»Wo bin ich?«, flüsterte Yasha, als er am nächsten Morgen erwachte. Der Riese schaute ihn fragend an. »Wo sind meine Eltern? Wo ist Steju? Sag es mir! Mein Vater ist Zauberer und hatte sich in einen Stein verwandelt, als das Schiff, mit dem sie aus Brasilien kamen, hier vor Cabeluda versank. Er ist immer noch ein Stein und nur mein Talisman kann ihm helfen, sich wieder zurück in seine menschliche Gestalt zu verwandeln.« »Ja, ja!«, sagte der Riese und streichelte dem Jungen sanft über die Stirn. »Alles ist gut. Schlaf noch ein bisschen, mein Seelchen!«

Durch die liebevolle Pflege des Riesen erholte sich Yasha schnell. »Du hast so viele Dummheiten erzählt, du Märchenerzähler! Ach, mein kleiner Retter, Yasha-Seele!«, brummte der Riese und erdrückte den Jungen fast mit seiner ungestümen Umarmung. »Jetzt bist du wieder gesund. Ich werde dir unsere Insel zeigen. Alle sollen meinen Sohn bewundern, denn der bist du jetzt!«

Weil Yasha noch zu schwach war, um lange Strecken zu laufen, setzte ihn der Riese auf seine Schultern oder trug ihn in seinen großen Armen auf der Insel herum. Er platzte fast vor Stolz auf seinen neuen Sohn und gab furchtbar mit ihm an. Das war Yasha sehr unangenehm. Doch besonders peinlich war, dass der Riese ihn wie ein Zuckerpüppchen herausputzte. Vor den täglichen Spaziergängen nahm er Yasha den Talisman ab und ölte den Jungen von Kopf bis Fuß ein, sogar seine Haare. In diesem Moment kamen die schwarzen Schmetterlinge angeflogen, die sonst friedlich an den Wänden des Häuschens saßen. Sie flatterten aufgeregt um Yasha herum – ob sie das Öl so sehr mochten? Der Riese schlug mit seinen großen Pranken nach ihnen, während er versuchte, Yashas Haare zu einem Zopf zu binden – aber dafür waren sie zum Glück noch zu kurz. Dann band der Riese Yasha ein buntes Tuch um die Hüften, wie es hier alle Inselbewohner trugen. Zum Schluss hängte er ihm den Talisman wieder um. Yasha kam sich sehr dumm vor, aber der Riese konnte es einfach nicht lassen. Sogar Yashas Namen änderte er. Er rief nur noch: Salvi-Co-Ilu.

Der Riese war

für die Inselbewohner

so etwas wie ein Häuptling und alle hatten großen Respekt vor ihm. Und weil Yasha ihrem Anführer das Leben gerettet hatte, wurde der Junge wie ein Held gefeiert und verehrt. Das freute den Riesen natürlich. Aber eines konnte er nicht leiden, nämlich wenn seine Leute Yasha in ihrer Begeisterung anfassen wollten. Da wurde der Riese jedes Mal ganz grob. Auch als der Junge wieder völlig gesund war, wich ihm der Riese nicht von der Seite.

Allmählich lernte Yasha seine neue Umgebung kennen. Die Bewohner von Cabeluda waren sehr arm und lebten vom Fischfang. Ihr eintöniges Leben wurde nur von wenigen Ereignissen unterbrochen. Manchmal kamen große Schiffe aus Brasilien und machten hier Halt. Das war eine tolle Abwechslung im Leben der Inselbewohner. Dann wurde die Beute, die der Riese auf seinen Raubzügen zusammengetragen hatte, an den Strand gebracht und gegen Zucker, Salz, gepökeltes Fleisch, Mais und vieles mehr eingetauscht. Wenn die Schiffe wieder am Horizont verschwanden, weinten die Leute bitterlich. Der Riese musste sich jedes Mal sehr anstrengen, um sie zu trösten. Ein anderes wichtiges Ereignis war das Fest der »Staccotas«. Die Staccotas sind eine Art Hering. Einmal im Jahr schwimmen sie in großen Schwärmen an Cabeluda vorbei. Sobald die ersten Fische gesichtet werden, segeln die Inselbewohner los und bleiben zwei Wochen auf See. Sie fischen den ganzen Tag und räuchern die Staccotas. Dann kehren sie erschöpft und glücklich oder unglücklich, je nachdem, wie der Fang ausfiel, nach Cabeluda zurück. Ja, das waren die großen Ereignisse im Leben der Inselbewohner.

