Kapitel 16
»Cate?«, Paul kommt aus seinem Büro und sieht vollkommen verblüfft aus, mich in dem kleinen, eleganten Vorzimmer von Jones & Sons vorzufinden.
»Hallo.« Ich lächle ihn schüchtern an. »Hast du kurz Zeit?«
Seine grünen Augen leuchten auf, und ich verachte mich selbst ein bisschen hierfür.
Es ist für die Schwesternschaft, rufe ich mir ins Gedächtnis. Für die unschuldigen Mädchen, die in Harwood eingesperrt sind.
»Für dich habe ich immer Zeit«, sagt er und führt mich über den mit Teppich ausgelegten Flur zu einem kleinen Zimmer, in dessen Mitte ein großer Mahagonitisch steht, auf dem hohe Stapel sich an den Seiten wellender Zeichnungen aufgetürmt sind. Paul hängt meinen Umhang an einen schmiedeeisernen Kleiderständer in der Ecke, dann setzt er sich hinter den Tisch auf einen braunen Ledersessel. Ich nehme ihm gegenüber Platz und genieße das Gefühl der seidenweichen Armlehnen unter meinen Händen. Der Anblick von Paul erinnert mich an zu Hause, daran, wie ich mit ihm Verstecken gespielt habe, als wir noch klein waren. Er gibt mir ein wohliges Gefühl.
»Stimmt etwas nicht?«, fragt Paul. Er sieht furchtbar geschäftstüchtig aus mit seinem grauen Jackett, der grauen Weste und der grünen Krawatte. Ich nehme an, er weiß, dass sie zu seinen Augen passt. Paul hat schon immer viel auf sein Äußeres gehalten.
»Nein. Ähm … doch. Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sage ich leise.
»Ja.« Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und sieht mich abwartend an. Er hat den Körper eines Sportlers – groß, mit breiten Schultern und einem kantigen Kinn –, doch die feinen, genauen Zeichnungen auf seinem Schreibtisch rufen mir ins Gedächtnis, dass er mehr ist als nur das. Er ist ein ehrgeiziger Mann, der sich eine vielversprechende Stelle in einem aussichtsreichen Beruf gesichert hat, noch dazu in einer sich im Aufschwung befindenden Stadt; ein Mann, der die schönen Dinge des Lebens zu schätzen weiß, wie seine neue Kutsche und seine teure Kleidung zeigen.
Paul wird einmal einen guten Ehemann abgeben. Für eine Frau, die ihn so liebt, wie er es verdient.
»Ich bereue meine Entscheidung nicht«, sage ich. Ich will wenigstens, was das angeht, ehrlich zu ihm sein. »Aber es ist alles ziemlich plötzlich passiert, und es tut mir leid, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, es dir persönlich zu sagen … dir zuerst eine Antwort zu geben. Deine Freundschaft … bedeutet mir sehr viel, und du hast es nicht verdient, so behandelt zu werden.«
Ich gerate etwas ins Stocken, als ich es sehe – an der Wand neben der Tür hängen mehrere gerahmte Zeichnungen von einem großen Gebäude. Sind das die Pläne für Harwood? Es würde mich nicht überraschen, wenn Paul sein erstes wichtiges Projekt auf diese Weise präsentieren würde.
Paul reibt sich nachdenklich über das glatt rasierte Kinn; eine Angewohnheit aus der Zeit, als er noch einen Bart trug. »Was willst du hier, Cate? Ich meine in New London? Als ich um deine Hand anhielt, gefiel dir der Gedanke, in der Stadt zu leben, überhaupt nicht, und du warst auch nie besonders religiös.«
»Ich fühlte mich berufen?« Es klingt eher wie eine Frage als nach tiefer Überzeugung.
»Berufen vom Herrn?« Paul hebt die Augenbrauen. »Ich kann es verstehen, dass deine Schwestern ihre Ausbildung fortsetzen wollen, und angesichts der neuen Gesetze ist es der einzige Weg. Aber du warst noch nie besonders wissbegierig.«
Paul hat mich eben schon immer sehr gut gekannt; es ist schwierig, ihn anzulügen. Wie kann ich mich ihm glaubhaft erklären, ohne die Prophezeiung oder meine Verpflichtung der Schwesternschaft gegenüber zu erwähnen? Ich hätte mir das vorher gründlicher überlegen sollen. Natürlich will er eine plausible Erklärung, genau wie Finn eine wollte. Der Unterschied ist nur, dass Finn weiß, dass ich eine Hexe bin, und Paul eben nicht.
»Ich will Krankenschwester werden«, sage ich und zeige auf die Zeichnungen an der Wand. »Ich war mit Schwester Sophia in Harwood. Wir pflegen die Patientinnen und beten mit ihnen.«
»Du, eine Krankenschwester?« Paul verschluckt sich beinah vor Lachen. »Du würdest doch einem Mann mit gebrochenem Bein sagen, er solle aufhören zu jammern und wieder verschwinden. Du hast Krankenzimmer schon immer gehasst.«
»Ich habe das Krankenzimmer meiner Mutter gehasst«, korrigiere ich ihn. Ich merke, wie ich wütend auf ihn werde und versuche, es zu unterdrücken. Er kann ja nicht wissen, was für eine außerordentlich gute Krankenschwester ich durch meine Gabe in Heilmagie geworden bin. »Aber ich habe viel Zeit in Harwood verbracht. Ich kann auf diese Weise Gutes tun.«
Paul beugt sich vor und stützt die Ellbogen auf den Tisch, wodurch ein paar der Zeichnungen zerknittern. »Hör zu, geht es um Belastra? Weil er der Bruderschaft beigetreten ist? Es kann doch kein Zufall sein, dass du tags darauf deine Absicht bekundet hast. Ich weiß, dass du Gefühle für ihn hattest, aber du kannst doch nicht …«
»Er hatte nichts damit zu tun«, lüge ich. Mein Blick fällt auf den schrägen Zeichentisch vor dem Fenster und den hohen Stuhl davor.
»Du hättest auch andere Möglichkeiten gehabt«, erklärt Paul.
»Nein.« Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, worauf er hinauswill. Ich muss ihm zuvorkommen, bevor er uns beide in Verlegenheit bringt und mich Dinge sagen lässt, die ihn bloß verletzen. »Hatte ich nicht.«
»Doch.« Mit zusammengebissenen Zähnen streicht er die zerknitterten Unterlagen glatt. »Als du in der Kirche auf die Kanzel gestiegen bist, dachte ich, du würdest deine Verlobung mit Belastra bekannt geben. Ich war schon darauf vorbereitet. Aber das hier hätte ich niemals erwartet. Du hättest wenigstens den Anstand haben können, mir zu sagen, dass ich niemals für dich in Frage komme.«
Das habe ich wohl verdient.
