Ein eiskalter Wind fuhr durch die trockenen Blätter der Bäume. Bald würde es Winter werden im ungarischen Halbdunkelwald. Fröstelnd zog die finstere Gestalt den wehenden Umhang dichter zusammen und eilte hastig weiter. Die drei schwarzen Schmetterlinge hatten Mühe, sich auf seiner Schulter festzuhalten.

Vor einigen Tagen hatte der Schwarzmagier seine Schwester besucht und sie gebeten, ihm zu erlauben, die kalte Quelle der Zeit zu besuchen. Da hatte die dunkle Seherin laut gelacht: »Das tut dir nicht gut, Olav. Hast du die schrecklichen Schmerzen vergessen, die du immer vom Sehen bekommst? Aber tu es ruhig, wenn es so wichtig für dich ist.« Wie immer überlegte der Schwarzmagier, ob seine Schwester sich gerade über ihn lustig machte oder sich um ihn sorgte. Er konnte die dunkle Seherin einfach nicht einschätzen, und das ärgerte ihn ganz gewaltig.

Während Olav Zürban

durch den

Halbdunkelwald lief, überlegte er, ob er auch wirklich alles dabeihatte. Den Wexelstaub, um den Ort oder sein Aussehen zu wechseln, die Salbe aus der Heilpflanze Augentrost, das Schwindibus-Pulver und die vielen anderen Zaubermittelchen … ja, er hatte alles in seinem Lederbeutel, der am Gürtel hing.

Endlich erreichte der Schwarzmagier die kalte Quelle der Zeit. Das klare Wasser rann aus den Felsen herab in ein uraltes, eingefasstes Steinbecken. Dicke Moospolster ließen das Wasser smaragdgrün schimmern. Mit einem schnellen Ruck riss sich Olav Zürban sein braunes Auge aus, es tat höllisch weh. Ungeduldig wartete er ab, bis der Schmerz nachließ, neigte seinen Kopf über das Steinbecken und senkte die Hand mit seinem Auge in die Quelle. Augenblicklich trübte sich das Wasser. Bald würden die Bilder kommen und ihm zeigen, wo sich der Junge aufhielt.

Die Sonne

brannte unbarmherzig

auf Yasha herab. Er hatte die Großebene Nordindiens erreicht. Die Luft flimmerte vor Hitze. Seine Füße taten sehr weh. Verschwitzt und müde beschloss der Junge, sich eine Unterkunft in einem Aschram zu suchen. Aschram, das heißt »Ort der Anstrengung«, so werden in Indien klosterähnliche Meditationszentren genannt. Neben einer warmen Mahlzeit und einem Platz für die Nacht hoffte Yasha, einen Hinweis auf den geheimnisvollen Ort Kapilavastu zu bekommen. So eilte er zuversichtlich und fröhlich auf das weiße Gebäude des Aschrams zu, das er bereits in weiter Ferne erkennen konnte.

Es war schon ziemlich spät, als Yasha das Kloster erreichte. Voller Vorfreude klopfte er an das große hölzerne Tor. Ein Mönch mit einer Augenklappe öffnete und bat Yasha einzutreten. Der Blick des Mannes streifte den steinernen Schmetterling, angeekelt verzog sich sein hageres Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte Yasha einen eisigen Hauch, aber bevor er diesem Gefühl hinterherspüren konnte, kam Leben in den Mönch. Mit freundlichem Lächeln forderte er, Yasha solle ihm folgen. »Komm, mein Junge, du bist sicher müde und hungrig! Ich zeige dir dein Zimmer. Sicher möchtest du dich vor dem Essen frisch machen!«, lockte er und führte Yasha in den Aschram. Leise klapperten ihre Sandalen über den makellos sauberen Marmorboden. Eine Gruppe von Männern kam ihnen plaudernd entgegen, dann war der lange Säulengang, der zu den Gästeräumen führte, wieder menschenleer. Neben dem Gang befand sich ein schöner, grüner Innenhof mit einem langgezogenen Wasserbecken.

