr warm und roch nach poliertem Holz.

Frau Zoli zog ihre Schuhe aus und stellte sie ordentlich nebeneinander. Yasha folgte ihrem Beispiel. Mattes Licht fiel durch kunstvoll durchbrochene Fensterläden. Im Wohnraum standen Baumbusmöbel und die Holzdecke des Raums war wunderschön geschnitzt. Die kleine Frau Zoli öffnete die Fensterläden. Vor Yasha lag ein Dorf aus Baumhäusern. Alle waren mit Hängebrücken verbunden. Es war einmalig!

Neugierig folgte Yasha der Frau. Sie führte ihn auf ihre Terrasse. Von hier aus sah man das Meer und man hörte die Wellen rauschen. Yasha wurde ganz schwindelig, als er nach unten in den Garten schaute. »Ü, ü!«, zirpte seine Begleiterin und zupfte an Yashas Ärmel.

Über eine schwankende Brücke gelangten sie zum Gästehaus. »Ü, ü! Früher hier Steinfußmann wohnen. Guter Ort für Sohn. Du magst?«, zirpte Frau Zoli und führte Yasha auf die Rückseite der Terrasse. Hier erblickte der Junge zu seinem Erstaunen eine Dusche! Sie war aus Bambusrohren gebaut. Als Duschkopf diente die getrocknete Samenkapsel einer Riesenblume. Hoch oben in der Baumkrone hingen große Behälter, die aus einem einzigen riesigen Blatt zusammengedreht waren. Die Frau zog lächelnd an einer Schnur und schon rieselte das Wasser. Wie geschickt! Frau Zoli verbeugte sich lächelnd und zog sich zurück. Yasha duschte begeistert. So hoch oben in einem Baum zu duschen war ein Erlebnis!

Yasha gewöhnte sich

schnell an das

Leben im Baumhausdorf. Die Oras fand der Junge eklig, was ihn nicht daran hinderte, sich ausgiebig mit ihnen zu befassen. Eines Tages entdeckte er an einem Strand ein Nest mit Dracheneiern. Sie waren hell, mit kleinen braunen Sprenkeln und sahen genauso aus wie der Sand, in den die Oramutter sie eingegraben hatte. Mit einem Stöckchen drehte er die Eier herum, um seinen interessanten Fund von allen Seiten zu untersuchen. Dann nahm er eines aus dem Nest. Das Ei fühlte sich wie Leder an. Yasha wollte es gerade gegen das Licht halten, um zu sehen, ob man den kleinen Drachen im Inneren erkennen konnte, da drückte etwas gegen die Schale. Gebannt starrte der Junge auf das Drachenei in seiner Hand. Ein winziger Riss entstand. Plötzlich drängte sich ein kleiner Kopf durch die Schale. Der Minidrache schaute Yasha an und ließ seine lange gelbe Zunge frech vorschnellen. Erschrocken ließ der Junge das Ei fallen. Ein letzter Ruck, und der Winzling hatte sich aus der Schale befreit. Ohne zu zögern flitzte das Drachenkind los und verschwand in den Büschen. »Bah, wie schnell!«, murmelte Yasha beeindruckt. Der Strand war kein ungefährlicher Ort. Drachenmütter schauen mindestens zehnmal am Tag nach ihren Eiern. Nachdenklich sah der Junge auf das Nest herunter. Was würde wohl passieren, wenn die Mutter das Nest leer vorfand? Yasha zog sein Hemd aus und wickelte die Eier darin ein. Mit dem gut verknoteten Bündel stieg er auf einen Baum und wartete auf die Drachenmutter. Es dauerte nicht lange und Yasha hörte es im Gebüsch rascheln. Da war sie auch schon. Zielstrebig tappte die Echse zum Nest. Zufrieden stupste sie mit dem Maul gegen die leere Eierschale. Dann suchte sie ihre anderen Eier. Immer hektischer wurde die Drachenmutter dabei. Verzweifelt buddelte sie mal hier, mal dort. Schließlich gab die Arme die Suche nach ihren Kindern auf und warf sich verzweifelt auf den Rücken, ihr Maul wie zu einem stummen Schrei aufgerissen.

Dicke Tränen kullerten aus ihren gelben Augen. Yasha hatte die wachsende Verzweiflung des Oras von seinem Baum aus beobachtet. »Drachenmutterliebe, ja, die gibt es – sie trauert!« Berührt von dem, was er verursacht hatte, kletterte Yasha vom Baum herunter und ließ die Eier vorsichtig in die Nähe der trauernden Mutter kullern.

Auf dem Rückweg

zum Dorf kam Yasha

eine Idee. Junu Zoli hatte ihm erzählt, dass die Oras auf der Nachbarinsel eine Touristenattraktion waren. Dort wurden sie gefüttert und verhielten sich fast zahm. Die Insel Komodo war nicht allzu weit entfernt. Wäre es möglich, die Oras …

Junu Zoli und seine Frau harkten die Wege, als Yasha gut gelaunt in den Garten stürmte. »Wie lange können Drachen schwimmen?«, fragte der Junge aufgeregt. »Ein paar Stunden!« »Würden sie auch so lange schwimmen, um ihre Eier zurückzubekommen?«, bohrte Yasha weiter. »Aber ja!«, sagte sein lieber Gastgeber. »Sogar noch viel weiter! Erzähl, Yasha! Was hast du vor?« »Alsooo«, begann Yasha, »wir sammeln alle Dracheneier ein und legen sie in ein Fischernetz. Das Netz befestigen wir an einem Boot. Danach müssen wir nur noch die Oras anlocken. Wenn sie alle am Strand sind, segeln wir nach Komodo. Die Drachen werden dem Boot mit ihrer Brut folgen!« »Ü, ü, ü«, zirpte Frau Zoli entsetzt und wurde ganz blass. Junu Zoli schüttelte so schnell den Kopf, dass seine vielen Zöpfe fast waagerecht um ihn herum wirbelten. Das war wirklich ein ganz verrückter Plan!