Ich lasse den Kopf sinken und richte die Augen statt auf ihn auf den edlen roten Teppich. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Ich hatte niemandem von meiner Entscheidung erzählt – noch nicht einmal Maura oder Tess.«
»Maura war verzweifelt.« Er bedenkt mich mit einem missbilligenden Blick. »Als sie in der Woche darauf nicht zum Gottesdienst kam, habe ich ihr einen Besuch abgestattet. Tess sagte, es ginge ihr gut, sie sei nur furchtbar aufgebracht. Aber ich glaube, ich weiß ganz genau, wie sie sich gefühlt hat, als sie dergestalt zurückgelassen wurde.«
Und sie hat es weidlich ausgenutzt, nicht wahr?
Himmel, was bin ich nur für eine Scheinheilige. Wie kann ich sie dafür verurteilen und im selben Atemzug versuchen, ihn hinters Licht zu führen?
»Könnte ich …?« Ich räuspere mich und fröstle ein wenig, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. »Könnte ich vielleicht eine Tasse Tee bekommen? Es ist eiskalt draußen.«
»Selbstverständlich.« Paul zwingt sich zu einem Lächeln und zieht seine langen Beine unter dem Tisch hervor. »Wo sind meine Manieren geblieben? Entschuldige mich bitte.«
Kaum ist er aus dem Zimmer, springe ich vom Stuhl auf, um die Zeichnungen an der Wand zu betrachten. Es ist Harwood; das Äußere ist sogar im Querschnitt zu erkennen, mit den überdachten Gängen, die den Neubau im Erdgeschoss und im ersten Stock mit dem Altbau verbinden. Ich gehe zu den Zeichnungen mit der Innenansicht über und fahre mit den Fingern die einzelnen Türen ab. Ob es sich dabei vielleicht teilweise um unbewachte Ausgänge handelt? Wenn es nur darum geht, ein paar Schlösser zu knacken, sollte es ziemlich einfach sein; mit Magie werden wir hier schneller vorankommen als mit Schlüsseln.
»Cate?« Ich zucke zusammen. Ich war so in die Baupläne vertieft, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie Paul wieder hereingekommen ist. »Ich habe unseren Schreiber gebeten, das Wasser aufzusetzen. Du hast die Harwood-Pläne gefunden. Beeindruckend, oder?« Er grinst.
»Sehr.« Ich tippe mit dem Zeigefinger auf das Krankenzimmer. »Ich war hier, in diesem Flügel, auf Heilmission. Ich habe gesehen, unter welchen Bedingungen die Mädchen dort leben. Es ist entsetzlich. Alles ist so eng und schmutzig. Das ganze Gebäude wirkt, als könnte es jeden Moment in sich zusammenfallen.«
»Nun, das bestehende Gebäude wurde kurz nach der Machtübernahme durch die Brüder errichtet. Der Anbau wird moderner und angenehmer sein. Es wird natürlich Sicherheitsmaßnahmen geben, wie Gitter an den Fenstern und Türen, die von außen schließen, solche Dinge. Aber es wird viele Fenster geben und einen schönen Hof, in dem die Patientinnen Gesundheitsspaziergänge machen können. Siehst du?« Er zeigt auf die Fläche zwischen dem alten und dem neuen Gebäude. »Und es wird auf jeder Etage ein Wohnzimmer geben, wo die Frauen abends zusammenkommen können, um Schach zu spielen oder zu stricken.«
Als ob sie jemals Stricknadeln in die Hände bekämen! Als ob die Mädchen nicht viel zu sehr unter Medikamenteneinfluss ständen, um Schach spielen zu können! Überrascht von seiner vorsätzlichen Naivität sehe ich ihn an. Er muss doch wissen, wie es tatsächlich ist. Und es trotzdem zu ignorieren – ich hatte ihn wirklich für einen besseren Menschen gehalten.
Ich sollte ihm schmeicheln. Ihm Fragen stellen. Ich sollte versuchen, so viele Informationen wie möglich zu erhalten, denn wer weiß, was sich später alles noch als nützlich erweisen könnte? Aber während mein Blick über Räume mit Beschriftungen wie Büro der Aufseherin (im Erdgeschoss gegenüber dem Flügel mit dem Krankenzimmer) und Einzelunterbringung – höchste Sicherheitsstufe (im oberen Stockwerk gegenüber dem Trakt mit den Aufsässigen) schweift, verfinstert sich mein Blick immer mehr.
»Ich halte es für falsch, wie sie behandelt werden«, platze ich heraus.
Paul sieht mich fragend an. »Es sind Hexen, Cate. Es könnte ihnen schlimmer ergehen.«
Oh. So fromm Pauls Mutter auch ist, Paul hat mir gegenüber nie davon gesprochen, eventuell der Bruderschaft beitreten zu wollen. Er hat nie etwas dagegen gesagt, wenn ich im Kleinen auf Dutzende Arten gegen die Regeln der Bruderschaft verstoßen habe. Ich nehme an, er wusste nie, dass ich es auch in größerem Maße getan habe. Trotzdem hatte ich irgendwie gehofft, dass er mich als das akzeptieren würde, was ich bin, falls er je die Wahrheit über mich herausfinden sollte.
Doch das jetzt gibt mir zu denken. Ich weiß nicht, ob ich mich bei ihm noch sicher fühlen kann.
»Es ist der erste große Auftrag für Jones. Wie würde ich denn dastehen, wenn ich mich weigerte, an einem Projekt für die Bruderschaft zu arbeiten? Und ehrlich gesagt, würde ich mich auch nicht weigern wollen. Das hier ist gut fürs Geschäft, und wenn ich eines Tages Partner von Jones werden will – er hat nämlich keine Söhne, die seine Firma übernehmen könnten, nur einen Neffen, den er nicht besonders mag …«
Das ist nicht mehr der gleiche Junge, mit dem ich in den Heidelbeerfeldern Fangen oder am Teich Piraten gespielt habe. Aber vielleicht bin ich auch nicht mehr die Cate, an die er sich erinnert.
