Kapitel 9
Am nächsten Nachmittag liefere ich mit Alice und Mei das Essen für die Armen aus. Eine Wolke der Unzufriedenheit scheint sich auf alle Wohnungen herabgesenkt zu haben. Die Mütter sehen abgespannt und besorgt aus, und auch wenn sie es nicht wagen, sich zu beklagen, überlegen sie doch laut, wie sie das von uns mitgebrachte Gemüse zu Suppen verlängern könnten. Töchter, die die Woche zuvor noch als Verkäuferinnen gearbeitet haben, sehen uns über ihr Nähzeug hinweg an oder schleichen wie eingepferchte Katzen hin und her.
Ich fühle mich schuldig, wenn ich daran denke, dass manche von ihnen am Ende der Woche hungrig zu Bett gehen werden. Ich habe zwar gerade auch viele Sorgen, aber diese Sorge hatte ich noch nie. Können wir nicht doch mehr tun, um ihnen zu helfen? Wären diese Familien besser dran, wenn wir die Bruderschaft bekämpfen würden?
Die Männer, die zu Hause sind, zögern nicht, ihren Unmut zu äußern. Väter murren über die zusätzliche Belastung ihrer Geldbeutel durch die neuen Verordnungen der Brüder; betagte Großväter scherzen, dass sie wohl bald wieder werden arbeiten gehen müssen. Ich beobachte mehr als einen Mann dabei, wie er eine Zeitung unter dem Sofakissen versteckt, als wir hereinkommen, und ich bin mir sicher, dass es sich dabei nicht um den New London Sentinel, das Sprachrohr der Bruderschaft handelt. Zum Teil habe ich Angst um sie, aber ihre Klagen machen mir auch Hoffnung. Vielleicht erkennen sie endlich, wie grausam die Launen der Bruderschaft sind.
»Die haben die Koffer voller Geld dank unseres Zehnten!« Mr Brooke ist normalerweise vergnügt, trotz seines gebrochenen Beins, das ihn von der Fabrikarbeit fern- und zu Hause hält – aber nicht heute. Er sitzt auf einem Lehnstuhl, das Bein liegt auf einer Ottomane, und die hölzernen Krücken stehen in der Ecke hinter ihm. Er bewohnt mit seiner Familie die Hälfte einer Maisonettewohnung in der Nähe des Marktviertels. »Ich will ja gar nicht sagen, dass Mädchen in der Stadt herumstolzieren oder, Gott bewahre, unanständige Arbeit verrichten sollen. Meine Molly hat in dem Blumenladen um die Ecke gearbeitet, und wenn sie den Männern schmeichelte, damit sie Blumen für ihre Frauen kauften, war das doch bloß gut fürs Geschäft, oder nicht? Sie hat mehr Blumen verkauft als jede andere.«
»Papa!« Molly ist ein hübsches Mädchen mit verängstigten kornblumenblauen Augen. »Willst du, dass ich verhaftet werde?«
»Wir werden nichts sagen«, verspreche ich ihr, und sie setzt ihre Strickarbeit fort.
Mr Brooke runzelt die Stirn. »Ich habe überhaupt nichts damit andeuten wollen. Molly ist ein gutes Mädchen.«
»Natürlich ist sie das.« Mei lächelt. Alice rümpft wie üblich bloß die Nase.
Es gibt auch Gerede über weitere verschwundene Mädchen – Mädchen, die von den Brüdern verdächtigt werden, die Seherin zu sein. Die Chen-Schwestern tuscheln über die Cousine einer Freundin am anderen Ende der Stadt. Sie sagen, die Brüder hätten mitbekommen, wie die Nachbarn über einen seltsamen Traum getratscht hätten, den das Mädchen gehabt hatte, woraufhin es mitgenommen worden sei und der Familie geraten wurde, es besser zu vergessen. Als wenn das so einfach wäre.
Nach meiner Zählung sind es jetzt schon zehn Mädchen.
