Schweren Herzens verabschiedete Yasha sich von seinen Freunden in Ungarn. Er versprach ihnen, im nächsten Frühling zurückzukommen und wanderte los. Kaum war das Dorf außer Sichtweite, nahm der Junge den Talisman in die Hand und sagte: »Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche auf dem höchsten Berg der Welt zu sein. Von dort aus werde ich die ganze Welt sehen und vielleicht meine Eltern finden.«

Der steinerne Schmetterling

leuchtete nur

sehr schwach und die Wärme in Yashas Hand war nicht so, wie er es von seiner letzten Reise in Erinnerung hatte.

Später sollte Yasha verstehen, dass der Talisman seine Zustimmung mit starkem Leuchten und großer Wärme andeutete. Gefiel ihm eine Idee weniger gut, leuchtete er schwach und wurde auch nur lauwarm. Im schlimmsten Fall reagierte der Talisman gar nicht. Aber das wusste Yasha zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es war kindisch von ihm zu glauben, dass vom höchsten Berg der Erde die ganze Welt zu sehen wäre. Aber die Geschichte, die Graf Gregorio ihm von der Prinzessin und dem Bauersohn erzählt hatte, ging Yasha nicht aus dem Kopf. Besonders das ungarische Sprichwort »Suchst du jemanden, den du liebst, musst du auf den höchsten Berg klettern!« ließ ihn hoffen. Es mag sein, dass der Talisman diese Dummheit duldete, weil Yasha so jung war. Denn … hui, kaum hatte der Junge seinen Wunsch ausgesprochen, landete er tatsächlich … hui … auf dem höchsten Berg der Welt, dem Mount Everest, im Himalaya-Gebirge!

Es war klirrend kalt, so kalt, dass Yasha die Luft beim Einatmen wie tausend kleine Nadelstiche spürte. Wo er auch hinschaute, die Landschaft war mit leuchtend weißem Schnee bedeckt. Dazwischen lagen tiefe, zerklüftete Abgründe, deren vereiste Wände in allen Blauschattierungen, von zartem Himmelblau bis zu tiefem Dunkelblau, schimmerten. Seltsame Wolken, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten, umgaben den Jungen. Sie waren zum Greifen nahe.

»Warum habe ich mir das bloß gewünscht?«, jammerte Yasha, während er sich zitternd vor Kälte und Angst an einem Felsen festklammerte. Kleine Eisklumpen lösten sich unter seinen Füßen, als er versuchte, auf dem spiegelglatten Boden Halt zu finden. Beunruhigt sah Yasha den Eisbröckchen hinterher, die hüpfend und kullernd im schrecklich tiefen Abgrund unter ihm verschwanden. »Stark bleiben!«, ermahnte er sich.

Langsam und vorsichtig schob sich Yasha auf die Rückseite des vereisten Felsens. Vor ihm lag ein kleines Plateau. Auf allen Vieren kletterte Yasha das kurze Stück über den vereisten Hang hinauf. Seine Hände waren inzwischen so kalt, dass der Junge sie nicht mehr spürte.

Yasha befand

sich auf über

8.000 Meter Höhe. Hier oben ist die Luft so dünn, dass Menschen ohne Atemgerät in größte Schwierigkeiten geraten. Die Luft enthält zu wenig Sauerstoff und das kann dazu führen, dass einen die gefürchtete Höhenkrankheit befällt. Plötzlich hörte Yasha Stimmen. Bekam er einen Höhenrausch? Neben Kopfschmerzen und Übelkeit sieht und hört man dann Dinge, die nicht wirklich da sind – man phantasiert. Yasha machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Auf einmal standen drei Männer vor ihm. Sie waren in lange gelbe Gewänder gehüllt, liefen barfuß und ihre Köpfe waren kahl geschoren. Obwohl es so bitterkalt war, bedeckten sie nicht einmal ihre nackten Arme. Es waren tibetanische Mönche. Der Mount Everest liegt im höchstgelegenen Land der Welt, in Tibet.