Yasha begriff, dass der Riese

ein Pirat geworden war, um seine Leute ein bisschen zu »verwöhnen«. Zu diesem Zweck brach er zu seinen, wie er es nannte, »Erkundungsreisen« auf und wenn der Riese mit Beute beladen zurückkam, war das für alle ein großes Freudenfest.

Wie so oft saß Yasha auf einem sonnigen Platz vor dem Bambushäuschen des Riesen und dachte darüber nach, wie er herausbekommen könnte, wo sich seine Eltern und Steju aufhielten. Er hatte so sehr gehofft, sie hier auf Cabeluda zu finden. Aber mit dem Riesen sprach er lieber nicht mehr über dieses heikle Thema. Denn schon beim dem Wort »Eltern« holte der Riese mit beunruhigter Miene einen widerlichen Saft aus seinem Schrank. Nachdem er die braune Flasche gründlich geschüttelt hatte, bekam Yasha einen großen Löffel der eklig bitteren Medizin zu schlucken. Dieser Saft schmeckte wirklich so schauderhaft, dass Yasha seinen Kummer lieber für sich behielt. Kein Wort von den Eltern, keine Medizin, so einfach war das.

Eines Tages hörte Yasha, dass sich der Riese vor dem Haus laut mit jemandem stritt. Interessiert drückte er sein Ohr an die luftige Bambuswand. Natürlich wusste Yasha, dass man nicht lauschen sollte, aber er war einfach zu neugierig. Der Riese schrie: »Alumentai! Altes Weib! Verschwinde! Hast du verstanden, du alte Hexe!« Dann rief er zwei seiner Nachbarn zu sich: »Bringt die Alumentai sofort dorthin zurück, wo sie hingehört! Los, schnell und sorgt dafür, dass sie nie wieder hierher kommt. Sie will Salvi-Co-Ilu verhexen!« »Nein, das stimmt nicht!«, krächzte die Stimme der alten Frau. »Ich muss Salvi-Co-Ilu etwas geben. Es ist wichtig für ihn!« »Schluss jetzt, weg mit ihr!«, donnerte der Riese. Yasha lief es eiskalt den Nacken hinunter. Nach einem kurzen Handgemenge entfernten sich die Geräusche, bis sie schließlich ganz verstummten. Mit weichen Knien verließ Yasha seinen Lauschposten an der Wand und setzte sich an den kleinen, wackligen Tisch. Auf einmal erschien ihm die Hütte des Riesen gar nicht mehr wie ein sicherer, heimischer Ort. Der Riese sagte immer, wie sehr er ihn liebte, aber warum verdarb er ihm dann die Chance, zu seinen Eltern zu finden, und jagte Alumentai davon?

Während Yasha

in der kleinen

Hütte saß und seinen düsteren Gedanken nachhing, rannte der Riese aufgebracht am Strand hin und her, um sich wieder zu beruhigen. Als er nach einer sehr langen Zeit das Haus betrat, schäumte er noch immer vor Ärger. Polternd riss der Riese die Rumflasche aus dem Regal und trank einen Riesenschluck. Dann setzte er sich zu Yasha an den Tisch. Der Junge hatte ihn selten so wütend erlebt. Er musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um nicht vom Tisch aufzuspringen und aus der Hütte zu laufen. Die Luft knisterte vor Spannung. Nach einer ganzen Weile, der Riese starrte inzwischen dumpf vor sich hin, fragte Yasha vorsichtig: »Riese! Wer ist Alumentai? Was wollte sie mir geben?« Der Riese wich Yashas Fragen aus und wirkte auf einmal fast verlegen. Sogar seine Ohren waren ein bisschen rot angelaufen und das kommt bei Riesen wirklich nicht oft vor.