Den ganzen Nachmittag befinden wir uns auf einer Gratwanderung, die darin besteht, dass wir den Familien gegenüber zwar unser Mitgefühl ausdrücken können, die Kritik an der Bruderschaft aber nicht so offen äußern dürfen. Als wir nach dem letzten Besuch wieder in unsere Kutsche steigen, frage ich Mei: »Meinst du, es ist überall in der Stadt so?«
Mei nickt. »Meine Brüder sagen, die Leute reden schon von einem Protest.«
»Das hat es noch nie vorher gegeben, oder?« Obwohl ich es in Chatham wahrscheinlich nicht mitbekommen hätte.
»Nicht seit die Töchter von Persephone an der Macht waren«, sagt Mei. »Und wir alle wissen, wie das ausgegangen ist.«
Wir sind fast zu Hause, als die Kutsche so ruckartig stehen bleibt, dass Mei von der Sitzbank rutscht und auf den Boden plumpst. Wahrscheinlich musste Robert an den Zügeln reißen, um nicht von hinten in eine andere Kutsche hineinzufahren. Mir tun schon die Mäuler der armen Pferde leid, und ich will gar nicht weiter darüber nachdenken, als …
»Seht doch!« Alice zeigt mit zitterndem Finger aus dem Fenster. Die Straße ist gesäumt von schwarzen Kutschen mit dem goldenen Emblem der Bruderschaft. Mein Herz rast. Ich zähle sechs Kutschen, das bedeutet mindestens zwölf Brüder. Warum sind es so viele?
Das kann nur Probleme bedeuten.
Maura und Tess sind da drinnen.
Eine leise, vernünftige Stimme in mir sagt, dass ich in die entgegengesetzte Richtung laufen sollte. Dass es alles nur noch zehnmal schlimmer machen würde, falls ich die Seherin sein sollte und die Brüder mich fänden. Im besten Fall würden sie mich foltern, bis ich ihnen die Prophezeiungen verrate. Im schlimmsten Fall würden sie mich auf dem Richmond Square verbrennen, und alle, die ich liebe, müssten es mitansehen.
Ich weiß es. Ich habe es oft genug aus den Mündern von Menschen gehört, denen ich vertraue; aber ich kann meine Schwestern im Angesicht der Gefahr nicht alleine lassen.
Und es sind auch nicht nur Maura und Tess, um die ich mich sorge. Irgendwie ist mir das Kloster über die letzten ein, zwei Wochen doch ans Herz gewachsen. Ich kann gar nicht genau sagen, wann es passiert ist, aber das Kloster ist mittlerweile wie ein zweites Zuhause für mich, und die Mädchen sind so etwas wie meine zweite Familie geworden. Rilla, Addie, Daisy, Schwester Sophia, die kleine Lucy Wheeler – sie alle kennen mich besser als mein eigener Vater, und ich würde nicht wollen, dass ihnen etwas geschieht. Nicht, wenn ich es irgendwie verhindern kann.
Ich reiße die Tür der Kutsche auf, raffe meine Röcke zusammen und springe hinaus aufs Kopfsteinpflaster.
Alice und Mei folgen. Robert läuft bereits zum Kloster, und ich kann es ihm wirklich nicht verübeln, dass er seine Schützlinge stehen lässt; er muss verrückt sein vor Sorge um Vi. Wir eilen ihm hinterher und rennen die Treppenstufen hinauf.
In der Eingangshalle wimmelt es nur so von Brüdern. Einer sitzt mit einem Blatt Pergamentpapier auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock und ruft mit einer hohen, nasalen Stimme Namen aus. Auf dem Flur stehen die Mädchen in einer langen Reihe; eins nach dem anderen wird in die Klassenräume und den Salon geführt. Maura ist mit ihren leuchtend roten Haaren leicht ausfindig zu machen, aber Tess kann ich nirgends entdecken.