Plötzlich blieb

der Mönch

abrupt stehen, drehte sich um und packte Yasha grob am Ärmel. Entsetzt starrte der Junge in ein böse funkelndes blaues Auge. Batsch – der Einäugige schlug Yasha so heftig ins Gesicht, dass er wimmernd zu Boden fiel. »Schwindibus-Pulver! Es soll an dir kleben für lange Zeit!«, knurrte Olav Zürban. »Niemand mag dich, weit und breit!« Das magische Pulver rieselte auf Yasha herab. Panisch rappelte er sich auf und versuchte zu fliehen. Aber der falsche Mönch packte ihn am Kragen und jagte Yasha schimpfend und mit Fußtritten bis vor den Aschram.

Zufrieden warf der Schwarzmagier das schwere Tor hinter Yasha zu. Nun brauchte er nur noch abwarten, bis jemand Yasha den Talisman stehlen würde. Dann wäre der Junge ihm schutzlos ausgeliefert! Den Gedanken, dass Yasha durch eine gute Tat den Schwindibus-Zauber aufheben konnte, verdrängte Olav Zürban schnell.

Schlotternd vor Schreck stand Yasha wieder auf der Straße. Verzweifelt zog er seine Kleider aus und versuchte, den feinen, grauen Staub abzuschütteln. Aber er fürchtete nicht zu Unrecht, dass ihm das nicht helfen würde. Verzweifelt fasste er seinen Talisman an und bat: »So hilf mir doch, bitte!« Aber der Talisman zeigte keine Reaktion. War das schon die Wirkung des Schwindibus-Pulvers?

Es blieb Yasha nichts anderes übrig als weiterzuziehen. Aber überall, wo er auftauchte und flüsternd nach Kapilavastu fragte, schlug und beschimpfte man ihn, und man jagte ihn davon. In einer kleinen Stadt wurde Yasha verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Der Junge war entsetzt, als man ihn in eine feuchte Zelle schob. Scheppernd knallte die Tür hinter ihm ins Schloss und es wurde völlig dunkel. Yasha tastete nach der Wand. Sie fühlte sich eklig an. Langsam setzte er sich auf den Boden. Unter seinen Händen fühlte er eine dünne Schicht Stroh. Es roch faulig. Die Zeit schien still zu stehen. Da hörte er Schritte vor seiner Zelle.

Der Gefängniswärter war

mit zwei Kollegen

zurückgekommen. Die grobschlächtigen Männer durchsuchten Yasha. Als sie ihm die Jacke auszogen, klirrten die eingenähten Goldstücke leise. Neugierig tastete der Wächter den Saum der Jacke ab und grinste triumphierend. Ein schneller Schnitt und die Münzen rollten über den Boden. Gierig sammelten die Männer sie ein. Als einer der Wächter nach dem Talisman griff, wurde Yasha vor Angst übel. Aber der Mann musterte den Glücksbringer nur kurz. Dann lies er ihn verächtlich fallen. Einen Schmetterling aus Stein, etwas so wertloses konnte er nicht gebrauchen. Höhnisch lachend verließen die Wärter die Zelle. Yasha war wieder allein. Weinend umklammerte er den Talisman. »Oh bitte, bitte hilf mir! Tu doch etwas! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche hier heraus zu kommen!

Bitte leuchte wenigstens ein ganz kleines bisschen. Es ist so dunkel hier!«, schluchzte er verzweifelt. Doch der Talisman reagierte nicht. Yasha verlor das Gefühl für die Zeit. Manchmal öffnete sich eine Klappe in der Tür, Licht fiel in die Zelle und jemand warf etwas Brot auf den Boden. Dann konnte er sie sehen, die widerlichen, fetten Ratten, die sich gierig auf die Brotkrumen stürzten und mit seinem Essen in ihren Löchern verschwanden. Hilflos schlug und trat er in der Dunkelheit nach ihnen. Eines Tages schleppten die Wachen Yasha aus seiner Zelle und stießen ihn hinaus auf die Straße. Yasha blinzelte, seine Augen mussten sich erst wieder ans Tageslicht gewöhnen. Er war frei.