» Hier spielt

sich etwas

Merkwürdiges ab«, dachte Yasha misstrauisch. Es hatte mit seinen Eltern zu tun. »Sage mir doch, was Alumentai mir geben wollte!«, bohrte er weiter. Da presste der Riese wütend die Lippen zusammen und stand so abrupt auf, dass er dabei seinen Stuhl umkippte. Die Geschichten von Yashas zaubernden Eltern und diesem Steju gingen ihm ganz gewaltig auf die Nerven. Jedes Mal stand der Riese Höllenängste aus, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Seine größte Sorge war, dass Yasha ihn verlassen würde, um weiter nach seinen Eltern zu suchen. Und dann wäre er, der Riese, wieder allein.

Schnell ging er zum Regal und griff mit einem triumphierenden Lächeln nach der Flasche mit der bitteren Medizin. Der Riese wusste ganz genau, das Yasha dieses eklige Gebräu abgrundtief verabscheute, darum hoffte er, dass die Fragerei nun endlich ein Ende haben würde.

Abwehrend hob Yasha die Hände: »Nein! Bitte, Riese, ich brauche deine Medizin nicht. Alles, was ich dir über meine Eltern und Steju erzähle, ist wahr. Ich weiß, dass Alumentai mir etwas sagen möchte. Etwas, das alle hier auf der Insel wissen, nur ich nicht, und dass das Geheimnis mit meinen Eltern zu tun hat. Du willst es vor mir verheimlichen, weil du Angst hast, ich könnte dich verlassen, um sie zu suchen. Bitte sag mir doch, was passiert ist!« In seiner Wut warf der Riese die Medizinflasche gegen die Wand, wo sie in tausend Scherben zerschellte. Der eklige, dunkelbraune Sirup spritzte durch den Raum und lief die Bambushölzer herunter. Yasha zuckte erschrocken zusammen, als der Riese ihn anbrüllte: »Alumentai ist eine Hexe! Das ist alles! Keine Fragen mehr! Es reicht!«

So sehr sich Yasha bemühte, er erfuhr weder, wo Alumentai geblieben war, noch bekam er heraus, was geschah, nachdem seine Eltern und Steju auf Cabeluda gestrandet waren. So konnte es nicht weitergehen, dachte sich der Junge. »Ich kann, ich kann, ich kann dieses Rätsel lösen.« Der Talisman leuchtete aufmunternd. Es sah fast so aus, als würde er dem Jungen zuzwinkern und Yasha begriff, dass er die Lösung wie so oft selber finden musste. Aber dafür brauchte er Alumentai! Nachdem Yasha eine Weile nachgedacht hatte, beschloss er, es mit einer neuen Strategie zu versuchen … nämlich mit der »Yasha-ist-sehr-brav-Strategie«. Er fragte nicht mehr nach Alumentai und sprach nicht mehr von der Suche nach seinen Eltern. Er tat sogar so, als würde ihm das morgendliche Verschönerungsritual, auf das der Riese so großen Wert legte, gefallen.

Yasha hatte Erfolg. Sein Verhalten beruhigte den Riesen. Und es dauerte nicht lange, bis der verwegene Pirat wieder Lust bekam, eine kleine »Erkundungsreise« zu unternehmen. Seine letzte Kaperfahrt lag inzwischen einige Zeit zurück. Da er wusste, dass Yasha diese Reisen sehr missfielen, nahm er ihn zum Glück nicht mit. Stattdessen versprach er zum Abschied: »Salvi-Co-Ilu, mein Kleiner, bei Vollmond bin ich wieder zurück. Ich werde viele schöne Sachen mitbringen, aber das Schönste soll für dich sein, mein geliebter Sohn!« Dann segelte er davon.