In diesem Land

gibt es viele,

viele Klöster. Die drei Mönche sagten gleichzeitig: »Ah, der Yasha. Klar!« »Wieso kennt ihr mich? Wer seid ihr?«, fragte Yasha. Er starrte die Mönche an und kniff sich kurz in den Arm, um festzustellen, ob er träumte. Da rief ihn einer der Mönche zu sich und bat Yasha, sich zu ihnen zu setzen, zum gemütlichen Teetrinken – und das in 8.848 Meter Höhe bei eisigster Kälte! Der Junge sah, wie der Schnee um die Mönche schmolz und das Wasser in ihrer Teekanne zu kochen begann. Yasha hatte irgendwo gelesen, dass tibetanische Mönche durch die Kraft ihres Geistes ganz erstaunliche Dinge vollbringen können. Aber was er hier erlebte, war wirklich ganz unglaublich!

Dankbar nahm

Yasha die Schale Tee an

und genoss die Wärme, bevor er einen Schluck trank. Das Getränk schmeckte fürchterlich, denn in Tibet trinkt man den Tee mit ranziger Butter statt mit Milch und Zucker! Yasha verzog aber keine Miene, denn er wollte seine Gastgeber nicht kränken. Auf den schmelzenden Schnee zeigend fragte Yasha: »Bitte, wie macht ihr das? Seid ihr Zauberer wie mein Vater?« »Oh nein!«, sagte ein Mönch lachend. »Mit Zauberei hat das nichts zu tun! Wir Mönche zaubern nicht. Die Fähigkeiten, die dich so erstaunen, sind uns durch die Konzentration unseres Geistes möglich. Um diese Kräfte nutzen zu können, braucht man viele Jahre Übung. Aber Zauberei kann eigentlich jeder Mensch lernen! Schau, Yasha, der Mönch Tashi führt dir einen richtigen Zaubertrick vor!« Tashi zeigte Yasha seine linke Hand und fragte: »Wie viele Finger siehst du?« Yasha zählte drei, dann fragte der Mönch listig: »Wo ist dein Talisman?« Der Junge griff an seine Brust. Der Talisman war weg. Entsetzt schaute er Tashi an. Der lachte und zog den Talisman vom Hals des dicksten Mönchs. »Das ist Zauberei!«, erklärte er: »Ich lenkte dich mit einer Hand ab und während du noch meine Finger zähltest, nahm ich mit der freien Hand deinen Talisman und reichte ihn heimlich Mönch Thagpa. So einfach ist das. Aber was wir dir jetzt zeigen, ist keine Zauberei.«

Die drei Mönche zwinkerten sich verschwörerisch zu und kicherten. Dann schlossen sie ihre Augen und siehe da, auf einmal schwebten sie zwei, drei Meter über dem Schnee, um dann wieder sanft auf dem Boden vor ihren dampfenden Teeschalen zu landen. Yasha war fasziniert.

»Bitte! Sagt mir,

wieso wusstet ihr, dass ich hier

auf dem Mount Everest bin?«, fragte der Junge. Darauf lächelte Mönch Tashi und sagte: »Wir waren unterwegs, um die Reinkarnation unseres verstorbenen Lamas zu finden. Da merkten wir, dass uns irgendetwas störte. Als wir danach forschten, fanden wir dich.«

Dann erklärten die Mönche Yasha, was Reinkarnation bedeutet. Und das ist so: Die Religion der Tibeter ist der Buddhismus. Sie glauben daran, dass alle Menschen nach ihrem Tod so oft wiedergeboren werden, bis sie irgendwann als wirklich weise und gute Menschen gelebt haben. Bei den heiligen Lamas ist das anders. Sie haben bereits alle Leben, die notwendig sind, durchlebt und kehren nach ihrem Tod immer wieder freiwillig auf unsere Welt zurück. Es ist ein Geschenk, das sie ihren Mitmenschen aus Liebe machen, um ihre Kenntnisse weiterzugeben.