Um die

Mittagszeit war der

Platz vor dem Gefängnis wie leergefegt. Ein einsamer Bettler kauerte im Schatten an einer Mauer. Mit gesenktem Kopf beobachtete er den Jungen, der eben das Gefängnis verlassen hatte. »Yasha«, dachte Olav Zürban und atmete auf. In seinen Gedanken hatte er sich bereits ausgemalt, wie er und Yasha im ungarischen Halbdunkelwald in der Baumruine leben würden. Der Junge würde ihn lieben und bewundern. Und er, Olav Zürban, würde ihn in die Künste der schwarzen Magie einweihen. Und klug wie Yasha war, würde er der größte Schwarzmagier seiner Zeit werden. Als Olav Zürban den steinernen Schmetterling entdeckte, der noch immer an der alten Stoffkette um Yashas Hals hing, knurrte er böse. Der Schwarzmagier war sich so sicher gewesen, dass der Junge das Gefängnis ohne seinen magischen Glücksbringer verlassen würde. Die stolzen Träume Olav Zürbans zerplatzten wie Seifenblasen. Sein zweifarbiger Blick folgte Yasha, bis der Junge in einer schmalen Seitengasse verschwand …

Verzweifelt setzte Yasha

seine Suche

nach Kapilavastu fort. Doch wo immer er hinkam, schreckten die Menschen vor ihm zurück. Niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben. Yasha war furchtbar alleine – auch der Talisman schwieg, seitdem das Schwindibus-Pulver an ihm klebte. Yasha sehnte sich nach seinen Eltern. Wann würde er sie endlich finden? Würden sie ihn so heruntergekommen, wie er war, überhaupt lieben können? Er war ein Bettler. Jeder Straßenköter wurde besser behandelt als er. Yashas Körper war mit Wunden übersäht, die nicht heilen wollten. Er war voller Ungeziefer und ständig ausgehungert.

In Kalkutta wurde es besonders schwer, sich als Bettler durchzuschlagen. Es gibt dort viele Bettler und überall herrscht Armut. Für ein paar Rupien kaufte sich Yasha einen Platz zum Betteln im Viertel der Ärmsten der Armen. Seine Gedanken kreisten nun nicht mehr um die Suche nach seinen Eltern. Er dachte in Brotkanten, kleinen Kupfermünzen und angefaultem Obst. Eben an die Dinge, die ihm mildtätige Menschen manchmal in seine hölzerne Bettelschale warfen – ja, Yasha lebte nur noch fürs Überleben.

Eines Nachts

berührte ihn etwas

am Hals. Zu Tode erschrocken fuhr Yasha hoch. Die Gestalt, die sich über ihn beugte, zog erschrocken die Hand zurück und flüsterte hastig: »Kapilavastu!«

Sofort war Yasha hellwach. Durch die schlechten Erfahrungen als Bettler war er misstrauisch und aggressiv geworden: »Was hast du gesagt? Was willst du von mir?«, fragte er und bemühte sich, seiner Stimme einen drohenden Klang zu verleihen. »Bitte!«, flüsterte der Unbekannte leise und wich ein Stück zurück. Yasha betrachtete ihn im schummrigen Licht genauer. Vor ihm stand ein dünner Junge, etwa in seinem Alter, und bohrte nervös mit seinen nackten Zehen im Straßenstaub. Die Lumpen, mit denen der Betteljunge bekleidet war, sahen nicht besser aus als die Fetzen, die Yasha selber trug. Das einzig Ungewöhnliche an dem Fremden waren seine Augen – sie wirkten so starr. War er blind? Nachdem Yasha sein Gegenüber eingehend gemustert hatte, kam er zum Schluss, dass dieser Junge ihm nichts Böses tun wollte. Aber woher kannte der Junge das Wort Kapilavastu? »Du hast im Schlaf meinen Namen gerufen und mit den Armen um dich geschlagen. Du hattest einen Alptraum. Ich wollte dich nur aufwecken! Warum rufst du jede Nacht meinen Namen?«, fragte der blinde Betteljunge leise.