Erleichtert

sah Yasha das

bunte Segel am Horizont verschwinden. Nun hatte er endlich die Freiheit, das zu tun, was er wollte. Denn trotz seiner erfolgreichen »Yasha-ist-sehr-brav-Strategie« war ihm der Riese ständig auf den Fersen gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte der Junge allein über die Insel wandern können.

Natürlich beobachteten die Inselbewohner Yasha, denn der Riese hatte ihnen befohlen, gut auf seinen Sohn aufzupassen. Aber es stellte sich schnell heraus, dass Yasha nicht ernsthaft bewacht wurde. Dafür hatten die fleißigen Leute gar keine Zeit. Sie fuhren jeden Tag zum Fischen aufs Meer und wenn sie an Land waren, flickten sie ihre Netze und besserten die Boote aus. Yasha half ihnen gerne bei der Arbeit, aber oft verdrückte er sich heimlich, um nach Alumentai zu suchen. Zwischen den zerklüfteten Felsen gab es viele Verstecke. Yasha entwickelte sich zu einem Spezialisten, wenn es darum ging, die vielen kleinen Felshöhlen zu erforschen, die Wind und Meer in die Felsen gewaschen hatten. Doch nirgends fand er eine Spur von der alten Frau.

Auf seinen Streifzügen entdeckte Yasha in der Nähe des Dorfes eine kleine Bucht, die ihn magisch anzog. Die Küste war dort sehr rau. Der Wind peitschte das Meer in riesigen Wellen gegen die Klippen, so dass das Wasser zwischen den Felsen schäumte und brodelte. Die Dorfbewohner mieden diesen Platz, denn sie glaubten, dass es dort spukte. Außerdem hatte der Riese Yasha streng verboten, sich hier herumzutreiben.

Vom Dorf aus konnte man die Geisterbucht gut überblicken. Darum wurde Yasha fast jedes Mal gesehen, wenn er sich dort aufhielt. Und es folgten, so sicher wie das Amen in der Kirche, die Ermahnungen und Verbote, sobald Yasha wieder oben im Dorf erschien. Und als ob das noch nicht genug wäre, erzählten ihm die Fischer schaurige Geschichten von gestrandeten Schiffen und Geistern, die in dieser Bucht ihr Unwesen trieben. Aber Yasha fürchtete sich nicht.

Er saß oft stundenlang in der Geisterbucht, planschte mit den Füßen im Wasser herum, sah auf das Meer hinaus und hing seinen Gedanken nach. Manchmal stöberte Yasha in den Felsspalten Krebse und Muscheln auf. Die brachte er den Dorfbewohnern mit. Zusammen mit geröstetem Seetang kochten sie daraus ein leckeres Essen. Bald hatte niemand mehr etwas dagegen, dass Yasha die Geisterbucht aufsuchte. »Der Salvi-Co-Ilu weiß, wie man mit Geistern umgeht!«, hörte der Junge die Fischer leise flüstern.

Eines Abends, Yasha hatte lange auf seinem Lieblingsfelsen in der Geisterbucht gesessen, bemerkte er, dass sein Talisman sehr warm wurde. Überrascht schaute er sich um. Das Meer war spiegelglatt und zuerst konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken. Oder doch? Ganz weit hinten am Horizont bildete sich ein zarter Nebelschleier. Langsam wehte er auf Yasha zu. Der Junge rieb sich überrascht die Augen. Das konnte nicht sein! Der Nebel formte sich zu einem Schiff, das mit Wellen kämpfte. Yasha begriff, dass ihm der Talisman etwas zeigen wollte. Wie gebannt starrte er auf die Bilder, die sich nun schneller und schneller aus dem Nebel formten. Eine große Figur rollte vom Deck des Schiffes ins Wasser. Dann wurde das Schiff an eine Klippe geworfen. Yasha hörte die Hilferufe der Matrosen, das Ächzen des Schiffes und das laute Tosen des Sturmes. Eine riesige Welle spülte etwas an Land, dass wie eine große Figur aussah. Kurz darauf erreichten eine Frau und ein Junge das rettende Ufer.

