Lautes Wiehern weckte Panna und Yasha. Sie waren in Ungarn angekommen. Weit unter ihnen lag die Puszta. Sie sah aus wie ein riesiges Grasmeer. Von oben konnten die beiden Freunde sehen, dass kleine Flüsse das Grasland durchzogen. Sumpfgebiete, Eichenwäldchen und große Flächen Grasland wechselten einander ab und bildeten die beeindruckende Steppenlandschaft der Puszta.

Ein leichter Wind blies sachte über die flachen Hügel und ließ die Grashalme wie weiche, grüne Wellen wogen. Hunderte von wilden Pferden galoppierten im roten Schein der Abendsonne über die Ebene. Plötzlich tippte Panna Yasha auf die Schulter und deutete auf eine Gruppe Pferdehirten: »Da unten, schau! Da ist Georgy, der Pferdehändler! Er übt mal wieder ungarische Post.« Erstaunt sah Yasha, dass Georgy gefährlich schwankend auf dem Rücken zweier Pferde balancierte und gleichzeitig versuchte, drei Pferde als Gespann vor sich her traben zu lassen. »Das habe ich schon besser gesehen. Gleich fällt er herunter, wie immer«, kommentierte Panna spitz. Der weiße Hengst schnaubte belustigt. Immer schneller und tiefer kreiste er über das Grasland, um dann in der Nähe der Herde direkt neben einem Ziehbrunnen zu landen. Panna und Yasha streichelten und umarmten das schöne Tier zum Abschied. »Danke für den wunderbaren Flug, mein Guter! Jetzt lauf zu deinen Freunden!«, sagten sie zu ihm. Da näherte sich schon die Herde, die der Hengst von oben begrüßt hatte. Vertraut rieben die Tiere ihre Nasen aneinander und schnaubten leise. Der weiße Hengst mit der schwarzen, herzförmigen Blesse hatte seinen Freunden sicher viel zu erzählen. Panna und Yasha sahen der Herde hinterher, bis sie hinter einem Hügel verschwunden war.

Georgy sah den fliegenden

Hengst und glaubte an

ein Wunder! Jedenfalls rannte er nun wie ein Verrückter durch die Steppe und raufte sich dabei die Haare, so dass sie nach allen Seiten abstanden, was ihm das Aussehen eines verzweifelten Katers verlieh. Die Verfolgung des weißen Hengstes fesselte seine Aufmerksamkeit so sehr, dass er Yasha und Panna gar nicht bemerkte. Die beiden hatten sich geistesgegenwärtig hinter dem Ziehbrunnen versteckt. Georgy Rede und Antwort zu stehen, dazu hatten sie jetzt keine Lust. Panna und Yasha wollten sofort nach Budapest zurückkehren. Kaum war der Pferdehändler ihren Blicken entschwunden, wanderten sie los.

In Budapest erzählte Graf Gregorio ihnen, dass sein Vetter Georgy sehr merkwürdig geworden sei. Man hatte gesehen, wie er tagelang mit einer Fliegermütze auf dem Kopf durch die Puszta gelaufen war, um »Pegasus« – so nannte er seinen Hengst – zu überreden, auch einmal mit ihm zu fliegen. Darüber lachten sie alle sehr. Als das Gespräch auf Bilma kam, machte Panna ein verschlossenes Gesicht. »Ich möchte das alles vergessen, die Zeit bei Abdul Khemir war zu grausam«, sagte sie. »Lasst uns lieber von der Zukunft sprechen! Es gibt ein paar Neuigkeiten: Ich werde hier in Budapest eine Praxis aufmachen und mit der Kräuterheilkunde vielen Menschen helfen. Die richtigen Räume haben wir auch schon gefunden. Sie sind …« Yasha und Graf Gregorio lächelten sich an, das war eine gute Entscheidung, schließlich war Panna mit ganzem Herzen Heilerin. Plötzlich stutzte Yasha. Warum druckste Panna plötzlich herum und schaute ihn so merkwürdig an? »Yasha, da gibt es noch etwas, das dir vielleicht nicht so gut gefällt. Wie soll ich es dir sagen? Androsh und ich, wir werden heiraten.«

Yasha war wütend

auf Androsh

und Panna. Dass seine beiden besten Freunde plötzlich ein Paar waren, tat weh und brachte ihn völlig durcheinander. Wie konnten sie ihm das antun? Yasha litt furchtbar. Sogar die Suche nach seinen Eltern vergaß er über seinen Liebeskummer. Inzwischen machte sich sogar der immer optimistische Graf Gregorio ernsthafte Sorgen um seinen Freund. Aber nicht nur um ihn, sondern auch um Clara und Laszlo Dvorach. Wo blieben sie nur? Viel zu lange wartete Yasha hier in Budapest auf seine Eltern. Hatte der kleine Wasserträger aus Rondônia den Diamanten für sich behalten? Waren Clara und Laszlo in der schrecklichen Diamantmine gestorben? Nein, nein, daran wollte Graf Gregorio gar nicht denken.