Und jedes Mal, wenn ein heiliger Lama stirbt, begeben sich weise Mönche auf die Reise, um nach der Wiedergeburt, der Reinkarnation, zu suchen. Das kann sehr lange dauern, aber sie finden sie immer.

Meist ist es ein Kind.

Die Mönche erkennen

die kleine Reinkarnation an verschiedenen Zeichen. Zum Beispiel kann das Kind Fragen über Geschehnisse beantworten, die es unmöglich wissen kann. Und es erkennt Gegenstände, die dem verstorbenen Lama gehört haben, weil sie dem Kind aus seinem früheren Leben vertraut sind.

»Und ihr seid extra auf 8 848 Meter geklettert, nur weil ich euch gestört habe?«, bohrte Yasha weiter. Schon wieder kicherten die drei freundlichen Mönche und schauten ihn verschmitzt an. Tashi wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, da flog plötzlich eine dicke gelbe Wolke mitten unter sie. Schnell erhoben sich die drei Mönche und verbeugten sich tief. Die Wolke begann sich aufzulösen und was eben noch wie gelbe Watte aussah, verwandelte sich in einen uralten Mann mit wehendem gelbem Gewand. »Lieber Himmel, sie können sogar fliegen!«, dachte Yasha. »Eure Heiligkeit!«, sagten die drei Mönche auf Yasha zeigend, »Yasha und sein Talisman haben die Energieströme gestört!« Der alte Lama musterte Yasha missmutig und wandte sich wieder den drei Mönchen zu: »Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Dann flüsterte er zitternd vor Aufregung: »Ich glaube, ich habe die kleine Reinkarnation gefunden. Der Junge lebt mit seinen Eltern in Tshanar. Kommt schnell, lasst uns schauen, ob das Kind die Zeichen kennt!«

»Und ich?«, fragte Yasha angsterfüllt. »Ich kann doch nicht fliegen!« Wollten die Mönche ihn etwa auf dem eisigen Berg alleine zurücklassen? Da sagte der liebe Mönch Tashi zu ihm: »Was dein Geist will, wirst du auch schaffen. Du musst nur sagen: Ich kann, ich kann, ich kann und fest daran glauben!«

Das hörte sich sehr

einfach an, aber ob es auch

bei ihm klappen würde? Yasha hatte da so seine Zweifel. Trotzdem schloss er seine Augen und sagte ganz laut: »Ich kann, ich kann, ich kann fliegen!« Und, welch Wunder, er erhob sich in die Luft und beeilte sich, seinen seltsamen neuen Freunden zum Dorf Tshanar zu folgen. Zwei-, dreimal kreisten sie hoch oben über dem Dorf. Yasha konnte die armseligen Häuser kaum von den riesigen Felsbrocken unterscheiden und starrte angestrengt nach unten.

Da entdeckte er ein sehr helles Licht. Sie flogen auf das Licht zu und landeten schließlich sanft auf dem felsigen Platz vor einem ärmlichen Häuschen. Beim Anblick des alten Lamas und der drei Mönche verbeugten sich ein Mann und eine Frau, die schon auf sie gewartet hatten. Sie baten die Ankömmlinge, hereinzukommen. Yasha blickte in zwei sorgenvolle Gesichter. Die von Wind und Wetter gezeichnete zerfurchte Haut machte es schwer, das Alter des Paares zu schätzen. Es waren einfache Bauern. Die vielen Schichten ihrer langen wattierten Mäntel ließen die beiden ein wenig unförmig erscheinen. Die Frau neigte den Kopf, vielleicht damit niemand sehen konnte, dass sie weinte. Die beiden waren sehr unglücklich, erkannte Yasha.