Und so erzählte Yasha ihm seine Geschichte. Er berichtete von der Suche nach seinen Eltern und was er bisher auf seiner Reise erlebt hatte. Auch, dass die kleine Reinkarnation in Tibet das Wort »Kapilavastu« vor ihm auf den Boden geschrieben hatte und natürlich von dem Mönch mit dem Schwindibus-Pulver. Yasha redete und redete – ja, er erzählte dem fremden Jungen sein ganzes Leben.

Der blinde Junge

hörte zu und unterbrach

Yasha kein einziges Mal. Als er fertig mit seiner Erzählung war, ergriff der Blinde Yashas Hand und sagte: »Mein Name ist Kapilavastu – das bedeutet Teufelsfluch. So nannten mich meine Eltern, als sie merkten, dass ich blind geboren war. Weil sie schon meine vielen Geschwister kaum ernähren konnten, setzten sie mich aus. Ein blindes Kind war ihnen einfach zu viel. Sie waren so schrecklich arm! Das geschah vor vielen Jahren und ich lebe immer noch, denn ich habe nie den Mut verloren. Ich wohne, seit ich denken kann, hier im Viertel der Ärmsten der Armen. Vor kurzem erzählten mir einige Bettler, dass hier ein neuer Betteljunge aufgetaucht ist, der des Nachts im Schlaf immer ›Kapilavastu‹ ruft. Seitdem habe ich dich gesucht.« Der Talisman hatte plötzlich begonnen, so stark zu leuchten wie noch nie zuvor. Es war das erste Mal, seit das Schwindibus-Pulver an ihm haftete. Da kam Yasha eine Idee. Er nahm den Talisman von seinem Hals und hielt ihn vor das Gesicht des Betteljungen: »Mach, dass er sehen kann, oh Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche, dass du ihn heilst!« Und das Unglaubliche geschah: Die starren Augen des Jungen begannen so stark zu tränen, dass Kapilavastu sie schließen musste. Als er sie nach einer Weile wieder öffnete, schrie er: »Ich sehe! Ich sehe! Ich kann sehen! Oh Yasha! Ich kann dich sehen! Ich kann den Talisman sehen! Ein Wunder ist geschehen. Ich bin dir so dankbar!« Im selben Moment sprühte ein Funkenregen von Yasha herab. Erschrocken schlug er auf die kleinen Fünkchen ein. Das Schwindibus-Pulver verbrannte zu Asche. Seine gute Tat hatte den bösen Zauber Olav Zürbans aufgehoben.

Kapilavastu ergriff Yashas knochige Hand und rief enthusiastisch: »Komm! Jetzt gehen wir zu meinen Eltern! Ich weiß, wo sie wohnen. Inzwischen sind sie sehr, sehr wohlhabend und geben den Armen viele Almosen. Jetzt kann ich sehen und bin keine Belastung mehr für sie. Komm schon! Nun wird alles gut!«

Yasha fragte sich befremdet, wieso sein neuer Freund zu seiner Familie wollte, nach allem, was sie ihm angetan hatten. Doch er behielt seine Bedenken für sich. Und so liefen die beiden Jungen durch die engen, verwinkelten Gassen von Kalkutta. Es dauerte den ganzen Tag, bis sie endlich den kleinen Stadtpalast von Kapilavastus Familie erreichten.

Das Tor stand weit offen und die beiden Jungen sahen im kühlen Schatten des Innenhofes viele Bettler sitzen, die an der abendlichen Armenspeisung teilnahmen.

Schüchtern folgte

Yasha seinem

neuen Freund in den schönen Innenhof. Kapilavastu stellte sich selbstbewusst in die Mitte, hob beide Arme hoch in die Luft und rief laut: »Eltern! Geschwister! Familie! Ich bin es, Kapilavastu, euer Sohn! Das Augenlicht ist mir wiedergegeben worden! Ich bin geheilt! Nun bin ich für euch keine Belastung mehr und kann zu euch zurückkehren!«

Alle starrten auf den dünnen, schmutzigen Jungen, der mitten im Hof stand und so unglaubliche Sachen behauptete. Einige Bettler schüttelten bedauernd ihre Köpfe, andere tuschelten aufgeregt miteinander. Hatte dieser kleine Betteljunge zuviel Sonne abbekommen und war verrückt geworden? So etwas kam öfter vor. Oder war er ein raffinierter Betrüger? Der Innenhof schwirrte nur so von Gerüchten und Mutmaßungen, aber dass diese reichen Leute eines ihrer Kinder verstoßen haben sollten, nur weil es blind war, das konnte sich keiner der Bettler vorstellen. Das war nur bei den ganz armen Familien üblich!