Ich lächle ihn an und versuche den schüchternen Blick, den Maura ihm durch ihre dichten Wimpern zugeworfen hat, nachzuahmen. Doch meine Wimpern sind dünn und blond, und ich komme mir dumm dabei vor. »Du hast natürlich recht. Verzeih. Wahrscheinlich tun mir die Mädchen einfach nur leid, weil ich so viel mit ihnen zusammen bin.«
»Du solltest etwas vorsichtiger sein mit dem, was du sagst. Wenn du jemand anders gegenüber solche Dinge äußern würdest, könntest du dadurch in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.« Paul legt mir eine Hand auf die Schulter. Er riecht nach Bleistift und Schiefer. »Was würden die Schwestern dazu sagen?«
»Sie predigen Mitleid mit denen, die mit weniger Glück gesegnet sind. Aber du hast recht, wir dürfen nicht vergessen, warum die Mädchen überhaupt dort sind.« Weil die Brüder gnadenlos sind. Ich wende mich wieder den Zeichnungen zu. »Wird der Krankensaal in den Neubau verlegt werden?«
»Nein, die Küchen und der Krankensaal bleiben im alten Gebäude, siehst du?« Paul zieht mit seinem gebräunten Zeigefinger eine Linie durch das Erdgeschoss.
»Was ist das für ein kleiner Raum?«, frage ich, als sein Finger über ein leeres Feld neben der Küche fährt.
»Nur ein Vorratsraum.« Er zuckt mit den Schultern. »Da werden die Medikamente und das Laudanum für die Mädchen aufbewahrt. Die Vorsteherin sagte, sie hätte Probleme mit Krankenschwestern gehabt, die das Zeug für sich selbst herausgeschmuggelt haben, deswegen bewahrt sie es jetzt verschlossen auf. Gegenüber wird der überdachte Übergang zum Erdgeschoss des Anbaus sein, wo die neue Waschküche hinkommt, und …«
Er redet immer weiter, doch ich höre gar nicht mehr zu. Ich war davon ausgegangen, das Laudanum würde in der Küche aufbewahrt, wo sich jede Menge Köchinnen aufhalten, was es uns unmöglich gemacht hätte, dort hineinzuschleichen.
Doch das hier ändert alles.
Meine Gedanken schwirren und klirren, und ich bin einigermaßen erstaunt, dass mir kein Rauch aus den Ohren quillt, während ich am Planen bin. Ich will sofort in den Schnee hinauslaufen; ich muss mit Schwester Sophia reden. Aber ich bleibe weitere zwanzig Minuten, bewundere die Zeichnungen des großartigen neuen Hauses, dessen Verantwortung ihm Jones übertragen hat, trinke meinen Tee in dem großen Ledersessel sitzend und höre Paul zu, wie er sich über sein Harwood-Projekt auslässt. Ich versuche, mein Entsetzen darüber zu verbergen, dass die Brüder überhaupt eine Erweiterung bauen lassen. Wie viele Mädchen planen sie denn noch wegzusperren?
Die Leben dieser Mädchen sind wichtiger als der Erfolg von Jones’ Firma, und die Tatsache, dass Paul das nicht sehen kann oder nicht sehen will, hat alles zwischen uns geändert. Er ist zwar immer noch der Gleiche, der mich vor einem Monat geküsst hat – er hat immer noch dieselben blonden Haare, dieselben breiten Schultern und dasselbe breite Grinsen –, aber ich kann ihn nicht mehr mit denselben Augen sehen.
Ich habe mich zum Teil auch deshalb in Finn verliebt, weil er den Brüdern kritisch gegenüberstand, weil er ihre Lehren schon infrage gestellt hat, bevor er überhaupt wusste, dass ich eine Hexe bin. Vielleicht ist es nicht gerecht, die beiden miteinander zu vergleichen, da Finn einen Blaustrumpf zur Mutter hat, während Pauls Mutter sehr fromm ist. Aber ich vergleiche sie nun mal, und ich weiß sicher, dass ich niemals einen Mann hätte heiraten könnte, der an Harwood nichts Verkehrtes sieht.
Ich habe gar kein so schlechtes Gewissen wegen der Gedankenmagie, wie ich gedacht hätte.
Paul jammert gerade über den Termindruck beim Bau, als ich ihn scharf ansehe und ihn vergessen lasse, dass wir jemals über Harwood gesprochen und uns die Baupläne zusammen angesehen haben. Er zögert, mitten im Satz, und sein Tee schwappt ein bisschen über, als er die Tasse auf der blauen Untertasse absetzt.
»Ich sollte jetzt gehen. Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast«, sage ich und erhebe mich aus meinem Sessel.
Er springt auf, um mir in den Umhang zu helfen. Seine Augen haben etwas von ihrem Glanz verloren; sein Mienenspiel besitzt nicht mehr die gleiche Lebendigkeit wie noch eine Minute zuvor. »Danke für deinen Besuch.«
Erinnert er sich noch an meine Entschuldigung?
»Bis bald.« Ich kann ihm nicht mehr in die Augen sehen.
»Bis bald, Cate«, sagt Paul, und der Klang seiner Stimme, die Hoffnungslosigkeit und Trauer, die darin mitschwingen, lässt mich annehmen, dass er sich zumindest daran noch erinnert.
Als ich wieder im Kloster ankomme, eile ich sofort zu Schwester Sophia. Sie hat gerade den Anatomieunterricht beendet, den ich für meinen Besuch bei Paul habe ausfallen lassen. Mei ist als einzige Schülerin noch im Raum und rollt ein paar Zeichnungen der menschlichen Muskulatur und der innenliegenden Organe zusammen.
»Da bist du ja, Cate. Wo warst du denn heute Morgen?«, fragt Sophia, während sie Bones, das Skelett, zurück in den Schrank schiebt.
»Ich war in der Stadt, um meinen Freund Paul zu besuchen, der an der Erweiterung von Harwood arbeitet. Und ich habe etwas Interessantes herausgefunden.« Ich berichte Sophia von Inez’ Vorhaben.
»Warum bist du damit denn nicht gleich zu mir gekommen?«, fragt sie mit geschürzten roten Lippen.
»Ich hatte wohl ein schlechtes Gewissen. Ich hätte schon viel früher erkennen sollen, worauf sie hinauswill«, gestehe ich.