Der Junge zog den Kopf ein, um sich nicht an der niedrigen Tür zu stoßen. Kleine Öllampen tauchten den verrauchten Raum in mattes Licht. Das Feuer zum Kochen und Heizen brannte mitten im Zimmer. Rauch sammelte sich an der Decke und hatte die Holzbalken geschwärzt, denn Schornsteine kennt man in Tibet nicht. Yashas Augen begannen zu brennen und tränten fürchterlich. Verschwommen sah er das Kind vor sich. Es war höchstens fünf Jahre alt und um seinen Kopf leuchtete ein Licht so hell und so warm wie die Sonne. Etwas Ähnliches hatte Yasha in der Kirche zuhause auf frommen Bildern gesehen, da war so ein Schein um die Köpfe von Heiligen gemalt worden. War das die kleine Reinkarnation, die Wiedergeburt ihres geliebten verstorbenen Lamas, nach der seine Begleiter schon so lange suchten?

Freundlich nickten

die Mönche

dem Kind zu und baten es, sich neben den großen Lama zu setzen. Der alte Lama stellte fünf Schalen vor das Kind. Zielsicher griff der Kleine nach einer der Schalen, sie hatte dem letzten Lama gehört. Dann warf der alte Lama fünf würfelähnliche Steine auf den Boden. Das Kind hob einen der Steine auf. Es war der einzige, der in die leere Fassung des Rings passte, den der alte Lama aus einer Schatulle nahm. Das war der Ring des verstorbenen Lamas gewesen. Dann wurden uralte Bücher herausgeholt und das Kind konnte alles lesen und verstehen, was darin stand. Die Prüfung der Zeichen dauerte unendlich lange. Und da sich im Moment niemand für Yasha interessierte, dachte er über seine Abenteuer auf dem Mount Everest nach. Als er schließlich zur Einsicht gelangte, dass er mit dem Zauberspruch »Ich kann, ich kann, ich kann« unglaubliche Dinge schaffen konnte, schlief er beruhigt ein.

Das Weinen der Mutter des kleinen Jungen weckte Yasha auf. Sie wusste nun, dass ihr Kind eine heilige Reinkarnation war. Die Mönche würden ihren einzigen Sohn nach Lhasa, in die heilige Hauptstadt von Tibet, mitnehmen, um ihn dort auszubilden. Als Erwachsener würde er in Lhasa seine göttliche Rolle als hoher Lama ausüben. »Die armen Eltern und der arme Kleine, sie werden getrennt!«, flüsterte Yasha erschüttert. »Ja!«, antwortete Mönch Tashi. »Aber sie werden auch stolz darauf sein, Eltern einer Reinkarnation zu sein, und sie können ihren Sohn später im Palast besuchen. Aber am Anfang wird es schwer für sie. Wenn du willst, bleib doch eine Weile bei ihnen. Du bist ein guter Mensch, Yasha, und du kannst sie bestimmt trösten!«

Als Yasha

sich von dem

alten Lama, den drei Mönchen und der kleinen Reinkarnation verabschiedete, schaute ihn das Kind lange an. Dann schrieb es auf die Erde: Kapilavastu. Verwundert schaute Yasha auf das Wort. Mönch Tashi flüsterte ihm zu: »Nach diesem Ort musst du suchen! Vielleicht befinden sich deine Eltern in Kapilavastu.«

Yasha blieb lange bei den lieben, bescheidenen Bergbauern und lernte vieles über das Leben in Tibet. Dieses raue Land wird auch das »Dach der Welt« genannt, weil es so hoch liegt. Yasha fühlte sich hier wohl, aber Kapilavastu ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er sehnte sich danach, die Suche nach seinen Eltern fortzusetzen. Als er Abschied nehmen wollte, weinte die Mutter der kleinen Heiligkeit so sehr, dass Yasha es nicht übers Herz brachte, die arme Frau zu verlassen. Er nahm seinen Talisman ganz fest in die Hand und sagte: »Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche, dass sie noch einen Sohn bekommt!« Das schien dem Talisman sehr zu gefallen, denn er leuchtete wie ein Stern und verbrannte Yasha fast die Hand.