Angelockt durch den ungewöhnlichen Lärm erschienen Kapilavastus Eltern im Innenhof. »Ich bin es, euer Sohn!«, wiederholte Kapilavastu leise, als seine Eltern direkt vor ihm standen. Plötzlich lächelte seine Mutter: »Wenn du wirklich unser Sohn bist, dann hättest du drei schwarze Punkte auf deiner Brust!«

Kapilavastu öffnete sein Hemd. Da waren drei schwarze Punkte zu sehen, die ein Dreieck bildeten – Muttermale. Jeder konnte sehen, dass dieser Junge ihr Sohn war. Weinend umarmte sie ihn. Der Vater legte Kapilavastu die Hände auf die Schultern und sprach mit tief bewegter Stimme: »Wir danken dem Himmel, dass er uns unseren Sohn wiedergegeben hat. Wir haben dir großes Unrecht angetan. Bitte verzeih uns! Ab heute sollst du einen neuen Namen tragen. Ab sofort heißt du Samoshai – ›der Zurückgekehrte‹!«

Die Bettler im Hof jubelten. Nach und nach erschien die ganze Familie und alle umarmten den Zurückgekehrten. Yasha hatte sich unauffällig ein wenig abseits inmitten anderer Bettler auf den Boden gesetzt.

Als Samoshai

seine Geschichte

erzählt hatte, schauten alle zu Yasha hinüber. Samoshais ältester Bruder holte ihn von seinem Platz zwischen den Bettlern in den Kreis der Familie und alle umarmten Yasha dankbar. Die Familie verwöhnte die beiden Jungen sehr. Sie wurden in duftenden Kräuterbädern gebadet, geölt und ihre Wunden wurden gepflegt. Sie bekamen kostbare Kleider und die köstlichsten Speisen. Dann fielen die Freunde erschöpft in die weichen Betten.

Am nächsten Morgen hatten sich im Innenhof hunderte von Menschen versammelt, denn die Nachricht von der Wunderheilung und der Rückkehr des verlorenen Sohnes hatte sich in Windeseile in der ganzen Stadt verbreitet. Von nun an mussten Samoshai und Yasha Neugierige und Kranke empfangen und jeder wollte den Talisman berühren. Diese neue Aufgabe gefiel Yasha gut. Er wünschte den Kranken ihre Heilung von ganzem Herzen. Außerdem hoffte er, dass ihm irgend jemand etwas über den Verbleib seiner Eltern erzählen könnte. Ganz allmählich erholte sich der Junge von der schrecklichen Zeit, die er als Bettler auf Indiens Straßen verbracht hatte.

»Onkel Jaïki,

der weise Mann!«,

schallte es aus der Menschenmenge. Fröhlich wurde ein alter Mann mit langen weißen Haaren von der ganzen Familie umringt. Jeder wollte ihn zuerst begrüßen. Es wurde ein schöner Abend, denn Onkel Jaïki war nicht nur sehr weise, er wusste auch viele lustige Geschichten zu erzählen. Yasha und Samoshai mochten ihn auf Anhieb.

Als man sich schließlich für die Nacht verabschiedete, hielt Onkel Jaïki Yasha für einen Moment zurück und sagte: »Yasha, was machst du noch hier? Du musst deine Eltern finden!« Kleinlaut gestand Yasha dem weisen Mann, dass er nicht wüsste, wo er seine Suche fortsetzen solle. Onkel Jaïki strich sich über den langen weißen Bart und dachte einen Moment nach. Dann lächelte er und unterbreitete Yasha einen Vorschlag. Getröstet ging Yasha zu Bett, Onkel Jaïkis Plan war gut und gleich morgen früh wollte er ihn in die Tat umsetzen.