An einem warmen Sommertag saßen Yasha und Graf Gregorio in seiner kleinen gemütlichen Gartenlaube und unterhielten sich. Plötzlich wurde die Stille durch das laute Knattern von Holzrädern und laute, fröhliche Rufe unterbrochen. »Pilori! Venez voir Pilori! Pilori! Venez voir Pilori!« Graf Gregorio sprang auf und eilte aufgeregt zum Gartenzaun: »Sie sind wieder da! Monsieur Pilori mit seinem Zirkus! Komm, Yasha! Sie kommen aus Frankreich. Die musst du sehen! Ach, freue ich mich!«

Auf einer großen Wiese bauten die Zirkusleute ihre Zelte auf. Seltsam gescheckte Pferde liefen frei herum. Eine Bärin mit Hut saß auf einem Riesenstuhl und spielte mit einem Ball. Fünf kleine, weiße Hunde mit rosa Röckchen sprangen über einen winzigen hellgrauen Esel mit gelb lackierten Hufen. Clowns, Seiltänzerinnen und ein Zwerg mit Frack und Zylinder übten ihre Nummern ein. Eine Weile beobachteten Yasha und Graf Gregorio das bunte Treiben. Plötzlich kam ein Mann von gewaltigem Wuchs auf die beiden Freunde zu. Er maß sicher über zwei Meter und trug einen riesigen weißen Schnurrbart, den er mit zwei lila Schleifchen an seinen Ohren festgebunden hatte. Unter buschigen Augenbrauen musterten seine dunkelbraunen Augen die beiden Freunde verschmitzt.

»Monsieur Pilori!«,

begrüßte ihn

Graf Gregorio. Monsieur Pilori lachte erfreut und küsste Graf Gregorio gleich dreimal: rechts, links, rechts. Er war eben Franzose! »Eine neue Nummer habe ich, mon ami! Da wirst du staunen, hahaha: ein Junge, der sich in einen Stein verwandeln kann. Was sagst du dazu? Es ist fantastique! Aber ich will nichts verraten. Kommt morgen in unsere Vorstellung!« Monsieur Pilori lachte, riss der Bärin den Hut vom Kopf und verschwand fröhlich damit wedelnd in seinem blauweiß gestreiften Wohnwagen. Erstaunt bemerkte Yasha die merkwürdige Wärme, die sein Talisman ausstrahlte. »Komisch«, dachte er, »was will mir der Talisman damit sagen?«

Am nächsten Tag besuchten Graf Gregorio und Yasha die Vorstellung. In dem großen Zirkuszelt roch es nach Tieren, frischen Sägespänen und Popcorn. Während sich das Zelt langsam mit Zuschauern füllte, machte ein Clown in der Manege Seifenblasen, die so groß waren, dass andere Clowns in diesen Blasen sitzen konnten und sich in kugelrunde Gestalten verwandelten. Dann wurde das Licht gedämpft und die Vorstellung begann. Monsieur Pilori kündigte die erste Nummer an. Ein Zwerg in Frack und Zylinder trat auf. Der Lichtkegel des Scheinwerfers verfolgte den kleinen Mann, als er geschickt auf eine hohe Leiter kletterte. Die Leiter stand mitten auf der Bühne, an nichts angelehnt! Als er die letzte Stufe erreichte, applaudierten die Zuschauer laut. Elegant verneigte sich der Zwerg, hob höflich seinen Zylinder und zwölf weiße Tauben flogen daraus hervor. Es war aufregend, farbenprächtig und fantastisch. Dann kündigte Monsieur Pilori den Jungen an, der sich in einen Stein verwandeln konnte.