Yasha stockte der Atem,

als er den kleinen

Wasserträger aus der Diamantmine von Rondônia erkannte. Und ihm fiel ein, was Monsieur Pilori von Steju erzählte. Yasha hatte den kleinen Wasserträger, Steju, nicht erkannt, weil er im Zirkus Pilori immer eine silberne Maske trug. Und Steju erkannte Yasha nicht, weil er durch den Unfall sein Gedächtnis verloren hatte.

Yasha blieb keine Zeit, um über die unglücklichen Zufälle der Vergangenheit nachzudenken, denn schon formte der Nebel ein neues Bild. Das Fischerdorf! Yasha sah eine kleine Hütte, vor der eine alte Frau und Steju standen. Leider verschwand das Bild so schnell, wie es gekommen war. »Bitte, Talisman! Zeige mir, was danach passiert ist!«, bettelte Yasha. Doch der Talisman hüllte sich in Schweigen. Die alte Frau war ganz bestimmt die geheimnisvolle Alumentai. Verwirrt eilte Yasha zurück ins Dorf, denn es wurde bereits dunkel und nun war ihm in der Geisterbucht doch ein wenig unheimlich geworden.

Als der Vollmond dick und rund am Himmel erschien, legte das Boot des Riesen am nördlichen Strand an. Ja, das musste man dem riesigen Piraten lassen, er war immer ausgesprochen pünktlich. Schnell machte die Nachricht von der Rückkehr des Riesen die Runde. Die Inselbewohner jubelten vor Freude und versammelten sich am Strand. Ihr Anführer hatte reiche Beute gemacht. Unter dem Kommando des Riesen wurde die Beute auf den Dorfplatz geschleppt. Yasha sah mit Schaudern die vielen wertvollen Dinge, die der Riese gestohlen hatte. Sicher war er dabei nicht zimperlich zu Werke gegangen. Doch dem Jungen blieb nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, welche Dramen sich auf der Kaperfahrt abgespielt haben mochten. Denn in diesem Moment entdeckte ihn der Riese.

Erfreut stürzte er sich auf Yasha und umarmte ihn beglückt. Dabei wurde der Junge klitschenass, denn Riesen weinen nun mal Riesentränen – vor Freude. »Salvi-Co-Ilu, mein Sohn«, schluchzte er bewegt, »ich habe etwas Wunderschönes für dich. Ich habe eine Frau gefunden. Sie heißt Marisa und sie ist schöner als alle Sterne des Himmels zusammen! Sie wird in einem Monat auf unsere Insel kommen. Und dann, mein Sohn, feiern wir deine Hochzeit!«

Yasha war völlig

verdattert.

Noch ein Problem! Das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Heiraten! Ein Mädchen? Der Riese merkte gar nicht, dass seine schöne Überraschung bei Yasha keine Begeisterung auslöste, denn er hatte sich schon wieder umgedreht und raste, grinsend vor Freude, den Weg zwischen den schwer beladenen Leuten hin und her und kommandierte sie herum. Dies hierhin, das dahin, jenes dort aufstapeln. Nein, die schönen Speere sollten dort liegenbleiben, wo sie waren …

Als alles fertig verteilt war, sprang der riesige Pirat auf einen großen Stein mitten auf dem Dorfplatz. Mit weit ausholenden Gesten erzählte er seinem begeisterten Publikum von seinen Abenteuern. Yasha musste zugeben, dass die Geschichten, wenn er die Wahrheit sagte, wirklich unglaublich waren!