»Das ist nicht deine Schuld.« Sophia stützt die Hände in die Hüften. »Sie weiß leider die Schwächen der Leute für sich auszunutzen. Deswegen sind so viele der Lehrerinnen auf ihrer Seite. Die meisten sind ihr irgendetwas schuldig.«
»Und was ist mit Ihnen?«, frage ich. Wenn, dann will ich es lieber gleich wissen.
Sophia weicht meinem Blick aus. »Ich bin es nicht mehr.«
Mei und ich sehen uns verwirrt an. »Nun, jetzt, da Sie es wissen, hoffe ich, dass Sie uns helfen werden.« Ich erkläre ihr, was wir in Harwood vorhaben, und während ich rede, fällt mein Blick auf die kleine Vitrine an der Wand. Darin befinden sich zwei Dutzend durchsichtige Glasflaschen mit Sophias getrockneten Kräutern und Naturheilmitteln. Da muss doch etwas Passendes dabei sein. »Wissen Sie, wie gemahlenes Opium aussieht? Ich brauche Kräuter, die als welches durchgehen könnten.«
»Ich gehe davon aus, dass du eine ganz schöne Menge davon brauchst, wenn du vorhast, das Opium im Laudanum durch Kräuter zu ersetzen.« Schwester Sophia geht zum Fensterbrett, auf dem vier Töpfe mit Kräutern stehen, die das schwache Dezemberlicht in sich aufsaugen. Sie spielt nachdenklich mit einem Stängel und sieht hinaus auf den Garten und die beschlagenen Fenster des Gewächshauses. »Rosenblattpulver sollte gehen. Die Struktur ist zwar nicht die gleiche, und der Geruch würde alles verraten, aber du wirst ihm ja eh einen anderen Anschein verleihen.«
Ich sehe Mei an, und mir fallen die dunklen Schatten unter ihren braunen Augen auf, die müden Linien um ihren Mund. »Willst du heute Nachmittag immer noch nach Harwood mitkommen?«, frage ich, und sie nickt, als sie die gerollten Zeichnungen hinter Bones im Schrank verstaut. »Gut. Dann kannst du Schmiere stehen, während ich in den Vorratsraum einbreche.«
Mei lächelt traurig. »Ich helfe gerne. Wenn es anders gelaufen wäre, dann könnten Li und Hua jetzt dort sein.«
Schwester Sophia sieht mich überrascht an. »Du willst es heute tun? Die Patientinnen können vielleicht innerhalb von ein paar Tagen ihre magischen Kräfte wiedererlangen, aber sie werden in schlechter Verfassung sein. Die meisten sind vom Opium abhängig; ihre Körper komplett zu entwöhnen wird Wochen dauern. Und in der Zwischenzeit wird es ihnen ziemlich schlecht gehen. Mal ganz abgesehen von den seelischen Nebenwirkungen …«
»Wir haben aber nicht wochenlang Zeit«, unterbreche ich sie. »Wir müssen sie bis Mittwochabend befreit haben, oder es wird zu spät für sie sein.«
Sophia geht zur Tafel, nimmt ein Stück Kreide und schreibt in Großbuchstaben darauf: DER UNTERRICHT FÄLLT AUS. »Na dann, komm. Du auch, Mei. Ich habe noch ein extra Paar Handschuhe in der Küche.«
Nach dem Mittagessen ziehe ich Elena beiseite, um ihr den neuen Plan zu erläutern. Während wir miteinander flüstern und Elenas dunkler Haarschopf sich zu meinem blonden neigt, sehe ich, wie Maura in der Tür zum Esszimmer stehen bleibt und uns schockiert anstarrt. Sie wendet sich rasch ab, aber an der Art, wie sie die Schultern verkrampft, kann ich erkennen, dass sie bestürzt darüber ist, uns so nahe beieinander zu sehen. Es ist natürlich genau das, war ich vorausgesehen habe, aber trotzdem fühle ich mich schuldig. Ich beeile mich, Elena die nötigen Informationen zu geben, danke ihr dafür, dass sie sich von zwei Gouvernanten Hilfe hat zusichern lassen, und jage die Treppen hinauf, um mir die schwarze Tracht der Schwesternschaft anzuziehen.
Ein paar Minuten später sitzen Sophia, Addie, Mei und ich in der Kutsche und warten nur noch auf Pearl.
»Rückt zusammen. Ich komme mit«, erklärt Tess und steigt durch die offene Kutschentür. Sie schubst mich zur Seite, sodass ich Mei beinahe auf den Schoß falle. Mei bekommt es kaum mit, sie lässt traurig ihre Gebetsperlen durch die Finger gleiten, während sie leise ihr Mantra vor sich hin murmelt.
»Das tust du nicht!«, rufe ich und erhebe mich halb von meinem Platz.
»Beruhige dich, Cate«, sagt Sophia, und ich lasse mich wieder zurück auf den Ledersitz fallen. »Ich habe es ihr erlaubt. Wir sagen den Krankenschwestern, dass sie eine neue Schülerin ist, die sich für Heilkunst interessiert. Sie werden hocherfreut sein.«
Tess wirft sich die Zöpfe über die Schultern. »Sehe ich nicht entzückend aus?«
Ich mustere sie argwöhnisch. Wir sind alle in unsere grauenhaften Bombasinkleider gekleidet, aber Tess leuchtet regelrecht in ihrem schlichten, mädchenhaften Kleid mit rosafarbenen Röcken und cremeweißer Spitze an Hals und Ärmeln. Um die Taille trägt sie eine breite schwarze Schärpe. Sie sieht aus wie eine hübsche kleine Puppe, nicht wie eine mächtige junge Hexe. Es ist ebenso eine Verkleidung wie unser Schwarz der Schwesternschaft.
»Guck mich nicht so an«, sagt sie und kneift mich. »Ich kann genauso dickköpfig sein wie du. Ich will bloß Zara treffen; ich werde keinen Ärger machen. Und du hast gesagt, ich könne mitkommen.«
»Das war aber, bevor ich von unserer Extramission heute wusste«, zische ich und deute auf die Ledertasche neben mir, die mit einem Dutzend kleiner Flaschen mit zerstoßenen Rosenblättern und einem Kräuterstimulans gefüllt ist, das Schwester Sophia zusammengemischt hat und das gegen die Entzugserscheinungen der Mädchen wirken soll. »Du bist unmöglich.«
»Da solltest du dich vielleicht besser an die eigene Nase fassen«, scherzt Tess.