Schon beim Frühstück weihte Yasha seinen Freund Samoshai in den Plan von Onkel Jaïki ein. Die Idee war relativ einfach: Yasha sollte Samoshai ein Haar ausreißen, eines, das zwischen den drei Muttermalen wuchs. Das Haar musste er in einen gefüllten Milchkrug legen und diesen im Garten unter den Bodhi-Baum stellen. Vor Sonnenaufgang würde er dort die Antwort finden. Dann sollte sich Yasha sofort auf die Reise begeben, das hatte Onkel Jaïki ihm eingeschärft.

Samoshai schrie wie am Spieß und strich sich mit seiner Hand über das Muttermal, als Yasha ihm das Haar ausriss. Nun fehlte noch der Krug Milch. Die Jungen gingen auf den Innenhof, um zum Küchentrakt zu gelangen. Dort wartete schon Onkel Jaïki, um sich von ihnen zu verabschieden. Nachdem die drei sich umarmt hatten, stieg Onkel Jaïki, wie von einer sanften Brise erfasst, als kleine, helle Wolke hoch in die Luft. Die Jungen schauten hinterher und winkten, bis die kleine Wolke nicht mehr zu sehen war. Auf dem Boden, wo Onkel Jaïki eben noch saß, stand ein kleiner Krug mit Milch. Die Jungen lächelten sich zu. Beide wussten, was als nächstes zu tun war, und trugen den kleinen Krug sehr vorsichtig, um die Milch nicht zu verschütten, in den Garten.

Als Yasha und Samoshai den riesigen Bodhi-Baum im Garten erreichten, machten sie alles genau so, wie Onkel Jaïki es gesagt hatte. Später erklärte Samoshai, warum Onkel Jaïki den Bodhi-Baum für das Orakel ausgewählt hatte: Der Bodhi-Baum ist ein sehr heiliger Baum. Er wird bis zu 30 Meter hoch und hat Luftwurzeln, die wie gigantische Finger aussehen. Die Buddhisten verehren den Bodhi-Baum, weil man sich erzählt, dass Buddha oft unter diesem Baum meditiert hat.

Am nächsten Morgen,

der Himmel

wurde gerade hellrosa, rannten Yasha und Samoshai zum Bodhi-Baum. Neugierig untersuchten sie den Milchkrug. Er war leer. Eine kleine Wurzel des Baums hatte sich durch den Boden des Kruges gebohrt und fein verzweigt.

Samoshai murmelte: »Die Wurzel des Bodhi-Baums hat die Milch getrunken und der Baum hat gesprochen, schau, Yasha!« Sorgfältig studierten die beiden Freunde die Linien, die die feine Wurzel im Inneren des Kruges gebildet hatte.

»S – u – l – a – i, Sulai!«, buchstabierte Yasha triumphierend. Samoshai wurde blass. Das war ein furchtbares Orakel, denn Sulai liegt im Reich des bösen Sultans von Suzibo. Das Land besteht aus glühendem Wüstensand und die Bewohner Sulais sind die angriffslustigsten Halunken, die man sich vorstellen kann. Viele Reisende nennen Sulai heimlich das Land der »Nimmerwiederkehr«. Oh je! Das waren ganz schlechte Zeichen, unter denen Yashas nächste Reise stand. Samoshai machte sich große Sorgen und versuchte, seinem Freund dieses gefährliche Vorhaben auszureden. »Samoshai! Ich muss dort hin! Wahrscheinlich sind meine Eltern in Sulai. Hab keine Sorge – der Talisman passt auf mich auf!«

Yasha umarmte

seinen Freund zum

Abschied. »Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche, nach Sulai zu gelangen!« rief Yasha laut. Ein starker Wind ließ die Blätter im Bodhi-Baum rauschen. Ein Sog erfasste den Jungen und riss ihn mit sich – hoch über Kalkutta, über Indien und über die unendlich weite Wüste.

Der Talisman
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