Als der Riese endlich fertig erzählt hatte, war er ganz heiser vom vielen Reden. Mit rauer Stimme krächzte er: »Und jetzt wollen wir feiern! Rum! Musik! Los! Hahaha!«

Und wie sie alle feierten! Der Rum floss in großen Mengen. Die Menschen sangen, tanzten und waren sehr fröhlich. Nur Yasha konnte sich nicht freuen. Er dachte an seine Eltern und die erfolglose Suche nach Alumentai. Nun würde alles noch viel schwieriger werden, denn der Riese würde ihm wieder ständig an den Fersen kleben. Da kam ihm plötzlich eine Idee.

Yasha griff

nach seinem Talisman

und sagte: »Jetzt! Zeige allen die Nebelgeschichte, so wie du sie mir in der Geisterbucht gezeigt hast!« Dann schrie er, so laut er konnte: »Oh, schaut! Schaut dort in der Geisterbucht! Wie schrecklich!« Unten in der Bucht erschien der zarte Nebelschleier und dann formte sich aus dem Nebel ein unheimlicher Sturm, dann ein riesiges Schiff, das direkt auf die Klippen zu segelte …

Auf dem Dorfplatz war es totenstill geworden. Entsetzt starrten alle auf das dramatische Schauspiel. »Riese! Dorfbewohner!«, schrie Yasha laut. »Was ihr in der Bucht seht, ist die Vergangenheit! Schaut dort, meine Eltern und Steju! Sie brauchen mich und ich brauche Alumentai, um ihnen zu helfen. Bitte, holt Alumentai her!« Der Junge nahm die Hand des Riesen und sah ihm bittend in die Augen. »Wenn du mich wirklich als deinen Sohn liebst, darfst du mich nicht daran hindern, meine Eltern zu finden! Glaube mir! Wen man liebt, muss man auch loslassen, sonst zerstört man die Liebe.«

Unglücklich sackte der Riese in sich zusammen. Wie ein Häufchen Elend hockte er nun auf dem Stein, mitten auf dem Dorfplatz. Ihm war klar geworden, dass er Yasha nicht von seiner Suche abhalten konnte. Ja, er war blind vor Eigennutz. Fast hätte er Salvi-Co-Ilus Zuneigung verloren, und das wäre sehr schlimm für ihn gewesen. Sich das einzugestehen, war für den Riesen eine bittere Pille. Plötzlich kam ihm ein tröstlicher Gedanke: Salvi-Co-Ilu würde immer der Sohn seines Herzens bleiben. Und weil Yasha so klug gehandelt hatte, war der Riese auch mächtig stolz auf ihn. Er richtete sich auf und befahl seinen Leuten, die alte Frau zu holen. Bebend vor Angst schleppte sich Alumentai zu Yasha. Sie klammerte sich an ihn und berührte dabei den Talisman. Er wurde glühend heiß.

Und Yasha wusste,

dass er nun alles erfahren würde. »Es, es war vor zwei Jahren«, stotterte Alumentai, »als die Staccota-Schwärme kamen. Alle waren auf See. Ich musste allein im Dorf bleiben. Seit ich auf eine giftige Koralle getreten bin, kann ich kaum noch laufen. Da segelte ein Schiff von Osten her auf die gefährliche Geisterbucht zu. Das war schlimm, aber ich konnte sie nicht warnen.« Dann beschrieb die alte Frau, wie das Schiff an den Klippen zerschellte und sank. Vom Dorf aus beobachtete sie, dass sich eine Frau und ein Junge in die Geisterbucht gerettet hatten. Alumentai schrie: »Kommt her, hier seid ihr in Sicherheit! Kommt hierher!« und zündete eine Fackel an, damit die Schiffbrüchigen sie sehen konnten. Aber die beiden Fremden reagierten nicht und die alte Frau konnte nicht zu ihnen in die Bucht hinunterklettern. Ihre kranken Beine hätten sie nie bis dorthin getragen. Verzweifelt rief sie und schwenkte dabei ihre Fackel. Aber es half nichts. So schleppte sich die alte Frau traurig in ihre Hütte. Am nächsten Morgen waren die Schiffbrüchigen noch immer in der Bucht. Wieder rief Alumentai, aber die Frau und der Junge blieben unten am Strand und umklammerten einen seltsamen Felsen, der so aussah wie ein steinerner Mensch. Alumentai war verzweifelt. Die Inselbewohner würden erst in einer Woche vom Fischen zurückkommen und den Fremden helfen können.