Mei seufzt. Ihre Finger bewegen sich immer noch über die Gebetsperlen. »Ihr erinnert mich an meine Schwestern.«
»Willst du wirklich mitkommen? Wir könnten es gut verstehen, wenn du lieber hierbleiben möchtest«, sagt Schwester Sophia sanft.
»Nein, ich kann mich ebenso gut nützlich machen. Sonst mache ich mir nur die ganze Zeit Sorgen.« Mei versucht ein klägliches Lächeln, und ich umarme sie fest. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, eine Freundin wie sie zu haben, die ihren eigenen Kummer beiseiteschiebt, um solch eine gefährliche Aufgabe zu übernehmen.
Doch während ich größtes Mitleid für sie empfinde, frage ich mich gleichzeitig, was die Unfehlbarkeit der Prophezeiungen für uns bedeutet.
»Ich bin nervös«, gesteht Tess, als wir zu Zaras Zimmer eilen. »Was ist, wenn sie mich nicht mag?«
»Alle mögen dich. Du bist schrecklich liebenswert.« Die Vorsteherin und die Krankenschwestern waren, sobald Tess aus der Kutsche stieg, begeistert von ihr und ließen es sich nicht nehmen, ihr zu sagen, was für ein selbstloses Mädchen sie doch sei, sich für eine so schwierige Arbeit zu interessieren. Und sie war wunderbar mit den Aufsässigen, sogar als wir ein uns bekanntes Mädchen unter ihnen entdeckten. Mina Coste schien uns nicht zu erkennen, obwohl sie ihr Leben lang mit uns im Gottesdienst gesessen hat. Ihre braunen Augen waren leblos, ihre rotblonden Haare verknotet. Und das alles nur, weil sie sich aus dem Haus geschlichen hat, um einen Jungen zu treffen?
Wie oft habe ich schon die gleiche Strafe riskiert, um Finn zu treffen? Und ich werde es heute Abend wieder tun. Ich hatte bisher einfach nur mehr Glück als Mina.
Ich hole tief Luft, um meine eigenen Nerven zu beruhigen, als wir Zaras Tür aufstoßen. Zara sitzt schief auf ihrem Schaukelstuhl, lässt den Lockenkopf hängen und sieht entweder auf den verschneiten Hügel hinaus oder döst vor sich hin. Ich weiß nicht, was uns erwartet. Ihre Erinnerung an lang Vergangenes scheint von dem Laudanum nicht beeinträchtigt zu sein, aber ob sie sich noch an unser Treffen der vergangenen Woche erinnert?
»Zara?«
Sie schreckt auf, der Blick ihrer braunen Augen ist verwirrt. »Wer ist da? Was wollen Sie?«
»Ich bin es, Cate«, sage ich leise. »Annas Cate. Und schau – ich habe Tess mitgebracht.«
»Hallo«, sagt Tess und lächelt scheu. »Ich freue mich sehr, dich endlich kennenzulernen.«
Zara erhebt sich und sieht mich vorwurfsvoll an. »Sie ist noch ein Kind. Wie kannst du sie an einen Ort wie diesen bringen? Anna wäre damit nicht einverstanden.«
»Ich habe sie nicht hierhergebracht. Sie hat ihren eigenen Kopf«, erkläre ich.
Doch die Kritik trifft mich. Würde Mutter es gutheißen, wie ich in letzter Zeit gehandelt habe?
»Ich habe darauf bestanden mitzukommen. Ich habe dein Buch gelesen«, sagt Tess. »Marianne hat es uns gegeben.«
»Mein Buch?« Zara lässt sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Ihre Kampfeslust ist erschöpft. »Sie hat es gerettet?«
»Ja. Es gibt ein paar Stellen, die wegen des Wasserschadens nicht mehr lesbar sind. Es hat geregnet, bevor sie es von dem Dach holen konnte, auf dem du es versteckt hattest.« Tess spielt mit der schwarzen Schleife an ihrer Taille. »Aber das meiste habe ich lesen können.«
»Ich dachte, es wäre verloren.« Zaras dunkle Augen stehen voll Tränen, als sie anfängt, mit dem Stuhl zu schaukeln. »Ich dachte, ich würde hier für nichts und wieder nichts für immer festsitzen.«
»Tust du nicht. Nicht für nichts und nicht für immer.« Ich setze mich auf die Kante des schmalen Bettes und stelle die Tasche auf dem Boden ab. Tess setzt sich neben mich. »Wir werden euch hier rausholen. Schon bald. Mittwochabend.«
Zara schüttelt den Kopf. Sie hat einen Teefleck auf dem Kragen ihrer weißen Bluse. »Nein. Das ist nicht möglich. Cora wird es niemals erlauben. Ich werde hier sterben.«
Ich runzle die Stirn. »Cora liegt im Sterben.«
Zaras knochige Hand fährt an ihre Lippen. »Cora?«, wiederholt sie und sieht mich durch einen Tränenschleier an.
»Cate«, schilt mich Tess und stößt mich mit der Schulter an. »Musstest du es so direkt sagen?«
»Ich habe schon Schlimmeres erlebt.« Zara schaukelt schneller. »Und du glaubst wirklich, dass du uns hier herausbekommst?«
»Ich muss es schaffen. Ihr wärt sonst eine leichte Beute für die Brüder.« Ich erkläre ihr, was Inez vorhat.
»Ich habe es doch gesagt!« Zara schlägt mit den flachen Händen auf die Armlehnen des Schaukelstuhls. »Ich habe doch schon immer gesagt, dass sie uns alle umbringen lässt, wenn es nur ihrem Zweck dient!«
»Ähm, ja.« Nervös blicke ich zur Tür. Ich hoffe nur, die Krankenschwester ist so in ihre Strickarbeit versunken, dass sie nicht nachsehen kommt, was es mit dem Lärm auf sich hat. »Leider hattest du recht damit. Ich dachte, du könntest uns vielleicht helfen und den anderen Patientinnen Bescheid sagen – besonders den anderen Hexen. Meinst du, das wäre möglich?«
»Ich kann es versuchen.« Zara starrt auf das Guckloch. »Wir wurden wegen des Schnees schon lange nicht mehr auf unsere Gesundheitsspaziergänge geschickt, aber vielleicht morgen. Oder ich mache es, wenn ich am Wasserklosett anstehe. Ich weiß allerdings nicht, welche von den Mädchen eine Hexe ist und wer nicht. Jedenfalls nicht sicher. Wir trauen uns hier nicht, über Magie zu sprechen.«
Ich hoffe nur, dass Finn die Aufzeichnungen über die Harwood-Insassinnen im Nationalarchiv gefunden hat.