Nachdem die Mutter der kleinen Reinkarnation ihren zweiten Sohn bekommen hatte, verließ Yasha das Bergdorf Tshanar. Zum Abschied legten die Dorfbewohner dem Jungen allerlei merkwürdige Ketten um – es waren Amulette gegen das böse Auge. Die Mutter der kleinen Reinkarnation nähte ihm zehn Goldtaler in seine Jacke ein. Beladen wie ein Packesel brach Yasha an einem kühlen Morgen auf, um den geheimnisvollen Ort Kapilavastu zu suchen.

Wo liegt Kapilavastu? Yasha nahm den Talisman ganz fest in beide Hände und sagte: »Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche nach Kapilavastu zu gelangen!« Doch nichts geschah. Schlief der Talisman noch? Yasha versuchte es nochmal. »Lass mich bitte nicht im Stich, lieber Talisman! Wach doch auf! Ich möchte nach Kapilavastu!«, lockte Yasha.

Der steinerne

Schmetterling ließ sich

ziemlich lange bitten, bis er auf Yashas Flehen reagierte: »Yasha, ich kann dir nicht jeden Wunsch erfüllen, du musst auch selber etwas tun! Als du eine Welle warst, hast du gelernt, eine Welle der Donau zu sein. Als du die Mönche am Mount Everest getroffen hast, bist du durch die Kraft deines eigenen Willens geflogen! Und nun laufe in Richtung Süd-Südwest, mein Junge! Wenn du meine Hilfe wirklich brauchst, bin ich für dich da!« Das war eine sehr lange Rede für den Talisman. Schließlich weiß ja jeder, dass steinerne Wesen ausgesprochen wortkarg sind.

Während Yasha sich mit dem Talisman herumärgerte und verbissen in Richtung Süd-Südwest wanderte, saß der Schwarzmagier Olav Zürban in seiner Baumruine mitten im Halbdunkelwald. Obwohl inzwischen viele Jahre vergangen waren, seit er den Bann über Yasha und seine Eltern ausgesprochen hatte, war es ihm nicht gelungen, den Jungen zu finden. Olav Zürban hatte hunderte seiner schwarzen Schmetterlinge auf die Suche nach Yasha geschickt. Und jetzt, nach 13 Jahren, war der letzte seiner flatternden Spione erfolglos in die düstere Behausung der Baumruine zurückgekehrt. Wütend schlug Olav Zürban mit seinem Zauberstab auf den Tisch. Kleine Wolken von Wexelstaub und Schwindibus-Pulver stiegen in die Luft. Ungeduldig wedelte der Schwarzmagier mit der Hand durch die glitzernde Wolke. Der schwarze Schmetterling schwirrte eilig davon. Wenn sein Meister in dieser Stimmung war, ging man ihm besser aus dem Weg. Die Dvorachs mussten ihrem Sohn den verfluchten Talisman dagelassen haben. Einen anderen Grund konnte es nicht geben, dass seine Spione den Jungen nicht finden konnten. Olav Zürban schüttelte sich, denn das war eine unangenehme Vorstellung. Die Magie des steinernen Schmetterlings war für ihn kaum zu überwinden. Es ließ sich nicht länger aufschieben, er würde sich mit seiner verhassten Schwester aussöhnen müssen. Die dunkle Seherin musste ihm erlauben, sein braunes Auge in die kalte Quelle der Zeit zu legen. Ja, und dann würde er sehen, wo der Bengel gerade steckte. Wenn Yasha den Talisman hatte, nun, dann würde er, Olav Zürban, eben dafür sorgen müssen, dass der Junge ihn irgendwie verlor. »Kinder verlieren doch so oft etwas!« Die Augen des Schwarzmagiers begannen bei diesem Gedanken böse zu funkeln, das eine braun, das andere blau.

»Das tue ich,

um meine Eltern zu finden!

Nur darum! Ich kann, ich kann, ich kann! Und ich will, ich will, ich will!«, murmelte Yasha verbissen vor sich hin.