»Liebes Publikum! Ich bitte um Aufmerksamkeit! Hier kommt Steju!«, rief er mit donnernder Stimme. Einen Moment lang hielten die Zuschauer den Atem an. Yasha bemerkte, dass der Talisman wieder ganz warm wurde. In der Manege wurde es dunkel und ein lauter Trommelwirbel ertönte. Dann schälte das Licht des Scheinwerfers einen zierlichen Jungen aus der Dunkelheit. Er war wohl 14 Jahre alt und trug einen silbernen Lendenschutz. Seine Haut war ziemlich dunkel und sein Haar kohlrabenschwarz. Das Gesicht konnte man nicht erkennen, denn Steju trug eine Silbermaske, um sich besser zu konzentrieren, erklärte Monsieur Pilori den Zuschauern. Die Aufführung dauerte genau sieben Minuten. Der Junge verbeugte sich, faltete seine Hände, spreizte leicht seine Beine und blieb regungslos stehen, ganz so, als wäre er schon versteinert. Dann geschah das Unglaubliche: Vor aller Augen verwandelte sich der Junge in einen Steinblock. Zuerst veränderte sich nur seine Haut, nach kurzer Zeit sah sie aus wie grau gesprenkelter Granit. Dann veränderte sich der Körper des Jungen, seine Umrisse wurden gröber und gröber, bis nur noch ein viereckiger Steinquader von Steju übrig war. Die Zuschauer seufzten auf, als sich die Umrisse des steinernen Blockes auflösten, bis schließlich auch die letzte schwache Kontur verschwunden war. Steju, der Steinjunge, war einfach weg! Wo war er geblieben? Wie jedes Mal stürmten auch heute einige besonders neugierige Zuschauer in die Manege, um nach einer Falltür zu suchen. Ja, sie schauten sogar hinter den Kulissen, um nach Steju zu suchen. Monsieur Pilori kannte das schon, aber es brachte ihn trotzdem jedes Mal in Rage: »Ah, non, non, non, was habe ich bloß für ungezogene Zuschauer!«, schrie er wütend und scheuchte die Neugierigen wie eine flatternde Hühnerschar zurück auf ihre Plätze.

Graf Gregorio und Yasha waren fasziniert! Wie funktionierte dieser Zaubertrick? Das wollten die beiden unbedingt herausfinden. Nach der Aufführung schlenderten sie zu Monsieur Piloris Wohnwagen und löcherten ihn mit Fragen. Aber der Zirkusdirektor grinste nur und sagte: »Künstlergeheimnis! Das muss jeder, auch der Steju, geheim halten!« Dabei strahlten seine dunkelbraunen Augen verschmitzt. Bevor Graf Gregorio und Yasha Luft geholt hatten, um weitere Fragen zu stellen, geschah etwas Unerwartetes.

Die Bärin erhob sich

weinend von ihrem

Riesensessel, warf sich zu Boden und wälzte sich heulend hin und her. Entsetzt eilten Monsieur Pilori und die Zirkusleute zu ihr, um zu sehen, was passiert war. Die Bärin war nicht zu trösten und heulte immer lauter. Da flüsterte der Zwerg Monsieur Pilori etwas zu. Weil der Zwerg Monsieur Pilori nur bis zu seinen Knien reichte und sehr laut flüstern musste, verstanden auch Graf Gregorio und Yasha, was er sagte: »Steju ist weg! Sie heult wegen des Steinjungen, denn sie liebt ihn. Heute früh ist er für immer weggegangen!« »Ah, non! Quel malheur! Der Steinjunge ist weg?«, schrie Monsieur Pilori entsetzt und rannte wie von Sinnen zum Wohnwagen des Jungen, der neben einem Apfelbaum stand. Monsieur Pilori riss die Tür auf: leer! »Steju, Steju!«, jammerte er laut. »Warum, warum, mon dieu, hast du mir das angetan? Mein kleiner Steju! Ich war doch immer so lieb zu dir! Aiyaiyaiy!« Der riesige Mann fing an zu heulen. Die Tränen tropften in Sturzbächen auf seinen riesigen Schnurrbart. Es war herzzerreißend. Alle, die nicht bei der Bärin waren, bemühten sich nun, den verzweifelten Zirkusdirektor zu trösten! Als Monsieur Pilori sich ein wenig beruhigte, erzählte er Graf Gregorio und Yasha von Steju: »Vor vier Monaten war ich mit meinem Zirkus in Marseille. Es war ein kalter, regnerischer Vormittag, da erschien plötzlich ein Junge. Er hatte gehört, dass ich mit meinem Zirkus nach Budapest reisen würde und wollte sich uns anschließen. Er führte mir viele Zaubertricks vor, auch den mit dem Stein. Ich war begeistert und engagierte Steju sofort. Er war ein seltsamer Junge. Leider verstand ich kaum, was er sagte, denn er sprach halb Portugiesisch, halb Ungarisch.«