»Das macht nichts«, sage ich. »Wir werden alle befreien, ob sie nun Hexen sind oder nicht. Sag ihnen aber nicht, dass es Mittwoch geschieht. Sag nur, dass wir die Feuerglocke läuten werden und dass es das Zeichen dafür ist, dass wir hier sind und sie sich bereit machen sollen.«
Mei hatte heute Morgen die Idee mit der Alarmglocke, als wir mit Mörser und Stößel die Rosenblätter zerkleinerten. Sie war einmal in Harwood, als eine neue Patientin gerade mit den Streichhölzern einer Krankenschwester ihr Bett angezündet hat.
»Ich werde es versuchen, aber die Hälfte von ihnen wird sich nicht daran erinnern. Das Laudanum spielt dem Gedächtnis merkwürdige Streiche.« Zara senkt die Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Ich bin hier schon lange genug, um mich an die Dosis gewöhnt zu haben. Ich tue beschränkter als ich bin, aber ich habe meinen Verstand immer noch beisammen. An manchen Tagen erfordert es eine verdammte Menge an Willensstärke, nicht um mehr zu betteln. Ich kann es den anderen wirklich nicht verübeln, dass sie es tun.«
»Dafür habe ich auch einen Plan.« Ich bin gerade fertig damit, ihr zu erklären, was Mei und ich vorhaben, als Tess auf einmal mit zuckenden Augenlidern rückwärts auf das Bett fällt. Ihr Kopf schlägt gegen die Betonmauer.
»Tess? Tess!«, rufe ich und ziehe ihren schlaffen Körper in meine Arme.
»Sch!«, ermahnt mich Zara, geht zur Tür und späht hinaus.
»Tess?« Ich schüttle sie leicht. Ausgerechnet jetzt muss sie eine Vorhersehung haben. Ich habe noch nie erlebt, dass sie davon so stark in Besitz genommen wird.
Tess öffnet die Augen und sieht mich benommen an. Ihr Atem stockt. »Oh, Cate.« Sie rückt von mir ab und presst sich beide Hände auf den Mund, als müsste sie sich übergeben. Sie schließt die Augen, nimmt mehrere tiefe Atemzüge. Ihr herzförmiges Gesicht – wie das von Maura, wie das von Mutter – ist ganz blass geworden.
Zara steht mit dem Rücken zur Tür, sodass niemand durch das Guckloch hereinsehen kann.
»Geht es dir gut?«, frage ich und berühre sie am Knie.
Tess nickt, aber der Blick ihrer grauen Augen ist gequält. »Es wird klappen. Ich habe es gesehen. Schwester Sophia hat einen Wagen voller Mädchen gefahren. Ich habe ein paar der Aufsässigen wiedererkannt. Es war kurz vor Morgengrauen, glaube ich; der Himmel war rosafarben, und sie fuhren einen langen Weg auf ein seltsames Haus zu. Es war auch rosafarben, mit Türmchen und einer kleinen Dachterrasse, und es lag am Meer. Ich konnte die Wellen und die Möwen hören; ich konnte sogar das Salzwasser schmecken. Es war so merkwürdig.« Sie presst sich eine Hand an die Schläfe, und jetzt spüre ich den roten Nebel ihrer Kopfschmerzen lodern.
»Ich … ich kenne das Haus. Ich war schon einmal da.« Zaras Stimme ist nur ein Krächzen, und sie räuspert sich. »Es gab einmal eine Gruppe von Gelehrten, die den Töchtern von Persephone sehr wohlwollend gegenüberstanden. Sie wurden oft genug von den Brüdern verdächtigt, sodass sie Häuser brauchten, wo sie sich verstecken konnten. Das war eins davon.«
»Kannst du uns sagen, wo es sich befindet?«, frage ich.
Ein breites Grinsen erscheint auf Zaras schmalem Gesicht. »Wenn ihr etwas zum Schreiben habt, kann ich euch sogar eine Karte zeichnen.«
Tess zaubert ein gefaltetes Blatt Papier und einen Bleistiftstummel hervor, und mit zitternden Händen reicht sie beides Zara.
»Lass mich deine Kopfschmerzen heilen«, sage ich, und sie nickt und lehnt sich in ihren grauen Umhang gekuschelt gegen die Wand. Zara beginnt die Karte zu zeichnen, und für einen Moment ist das Kratzen des Bleistifts auf dem Papier das einzige Geräusch im Raum.
Nach meiner Heilarbeit im Krankensaal und nach Cora sind Tess’ Kopfschmerzen nichts. Mir ist nur einen kurzen Augenblick leicht schwindelig. Um Tess mache ich mir viel mehr Sorgen. Sie seufzt leise, als ihre Kopfschmerzen verschwinden, aber ihr Gesicht ist immer noch von Kummer gezeichnet. Wenn sie gesehen hat, dass wir Erfolg haben werden, warum ist sie dann so verzweifelt? Ein sicheres Versteck zu haben wäre ein Segen, denn im Kloster können wir nur ein paar der Mädchen unterbringen. Ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, was mit den anderen passieren soll, sobald wir sie befreit haben.
Dem Herrn sei Dank, dass Tess jetzt ihre Vorhersehung hatte und nicht vor fünfzehn Minuten, als wir mit einem Dutzend Zeuginnen im Trakt der Aufsässigen waren. Tess ist im Moment nicht in der Lage zu zaubern, und meine Gedankenmagie alleine hätte dafür nicht ausgereicht.
Es war verrückt, sie mit hierher zu nehmen.
»Da.« Zara reicht uns die Karte. Ihre Pupillen sind jetzt wieder normal; der Schock scheint sie zu sich gebracht zu haben. »Es dauert eine ganze Nacht, dort hinzufahren, aber es ist das nächste der drei Häuser, die wir hatten. Ein Ehepaar hat das Haus geführt – John und Helen Grayson. Und es gab eine Losung. Vielleicht ist es inzwischen eine andere, aber damals lautete sie corruptio optimi pessima.«
»Die Verderbtheit der Besten ist die schlimmste«, übersetzt Tess.