Am selben Abend, es war bereits stockdunkel, hörte sie ein leises Klopfen. Mühsam erhob sich die alte Frau und schlurfte zur Tür. Vor ihr stand der Junge aus der Bucht. Er sah ganz verstört aus und bat schüchtern um etwas zu essen. Alumentai führte ihn in ihre Hütte. Dann deutete sie auf den wackligen Holztisch und schob dem Jungen den Teller mit der dampfenden Fischsuppe hin, die sie eigentlich zum Abendbrot hatte essen wollen. Während Alumentai ein Bündel mit Lebensmitteln zusammenschnürte, erzählte ihr der Junge, warum die fremde Frau nicht ins Dorf kommen wollte. Sie wollte bei ihrem Mann bleiben. »Aber da ist doch kein Mann in der Bucht, da ist doch nur ein hoher Stein?«, unterbrach ihn Alumentai. »Ja, genau, das ist ja das Schlimme!«, antwortete der Knirps einsilbig, während er hungrig die heiße Suppe schlürfte. Die alte Alumentai schüttelte verwundert ihren ergrauten Kopf. Das mit dem Steinmann verstand sie nicht. Als der Junge seine Suppe fertig gegessen hatte, reichte ihm die alte Frau das Bündel. Darin waren Brot, getrockneter Fisch, eine Flasche Wasser und zwei warme Decken.

Am nächsten Tag ankerte ein Schiff aus Brasilien auf der anderen Seite der Insel. Alumentai beobachtete, wie der fremde Junge eilig zwischen der Geisterbucht und dem Nordstrand hin- und herflitzte. Dann kam der Junge hoch ins Dorf, um sich von Alumentai zu verabschieden. Er erzählte ihr, dass er nach Europa fahren müsse. Sein Ziel war die Stadt Budapest in Ungarn. Hier sollte er nach einem Jungen namens Yasha suchen. Dieser Yasha hätte einen Talisman, dessen magische Kräfte den Mann in der Bucht wieder in einen Menschen zurückverwandeln könnten. Zuletzt bat der Junge Alumentai, für die unglückliche Frau in der Bucht zu sorgen. »Sie heißt Clara«, rief er noch, während er davonlief. Dann bestieg er das Schiff und fuhr fort.

Von nun an kam die fremde Frau jeden Abend hoch ins Dorf. Sie aß und schlief in der Hütte bei Alumentai. Da keine die Sprache der anderen sprach, verständigten sich die beiden Frauen mit Gesten und Blicken. Das reichte für die alltäglichen Dinge wie essen, trinken und schlafen aus. Aber Alumentai bedauerte sehr, dass sie sich mit ihrem Gast nicht über den geheimnisvollen Steinmann unterhalten konnte.

Jeden Morgen stieg

Clara Dvorach

den steinigen Pfad in die Bucht hinunter und blieb bis zum späten Abend bei ihrem Mann aus Stein. Eines Tages erschien sie früher als sonst in der kleinen Hütte und weinte ganz furchtbar. Alumentai wollte sie trösten, doch Clara zog die alte Frau zur Tür und deutete aufgeregt auf die leere Bucht. Der Steinmann war verschwunden! Einfach fort! Seine Frau war so unglücklich, dass Alumentai befürchtete, sie würde wahnsinnig werden. Als einige Tage später wieder ein Schiff vor Cabeluda ankerte, schien Clara einen Entschluss gefasst zu haben. Tränen strömten über ihr Gesicht, aber sie versuchte tapfer zu lächeln, als sie der Alumentai einen glitzernden Spiegelstein reichte. Mit dem Finger deutete sie auf die winzigen eingeritzten Buchstaben. Dann umarmte sie die alte Frau und lief zum Schiff.