Monsieur Pilori unterbrach seinen Bericht, um sich die Nase mit einem rotweiß karier-ten Taschentuch zu putzen, das so groß war wie die Tischdecke, die Yashas Ziehmutter immer sonntags auf den Esstisch legte. Verstohlen wischte Monsieur Pilori die Tränen aus seinem tropfnassen Bart und glättete die zerdrückten lila Schleifchen, bevor er weiter berichtete.

»Eines Abends

kam Steju zu mir und

erzählte eine wahrhaft erstaunliche Geschichte: In Brasilien hatte Steju zusammen mit dem Zauberer Dvorach und seiner Frau Clara eine Passage auf einem Dampfer gebucht. Sie wollten bis zum Hafen von Rijeka in Kroatien fahren. Auf dem Landweg sollte es weiter bis Budapest gehen. Der Kapitän des Frachters war ein übler, geldgieriger Zeitgenosse, er behandelte die Besatzung sehr schlecht. Der einzige Lichtblick für die Matrosen war das Zaubererehepaar. Es dauerte nicht lange, bis der Zauberer Dvorach und seine Frau Clara herausgefunden hatten, warum die Stimmung der Mannschaft so schlecht war. Der Magier versuchte, die Matrosen mit Liedern, Geschichten und Zaubertricks ein bisschen aufzuheitern. Von ihm lernte Steju einige Zaubertricks, auch den mit der Verwandlung in einen Stein. Fast wäre es dem Ehepaar Dvorach gelungen, die Stimmung der Besatzung im Gleichgewicht zu halten. Aber dann geschah etwas Furchtbares.

Der Dampfer hatte in einem Hafen frisches Trinkwasser geladen und befand sich wieder auf hoher See, als das Fehlen des Proviantmeisters bemerkt wurde. Aufgeregt durchsuchte die Mannschaft das Schiff nach dem Vermissten. War er heimlich an Land geblieben, um dem verhassten Kapitän zu entkommen? Warum hatte er seine Sachen an Bord gelassen? War er vielleicht von Bord gefallen? Alle machten sich Sorgen um den Proviantmeister. Nur der Kapitän war ungewöhnlich gleichgültig und Steju bemerkte sein zynisches Grinsen, wenn er sich unentdeckt fühlte. Am Nachmittag beobachtete Steju, wie der Kapitän verstohlen eine Luke aufschloss und hastig unter Deck verschwand. Mit einem unguten Gefühl im Bauch schlich er hinterher. Die letzte Stufe knarrte verräterisch laut und Steju hielt den Atem an. Hatte der Kapitän etwas gehört? Dann konnte er sich auf etwas gefasst machen! Im Gang brannte nur ein schummriges Licht und es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es war warm und die Luft war so stickig, dass Steju kaum Luft bekam. Hier unten war er noch nie gewesen und er war sich sicher, dass in diesem Zwischendeck niemand nach dem vermissten Proviantmeister suchen würde. Leise schob sich Steju an der Wand entlang, bis er die angelehnte Tür am Ende des Ganges erreichte. Vorsichtig spähte er in die winzige Kammer. Der Proviantmeister saß auf einer Taurolle. Er war angekettet. Steju hatte genug gesehen und hastete an Deck, um Hilfe zu holen.

Im gleichen Moment zog ein Sturm auf und die ersten Wellen schlugen über die Planken. Die Besatzung befreite den Proviantmeister und erfuhr, dass der geldgierige Kapitän im letzten Hafen fast die gesamte Verpflegung der Mannschaft verkauft hatte. Es kam zur Meuterei. Der Sturm hatte sich zu einem tobenden Orkan entwickelt und das Schiff schwankte gefährlich in den Wellen. Der Kapitän wurde von den wütenden Matrosen aufs Deck gezerrt. Dort wollten die Männer das Urteil über ihn sprechen. Doch dazu kam es nicht mehr. Der Dampfer lief vor Cabeluda auf Grund und schlug leck. Viele Matrosen und auch der heimtückische Kapitän wurden von den Wellen ins Meer gerissen. Als das Schiff sank, hatte sich der Zauberer Dvorach gerade in einen Stein verwandelt. Die steinerne Figur rollte polternd über das Schiffsdeck und krachte über die Reling ins Meer. Dort fiel sie auf eine breite Holzplanke, die im Wasser trieb und wurde von den turmhohen Wellen ans Ufer geworfen. Wie durch ein Wunder retteten sich auch Steju und die Frau des Zauberers an Land. Vergebens warteten sie darauf, dass der Zauberer Dvorach wieder seine menschliche Gestalt annehmen würde. Er blieb ein Stein.