Zara nickt. Sie sieht Tess fasziniert an, als wäre sie ein Engel auf Erden. »Du … du bist die Seherin.« Sie senkt den Kopf und lacht schüchtern. »Ich … oh, ich habe so viele Fragen an dich. Ich habe gehofft, dass ich eines Tages … Ich habe noch nie mit einer Seherin gesprochen, die nicht vom Wahnsinn befallen war.«
Tess beißt sich auf die Unterlippe. »Waren sie alle verrückt?«
»Brenna, ja, und Thomasina vor ihr auch. Ich weiß nicht, wie sich Marcela entwickelt hätte; sie ist nicht älter als fünfundzwanzig geworden.« Tess zuckt zusammen, und Zara streckt die Hand nach ihr aus. »Tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst …«
»Nein. Ich will alles wissen. Deswegen bin ich hier.« Tess zieht die Füße unter sich aufs Bett, dann streicht sie ihre rosafarbenen Röcke um sich glatt. »Dein Buch war sehr hilfreich. Ich habe es zweimal gelesen, als die Vorhersehungen anfingen. Ich habe mich dadurch weniger allein gefühlt«, vertraut sie sich Zara an, und Zaras Lächeln ist von einer solchen Wärme, dass sie damit den Schnee auf dem Hang draußen schmelzen könnte.
Tess braucht mehr Mütterlichkeit, mehr mütterlichen Rat, als ich ihr geben kann.
»Ich weiß, dass die Schwesternschaft sich dir gegenüber schrecklich verhalten hat, Zara«, beginne ich zögerlich und winde die Hände im Schoß. »Ich könnte es verstehen, wenn du zu einem der geheimen Unterschlüpfe wolltest oder irgendwo ganz anders hin. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn du mit zu uns ins Kloster kommen würdest. Du wärst Tess eine große Hilfe – und mir auch.«
Tess sitzt vollkommen reglos neben mir, als würde sie die Luft anhalten.
Zara sieht mich mit ihren dunklen Augen lange nachdenklich an. Dann berührt sie den goldenen Anhänger an ihrem Hals. »Ihr seid Annas Mädchen. Wenn ihr mich hier herausbekommt, dann werde ich mit euch gehen.«
Tess bricht in Tränen aus und wirft sich Zara um den Hals.
»Danke«, sage ich aus tiefstem Herzen.
Zara breitet die Arme aus. »Ich habe zu danken«, sagt sie gerührt. Ich denke daran, wie leicht Tess ihre Zuneigung zeigen kann, wie sie mich immer umarmt und zwickt, wie wir uns gegenseitig Zöpfe flechten und die Schärpen umbinden. Wie lange ist es her, dass Zara so etwas erlebt hat, den einfachen Trost einer menschlichen Umarmung?
Zara lächelt mich über Tess’ Schulter hinweg an. »Ihr seid starke Mädchen. Und klug. Ich wünschte, Anna könnte euch sehen. Sie wäre so stolz auf euch.«
»Meinst du?« Ich sehe auf die hässliche Betonwand. »Manchmal denke ich, es wäre ihr lieber, wir würden uns, so weit es geht, von alldem hier fernhalten. Mutter hat ihre Magie gehasst.«
Doch Zara schüttelt den Kopf, während Tess sich wieder auf die kratzige braune Decke neben mich setzt. »Das war aber nicht immer so. Als wir noch Mädchen waren, waren wir beide sehr froh darüber, Hexen zu sein. Aber Anna hat ihre Magie auf eine Weise benutzt, die sie später bereut hat, und das hat sie verbittert. Letztendlich hat sie ihre Gabe für einen Fluch gehalten.«
Ich verschränke meine Hände fester miteinander, um ihr Zittern zu verbergen. Das könnte die Gelegenheit sein, endlich Antworten auf meine Fragen zu erhalten. »Wozu hat die Schwesternschaft sie gezwungen?«
Zara blickt zögernd aus dem Fenster. Es gibt nichts weiter zu sehen als den grauen Himmel, den weißen Schnee und den roten Speicher des angrenzenden Bauernhofs auf der anderen Seite des Hügels. »Das ist das Geheimnis eurer Mutter, nicht meines.«
»Aber sie hat es uns nicht verraten«, sage ich und wippe ungeduldig mit dem Fuß. »Es gibt so vieles, was sie uns nie erzählt hat. Ich werde niemals vergessen, wie sie mich angesehen hat, als sie gemerkt hat, dass ich Gedankenmagie kann. Sie war entsetzt.«
Zara beugt sich vor und stützt die Ellbogen auf ihre kantigen Knie, wie eine Puppe, die nur aus rechten Winkeln besteht. »Nicht über dich, Cate. Sie war beschämt über sich selbst. Was das Herz deiner Mutter gebrochen hat, war nichts, wozu die Schwestern sie gezwungen haben. Es war etwas, wozu sie sich selbst entschieden hat.«
Tess und ich rücken auf dem Bett näher aneinander heran.
»Ihr müsst wissen, dass sie euren Vater sehr geliebt hat«, erklärt Zara. »Ich kann mich noch daran erinnern, wie es war, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten. Brendan war bloß ein Student der Klassischen Altertumswissenschaften, aber Anna war das egal. Sie war so glücklich und hatte es sehr eilig, eine Familie zu gründen und das Kloster zu verlassen. Sie war schon immer besonders romantisch veranlagt gewesen.«
Ich nicke. Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Eltern immer Hand in Hand lachend durch die Gärten spaziert sind, als es Mutter noch gut genug ging. Vater war manchmal richtig glücklich, als sie noch am Leben war.
»Aber sie hat ihm nie von ihren magischen Fähigkeiten erzählt«, werfe ich ein. Das scheint mir doch eine sehr große Auslassung zu sein. Eine zu große Lüge, als dass eine Ehe es verkraften könnte.
»Da«, sagt Zara, »liegst du leider verkehrt.«
Aber Vater weiß nichts von unserer Magie. Er hat nie eine Andeutung gemacht – und Mutters Anweisungen waren klar: Wir sollten unsere magischen Fähigkeiten vor allen geheim halten, selbst vor Vater. Wenn er von ihrer Magie gewusst hat …
Mein Vertrauen in ihn ist nicht das beste, aber er hätte sie niemals verraten.
Was bedeutet, dass sie …
Tess kommt eine Sekunde vor mir zum selben Schluss. Sie springt vom Bett auf. »Hat sie etwa sein Gedächtnis ausgelöscht?«
Ich werde von Wut erfasst. Warum hat Mutter uns eines Vaters beraubt, der uns beschützen könnte, der uns so kennt und so liebt, wie wir sind?