Der Mond war aufgegangen. Ein leichter Wind fuhr raschelnd durch das trockene Gras. Leise, um die Drachen nicht zu wecken, schlichen sich die Dorfbewohner zu den Stränden und gruben die Dracheneier aus. Zehn Männer hielten Wache. Mit ihren Muschelpfeifen würden sie die anderen warnen, falls ein Ora kam. Körbe, Eimer und Kisten füllten sich.

Am Strand

vor dem Dorf schaukelte

das Fischerboot. Als der letzte Korb mit Dracheneiern in das Netz geschüttet wurde, begann es zu dämmern. Junu Zoli hob die Hand: »Alle wieder hier? Gut, Leute! Wer von euch lockt die Oras an den Strand?« … Totenstille! Das wollte keiner tun. Die Dorfbewohner waren schon seit Wochen kreidebleich, wenn sie nur an den waghalsigen Plan dachten. Mit weichen Knien musterte Yasha die gesenkten Gesichter. »Ob mein Vater auch solche Angst hätte? Auf jeden Fall würde er es machen!«, dachte Yasha. »Also ich!«, seufzte er schließlich. Zufrieden nickten alle. »Hier ist der Köder!«, flüsterte Junu Zoli. Angeekelt nahm Yasha die Drachendelikatesse entgegen. Die Oras lieben verdorbenes Fleisch, deshalb hatte man den großen Fisch mehrere Tage in der Sonne stehen lassen. Es stank erbärmlich. »Mögen die Götter dich behüten und deine Nase verschließen!«, riefen die Dorfbewohner und umarmten Yasha dankbar.

Die Sonne ging auf und weckte die Oras. Genüsslich rekelten sie sich in den warmen Strahlen und rieben verschlafen ihre Augen. Morgens trödeln Drachen immer ausgiebig herum. Das Wort schnell kennen sie nur in Zusammenhang mit Fressen. Auch jetzt dauerte es ewig, bis sie rülpsten und sich träge erhoben. Zeit für das Frühstück! Lahm wackelten die Drachen zu ihren Jagdverstecken und ließen sich im Gebüsch nieder.

Der mächtige Drache lag dösend auf einem Felsen. Langsam fielen ihm die Augen zu. Mit einem Mal schnellte seine Zunge aufgeregt nach vorne. Der Hauch eines köstlichen Geruches war an ihm vorbeigeweht. Frühstück! Nun war er hellwach. Bis in den hintersten Winkel der Insel drang der herrlich gammlige Geruch. Bald waren alle Oras auf den Beinen.

»Oras! Oras! Oras!«,

brüllte Yasha und raste

über die Insel. Dabei schleifte er den Fisch über den Boden. Der bestialische Gestank umgab den Jungen wie eine Wolke. Mit Vollgas rannte Yasha in die Kurve. Der Pfad, den er nun einschlug, führte zurück zum Dorfstrand. Plötzlich sah er etwas aus den Augenwinkeln. Gehetzt

schaute er über die Schulter. Da waren sie! Yasha ließ den Fisch fallen und begann zu rennen. Hinter sich hörte er die Drachen näher kommen. Er stolperte, rappelte sich auf und rannte weiter. In der Ferne sah er das Segelboot. »Renn, Yasha, renn! Gleich hast du es geschafft!«, dachte er. Die Dorfbewohner jubelten aus sicherer Entfernung, als der Junge außer Atem das Boot erreichte. Er kletterte an Bord, während die ersten Drachen den Strand erreichten. Sofort erblickten die Oras ihre Eier in dem Fischernetz. Ohne Zögern stürzten sie sich ins Wasser und schwammen auf das Boot zu. Mit zitternden Händen hisste Yasha das Segel. Langsam glitt das Boot aus der Bucht. »Talisman! Bitte hilf mir! Lass das Schiff schneller werden!«, schrie Yasha panisch. Der steinerne Talisman leuchtete kurz auf, so, als wollte er Yasha beruhigen. Die Eier schimmerten wie große Perlen im Wasser. Schnaubend krochen immer mehr Drachen ins Wasser. Es waren so viele, dass sie von weitem wie eine riesige Welle aussahen. Der auflandige Wind wurde stärker und das Boot hatte jetzt richtig Fahrt drauf. Die Oras mussten sich anstrengen, um Yasha auf den Fersen zu bleiben. »Oras, kommt! Schaut! Hier sind eure Kinder, schnell!«, feuerte Yasha sie an.

Als die Insel Komodo

in der Ferne

zu erkennen war, nahm Yasha Kurs auf den Leuchtturm. Die sichtlich ermüdete Meute schwamm weit hinter ihm. Mit einem eleganten Wendemanöver steuerte der Junge das Boot in eine Bucht und zerrte das Netz mit den Dracheneiern an Land. Als die Oras den Strand erreichten, schaukelte Yashas Boot schon ein gutes Stück vom Strand entfernt in den Wellen. Gerührt beobachtete der Junge, wie die erschöpften Drachen das Netz zerbissen und ihre Eier liebevoll mit Tatzen und Schnauzen den Strand hochrollten. »Vater!«, schrie Yasha laut. »Ich habe es geschafft! Du kannst stolz auf mich sein!«

Der Talisman
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