Nach einigen Tagen

ankerte ein

Frachter vor der Insel. Der Kapitän war bereit die Schiffbrüchigen mitzunehmen. Da bat Clara Dvorach den kleinen Steju, an Bord zu gehen und so schnell wie möglich nach Budapest zu reisen. Dort müsse er ihren Sohn Yasha aufsuchen. Yasha sollte mit seinem magischen Talisman sofort auf die Insel Cabeluda kommen, um seinen Vater zu retten!« Während Monsieur Pilori die Geschichte von Steju erzählte, war Yasha kreidebleich geworden und hatte die Lippen fest aufeinander gepresst.

Nun begann er wütend zu schreien: »Warum haben Sie Steju nicht erzählt, dass ich Yasha bin? Ich bin Yasha Dvorach, der Sohn des Zauberers. Sehen Sie hier, mein Talisman! Nun ist Steju fort und er kann mir nichts mehr über meine Eltern erzählen. Daran sind Sie schuld!«

Monsieur Pilori starrte Yasha verwundert an: »Du bist der Sohn mit dem magischen Talisman? Aiyaiyaiy! Aber was nützt uns das jetzt? Steju ist weg. Aber warte, das habe ich vergessen zu erzählen: Auf dem Weg nach Budapest gaben wir in Wien eine Vorstellung. Dort hatte Steju einen furchtbaren Unfall. Er studierte gerade seine neue Nummer ein: der Steinjunge und unsere fünf weißen Hündchen auf dem Hochseil. Wir hatten uns alle im Zelt versammelt und sahen ihnen zu. Plötzlich hörte der Zwerg ein leises Kratzen. Es schien aus der Kiste zu kommen, auf der er saß. Neugierig öffnete er den Deckel und wisst ihr, was drin war? Einer unserer weißen Hunde, sein Schnäuzchen war ganz fest mit einem Tuch zugebunden. Irritiert schaute der Zwerg zum Seil hoch und zählte – oben waren noch immer fünf Hunde. Das war einer zuviel. Im selben Moment verbiss sich eines der Tiere in Stejus Hosenbein und stürzte zusammen mit dem Jungen vom Hochseil. Als der Hund floh, sah der Zwerg seine merkwürdigen Augen: das eine blau, das andere braun. Das Tier hatte er hier noch nie gesehen. Es war richtig unheimlich! Wenn die Bärin den schwer verletzten Steju nicht zu mir in meinen Wohnwagen gebracht hätte, er wäre sicher gestorben.

Zum Glück

wurde er wieder

gesund. Nur sein Gedächtnis, das hatte er verloren. Er konnte sich an nichts erinnern und verlief sich immer wieder. Doch die Bärin fand ihn jedes Mal, denn sie liebt ihn! Ja, das war’s!«, sagte Monsieur Pilori und fing wieder an zu weinen.

Trösten konnten Graf Gregorio und Yasha ihn nicht. Und so verabschiedeten sie sich von ihm. Da rief ihnen Monsieur Pilori hinterher: »He, wartet! Noch etwas! Der Zwerg, ihr wisst doch, der mit dem Zylinder, er versucht seit Jahren mit irgendwelchen Heilkräutern zu wachsen. Und hier in Budapest muss es eine Heilerin geben, zu der er jeden Tag hingeht, in der Hoffnung, sie könne ihm helfen. Er hat auch Steju dort hingebracht, damit er sein Gedächtnis wiederfindet. Vielleicht solltet ihr den Zwerg fragen!« Aber die beiden Freunde brauchten niemanden zu fragen, denn sie wussten, wen Monsieur Pilori meinte, und eilten zu Panna in die Praxis. »Ja«, sagte Panna, »der Junge ist heute bei mir gewesen. Der Zwerg brachte ihn mit. Ich sollte ihn heilen, denn er litt nach einem Unfall an Gedächtnisschwund und konnte sich an nichts erinnern. Er wiederholte immerfort: ›Dampfer – Cabeluda – Brasilien.‹ Als Steju das wieder und wieder sagte, dachte ich, es wäre gut, wenn er dort hinfährt. Vielleicht würde er dann sein Gedächtnis wiederfinden. Geld für die weite Reise hatte der Junge reichlich. Wir fanden Cabeluda auf der Landkarte. Die Insel gehört zur Inselgruppe Fernando de Noronha und liegt östlich vom brasilianischen Festland im Atlantik. Androsh gab Steju die Landkarte mit.« »Und?«, fragte Yasha. »Wo ist Steju jetzt?« »Unterwegs hoffentlich!«, lachte Panna. »Das wird seine Rettung sein, denn mit meiner Heilkunde konnte ich ihm nicht helfen. Aber sag mir bitte, warum interessiert euch dieser Junge so?«