»Zu seiner eigene Sicherheit und zu eurer«, sagt Zara sanftmütig. »Er hätte alles für Anna getan. Als ich bei den Brüdern in Verdacht geriet, war sie besorgt, dass sie die Nächste sein könnte – und dass Brendan im Falle ihrer Verhaftung in seiner Verzweiflung etwas Unüberlegtes tun würde, um sie zu beschützen. Dann wären eure Eltern beide fort gewesen.«
»Das wäre auch nicht anders gewesen«, murmle ich. Vater ist ständig unterwegs auf Geschäftsreisen, und auch wenn er zu Hause ist, ist er nicht wirklich anwesend.
»Oh doch. Wenn ihr allein zurückgeblieben wärt, hätte die Schwesternschaft sich eurer angenommen, auch wenn sich eure magischen Kräfte noch nicht gezeigt hätten. Und wegen der Prophezeiung wärt ihr getrennt worden. Eure Mutter wollte das nicht. Sie wollte, dass ihr zusammen eine normale Kindheit verlebt, ganz egal, was eure Bestimmung ist.«
Bestimmung. Das Wort hört sich so grandios an, und doch steckt ein so schreckliches Schicksal dahinter. Eine von uns wird das zwanzigste Jahrhundert nicht mehr erleben. Eine von uns wird von einer anderen ermordet.
»Später hat sie es dann bereut – dass sie es eurem Vater verwehrt hat, euch richtig zu kennen. Sie richtig zu kennen. Doch nachdem sie sein Gedächtnis erst einmal ausgelöscht hatte, musste sie den Schein aufrechterhalten. Sie hatte Angst davor, wie er reagieren würde, sollte er es jemals herausfinden.«
Oh Gott. Seit ich weiß, dass ich eine Hexe bin, habe ich mich über meinem Vater geärgert, habe ich ihn für jemanden gehalten, den wir täuschen und verachten mussten, statt in ihm jemanden zu erkennen, der uns lieben und beschützen würde. Es ist schwierig, das zu begreifen; ich bin so sehr daran gewöhnt, ihn für schwach zu halten.
»Ich habe es doch gewusst«, schluchzt Tess. »Er hat weiß Gott seine Fehler – und ich habe die gleichen. Aber ich habe es nie verstanden, warum Mutter es vor ihm geheim gehalten hat.«
Tess war erst neun, als Mutter starb und Vaters Geschäftsreisen länger und länger wurden. Tess ist immer mit einer Leichenbittermiene herumgelaufen, wenn er abreiste, und machte sich Sorgen, dass er mit der Kutsche einen Unfall haben, ausgeraubt werden oder in der Stadt an Grippe erkranken könnte, wo sich niemand um ihn kümmern würde. Sie war immer viel abhängiger von ihm – und wollte es so – als Maura und ich es waren.
Ich blicke auf den zerkratzten Holzboden. Allein der Gedanke kommt mir schon vor wie Verrat, aber ich muss ihn aussprechen. Für Tess. »Ich habe Mutter geliebt, aber ich glaube, damit hat sie einen Fehler gemacht.«
Tess nickt. »Vater sagte, er würde Weihnachten nach New London kommen, um gemeinsam mit uns zu feiern. Ich will ihm die Wahrheit sagen. Ich bestehe darauf, es ihm zu erzählen.«
Mit dem spitzen, nach vorne gereckten Kinn und den zu Fäusten geballten Händen drückt Tess’ gesamte Haltung aus, dass sie auf eine Auseinandersetzung vorbereitet ist. Dabei besteht sie sonst eigentlich nicht auf besonders viel. Sie will normalerweise bloß Frieden und Stille und Bibliotheken voller Bücher, und das Recht, diese Bücher zu lesen.
Ich stehe auf. »Na gut.«
»Er verdient es, uns zu kennen. Wir verdienen es, dass er uns kennt, und … Moment. Hast du mir gerade zugestimmt?« Sie wirft mir die Arme um den Hals und stößt mit ihrem Kopf gegen mein Kinn. »Wirklich? Du widersprichst mir nicht?«
Ich befreie mich von ihr und massiere mir das Kinn. »Wirklich. Ich werde dir sogar dabei helfen, es ihm zu erzählen.«
»Danke. Oh, du bist die Allerbeste.« Tess zögert und lässt sich zurück auf das Bett fallen. »Glaubst du, er wird sehr verletzt sein, weil wir es so lange vor ihm geheim gehalten haben?«
Es gefällt mir, dass Tess nicht eine Sekunde daran zweifelt, Vater vertrauen zu können. Sie glaubt daran, dass er es akzeptieren wird, drei Hexenschwestern als Töchter zu haben; es sind seine Gefühle, um die sie sich Sorgen macht, nicht ihre eigene Haut.
Ich stecke mir eine Haarsträhne zurück in den Nackenknoten. »Ich weiß es nicht. Ich hoffe, er wird verstehen, dass wir bloß Mutters Wunsch nachgekommen sind. Warum hat sie es ihm denn nicht gesagt, als sie wusste, dass sie stirbt?«
Die Wahrheit ist, Mutter hat eine Menge Geheimnisse für sich behalten. Wenn Zara mir nicht geschrieben hätte, hätte ich wahrscheinlich nie nach Mutters Tagebuch gesucht. Wir hätten überhaupt nichts von der Prophezeiung erfahren und wären den Machenschaften der Schwesternschaft ahnungslos ausgeliefert gewesen.
»Es war nicht richtig von ihr, so zu handeln, aber sie hat es getan, weil sie uns beschützen wollte. Das dürfen wir nicht vergessen. Sie war nicht perfekt, aber sie hat uns geliebt, Cate.«
»Sie hat ihr Bestes gegeben«, räume ich ein. So wie auch ich es tun werde. Ich habe ihr versprochen, mich um Maura und Tess zu kümmern, und auch wenn die beiden keine Kinder mehr sind, heißt das noch lange nicht, dass ich jemals aufhören werde, sie beschützen und glücklich sehen zu wollen. »Kannst du mir einen Gefallen tun, Tess? Bleibst du hier bei Zara, während ich mich eben um ein paar Dinge kümmere?«
Zara ist ganz still geworden und schaut verträumt aus dem Fenster. Jetzt kommt sie wieder zu sich und berührt das Medaillon an ihrem Hals. »Was hast du vor?«
»Tess ist nicht die einzige Seherin, von der wir wissen. Ich will der anderen einen Besuch abstatten. Vielleicht hat sie nützliche Informationen für mich.«