Er hatte die wenigen Bergbauern, die er unterwegs getroffen hatte, nach Kapilavastu gefragt. Doch sie schüttelten alle bedauernd ihre Köpfe und sagten, er solle lieber bei ihnen bleiben, es sei gefährlich für einen kleinen Jungen, allein durch die Berge zu wandern. Überall lauern böse Geister auf die Reisenden. Wie alle Himalaya-Bewohner waren sie sehr abergläubisch. Yasha kaufte ihnen mit den Münzen, die ihm die Mutter der kleinen Reinkarnation gegeben hatte, einige Lebensmittel ab und zog weiter. Er folgte schmalen Pilgerpfaden, wanderte über karges, steiniges Gelände, überwand Passstraßen, ging durch bewaldete Täler, entlang an rauschenden Bächen. Schnell wurden aus Tagen Wochen.

Das Holz, um abends ein kleines Feuer zu machen, sammelte Yasha in der Nähe seines Lagerplatzes. Wenn er müde wurde, rollte er sich in seine warme Wolldecke und schlief unter freiem Himmel. Morgens wusch er sich in einem der vielen klaren Bäche. Versonnen betrachtete Yasha dabei seine Füße. Am Anfang der Wanderung waren sie vom vielen Laufen ganz wund gewesen und er hatte furchtbare Schmerzen gehabt. Aber nun bildete sich eine dicke Hornschicht und er konnte endlos laufen, ohne zu ermüden.

Trotzdem fragte

sich Yasha wohl

zum hundertsten Mal: »Wie weit muss ich noch gehen, um Kapilavastu und meine Eltern zu finden?« Und wie jeden Morgen verdrängte er diese Frage und sagte laut zu sich selbst: »Ich kann, ich kann, ich kann.« Und machte sich wieder auf den Weg. Schon seit Tagen war der Junge keinem Menschen mehr begegnet. Gegen Mittag erreichte Yasha eine lange, schmale Hängebrücke, die über eine tiefe Schlucht führte. Einige Trittholzbretter waren zerbrochen, andere sahen morsch aus. Diese Brücke musste schon sehr alt sein. Vorsichtig spähte Yasha vom Rand der Schlucht in die Tiefe – vielleicht gab es noch einen anderen Weg, um auf die andere Seite zu gelangen? Weit unten brodelte ein breiter Fluss. Der Junge bekam es mit der Angst zu tun. Plötzlich entdeckte Yasha auf der gegenüberliegenden Seite der Hängebrücke einen Mann mit seinem Lasttier, einem Yak. Yaks sind eine Art Rinder mit zotteligem Fell, wegen ihrer grunzenden Laute werden sie auch tibetische Grunzochsen genannt. Ohne zu zögern führte der Mann sein schwer beladenes Tier auf die schwankende Hängebrücke.

Es dauerte eine Weile, bis die beiden Yasha erreicht hatten. Forschend musterte der Mann den Jungen. »Du hast Angst, aber du darfst Vertrauen haben. Die guten Geister werden dich beschützen.« Mit diesen Worten zog der Fremde ein weißes Tuch von seinem Hals und wickelte es um ein Tau an der Brücke. »Was bedeutet das?«, fragte Yasha erstaunt. »Das ist die weiße Khata. Dieser Schal ist bei uns in Tibet ein Symbol für Gesundheit. Und die wünsche ich dir auf deinem Weg!«, erwiderte der Fremde. Yasha war gerührt und dankbar für die Güte und Freundlichkeit des Fremden. Er sah ihm und dem zotteligen Yak hinterher, bis die beiden zwischen den Felsen verschwunden waren. Dann nahm Yasha all seinen Mut zusammen, strich mit der Hand andächtig über das weiße Tuch, murmelte »Ich kann, ich kann, ich kann« und betrat mit zitternden Knien die Hängebrücke.

Yasha ließ die

hohen Berge Tibets

hinter sich und durchquerte Nepal. Die Landschaft wurde immer grüner. Der Junge wanderte durch blühende Rhododendronwälder und erreichte schließlich die Teeplantagen im Norden Indiens. Überall fragte Yasha nach Kapilavastu – aber kein Mensch hatte je von diesem Ort gehört.

Der Talisman
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