»Steju ist der kleine

Wasserträger,

den ich in der Diamantmine in Brasilien getroffen habe. Er ist zusammen mit meinen Eltern geflohen. Panna, ich muss ihn unbedingt finden! Steju könnte wissen, wo meine Eltern sind!«, platzte es aus Yasha heraus. Resolut schob Panna Yasha und Graf Gregorio in ihr Arzneizimmer. In dem kleinen, hellen Raum duftete es intensiv nach Kräutern. An der Decke hingen Pflanzenbündel zum Trocknen. Auf dem Arbeitstisch lagen Huflattichblüten und Thymianzweige, die Panna zu Hustensaft verarbeiten wollte.

Yasha ließ sich auf einen Stuhl fallen und zerbröselte geistesabwesend den getrockneten Thymian. Also fasste Graf Gregorio die Neuigkeiten, die sie von Monsieur Pilori erfahren hatten, für Panna zusammen: Yashas Eltern waren mit Steju aus der Diamantmine von Rondônia geflohen. Der brasilianische Dampfer, der die drei in Richtung Ungarn bringen sollte, war vor Cabeluda gesunken. Yashas Eltern und Steju konnten sich auf die Insel retten, aber der Laszlo Dvorach hatte sich in einen Stein verwandelt. Nur Yasha und der steinerne Schmetterling würden ihm helfen können, sich in seine menschliche Gestalt zurückzuverwandeln.

Und als ob das

nicht schlimm genug wäre, war Olav Zürban Yasha dicht auf der Spur. In Wien, im Zirkus Pilori, hatte er als kleiner weißer Hund, getarnt mit einem rosa Tüllröckchen, Steju vom Hochseil gerissen. So hatte der Schwarzmagier verhindert, dass Steju Yasha die Nachricht seiner Mutter überbringen konnte. Panna zog unbehaglich die Schultern hoch: Olav Zürban war eine schreckliche Bedrohung für Yasha. Gereizt riss sie dem Jungen den Thymianzweig aus der Hand. »Lass das und hör zu!«, zischte sie nervös. Panna und Graf Gregorio wussten genau, dass Yasha in Gedanken schon unterwegs war, um seinen Vater zu retten. Aber ihm musste hier und jetzt klar gemacht werden, was für eine furchtbare

Gefahr von Olav Zürban ausging. Sicher, der Schwarzmagier würde Yasha weder töten noch verletzen wollen. Das lag nicht in seinem Interesse. Er brauchte den Jungen lebend. Wenn Yasha dem Schwarzmagier in die Hände fiel, würde er sein Ich verlieren. Mit der Zeit würde Olav Zürban alles Gute in ihm töten, um Platz für das Böse zu schaffen. Und bald gäbe es keinen Yasha mehr, nur noch eine leere Hülle, angefüllt mit dem bösartigen Wesen Olav Zürbans. »So, jetzt weißt du ganz genau, warum du den Talisman immer bei dir tragen sollst!«, beendete Panna die schonungslose Beschreibung.

Yasha war schockiert. Von nun an würde er doppelt so vorsichtig sein. Er ballte die Hände zu Fäusten und murmelte, um sich Mut zu machen: »Ich kann, ich kann, ich kann und ich will, ich will, ich will meine Eltern finden und meinen Vater retten.« Dann umarmte er seine Freunde zum Abschied.

»Talisman«, sagte er leise, »Talisman, schnell! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche nach Cabeluda zu kommen, aber schnell!«

Der Talisman
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