»Hier, Salvi-Co-Ilu, vielleicht kannst du es entziffern!«, sagte Alumentai und reichte Yasha den Spiegelstein. Der Junge erkannte sofort, dass es ein Stück von dem Diamanten war, den er Steju in Brasilien gegeben hatte. Laut las er die Zeilen vor, die auf Ungarisch in den Stein eingeritzt waren: »Mein geliebter Yasha, die Liaweps haben deinen Vater geraubt‚ weil sie glauben, dass er ihr Gott ist. Sei ganz vorsichtig! Sie trinken aus Menschenschädeln! Ich reise nach Budapest und hoffe, dich dort zu finden. In Liebe! Deine Mutter!«

Erschüttert bat Yasha die alte Alumentai weiterzureden. »Nun ja! Als du hierher kamst – du, Salvi-Co-Ilu, der Held, der den Riesen gerettet hatte, ließ der Riese mich in ein Versteck auf der anderen Seite der Insel bringen. Dort hielten sie mich in einer tiefen Höhle in den Klippen gefangen, die man nur mit einem Boot erreichen konnte. Du solltest mich nie finden, damit ich dir nichts von dieser Geschichte erzähle. Als meine Wächter nicht aufpassten, konnte ich fliehen und kam ins Dorf, denn ich wollte dir den Spiegelstein geben. Was dann geschah, weißt du: Der Riese ließ mich sofort wieder in die Höhle bringen.«

Dankbar

umarmte Yasha die alte Frau.

»Danke! Danke, Alumentai«, sagte er, »jetzt endlich kann ich meinem Vater helfen!«

Der Riese entschuldigte sich beschämt bei Alumentai. Er versprach, alles wieder gut zu machen, was Alumentai durch ihn erlitten hatte. Ein beifälliges Raunen ging durch die Menge der Inselbewohner. Die Feier, die so laut und fröhlich begann, fand einen sehr ruhigen Ausklang. Die Bewohner von Cabeluda standen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich leise. Alle waren zufrieden und auch ein bisschen nachdenklich. Der glücklichste Mensch an diesem Abend war Alumentai. Die alte Frau strahlte über ihr ganzes runzeliges Gesicht, und das nicht nur, weil sie jetzt frei war. Yasha hatte ihre lahmen Beine mit dem Talisman berührt und nun konnte sie wieder ohne Schmerzen laufen.

Die Feier neigte sich ihrem Ende zu. Yasha hatte sich schon von allen verabschiedet. Nun stand ihm der schwerste Teil bevor: dem Riesen Adieu zu sagen. Aber der war wie vom Erdboden verschwunden. Der Riesenpirat hatte das Fest still und leise verlassen. Und obwohl es Yasha unendlich schwerfiel, brachte er es nicht übers Herz, sich vor dem Abschied zu drücken. Also machte er sich auf die Suche nach ihm.

Der Riese hockte auf Yashas Lieblingsstein in der Geisterbucht. Yasha ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder. Eine Weile saßen sie schweigend da und lauschten dem leisen Plätschern der Wellen. »Hier, nimm!«, fing Yasha ein wenig unsicher das Gespräch an und drückte dem Riesen den Diamant in die Hand. »Schneide ihn in Stücke! Mit jedem Splitter kannst du deine Leute verwöhnen, wenn die Schiffe aus Brasilien kommen. Erkundungsreisen brauchst du dann nicht mehr zu machen.« Da musste der Riese lachen. Sein Salvi-Co-Ilu war schon ein toller Junge! Eine Weile saßen die zwei noch am Ufer und unterhielten sich leise. Dann brummte der Riese: »Nun hau schon ab und pass gut auf dich auf!«

Die beiden warfen sich einen letzten Blick zu. Yasha ging ein paar Schritte und sagte: »Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche zu den Liaweps zu gelangen, wo immer das sein mag.« Ein leichter, samtweicher Wind erhob Yasha und trug ihn wie eine Feder – weit, weit weg über den Ozean zu den Liaweps.

Der Talisman
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