Ein dicker Bruder mit blondem Haarschopf und kleinen Schweinsäuglein hält mich am Arm fest, als ich an ihm vorbeigehen will. »Sie da, nicht so schnell. Wer sind Sie?«
Ich neige den Kopf und bemühe mich, meinen Atem zu beruhigen. Ich versuche, sorglos zu wirken, als gäbe es nichts zu befürchten. »Catherine Cahill, Sir.«
Er wirft einen Blick auf seine Liste. Als ich über seinen Ellbogen linse, sehe ich, dass es eine Auflistung der Schülerinnen ist. Einige Namen sind durchgestrichen. »Wir haben Sie bereits aufgerufen. Es hieß, sie würden am Fluss Essensrationen ausliefern.«
»Ja, Sir. Ich bin gerade erst zurückgekehrt.« Was hat es mit dem Ganzen hier auf sich? Wo ist Tess?
»Kommen Sie mit mir«, sagt er. Die Mädchen machen ihm eilig den Weg frei, als er schwerfällig den Flur entlanggeht und dann auf den Unterrichtsraum für Illusionszauber deutet. »Da rein.«
Drei Brüder stehen vor der Tafel; der älteste sitzt mit einer Schreibfeder in der Hand und einem leeren Blatt Pergamentpapier vor sich an Schwester Inez’ Schreibtisch. Ich bleibe mit gefalteten Händen vor ihm stehen und schlage sittsam die Augen nieder.
»Name?«, bellt einer.
»Catherine Cahill, Sir.« Ich höre, wie der Schreiber meine Antwort notiert, während ich auf die glänzenden Bodendielen von Schwester Inez’ Klassenzimmer blicke. Sie müssen gewachst worden sein, seit wir hier gestern Unterricht hatten. Es riecht immer noch leicht nach Zitrone.
»Was hat Sie bewegt, zur Schwesternschaft zu kommen, Miss Cahill?«
»Ich hoffte, den Armen und Kranken dienen zu können. Wohltätigkeitsarbeit im Namen des Herrn zu verrichten.« Reinen Herzens, demütig und tugendhaft. So muss ich erscheinen. Sie werden mir nichts antun, solange ich ihre Fragen richtig beantworte.
»Finden Sie solche Arbeit angenehm?«, knurrt er.
Angenehm? Was soll ich darauf antworten? Ich denke an den Krankensaal in Harwood, an den Saal mit den aufsässigen Mädchen, und ich kann nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken. »Nein, Sir, aber was wäre ich ohne die Gnade des Herrn? Es lässt mich dankbar für das sein, was ich habe.«
Die Schreibfeder kratzt wieder über das Pergament. Schreibt er bloß meine Antworten auf oder noch mehr? »Was ist die wichtigste Tugend für eine junge Dame, Miss Cahill?«, fragt eine andere Stimme.
»Gehorsam.« Die Antwort wurde uns bereits eingepaukt, als wir noch kleine Kinder waren.
»Sehr gut. Haben Sie jemals Vorahnungen gehabt, Miss Cahill? Vielleicht ein sehr starkes Gefühl, dass etwas passieren würde? Einen Traum, der später wahr geworden ist? Sehen Sie uns an, wenn Sie antworten.«
Deswegen sind sie also hier, sie sind auf der Suche nach der Seherin.
Ich blicke sie entsetzt an. »Nein, Sir. Niemals.«
»Haben Sie von Mädchen gehört, die so etwas von sich behaupten?«
Ich zucke noch nicht einmal mit der Wimper. »Nein, Sir.«
»Wie würden Sie über ein Mädchen denken, das so etwas von sich behauptet?«
»Ich würde es für sehr gottlos und anmaßend halten, Sir. Wir müssen Gott vertrauen, uns zu führen, und dürfen nicht denken, dass schwache und sündige Sterbliche wie wir selbst seine Arbeit verrichten können«, erkläre ich. Ich sehe die blaue Glaslampe auf Schwester Inez’ Schreibtisch an. Sie hat sie abgestaubt.
Der backenbärtige alte Mann am Schreibtisch legt die Schreibfeder nieder und lächelt mich an. »Sehr gut, Miss Cahill. Sie können gehen.« Er verschwendet keine Zeit mit dem üblichen Segensritual, sondern wedelt nur mit der Hand, um mich hinauszuscheuchen.
»Danke, Sir.« Ich eile zurück auf den Flur. Ich muss meine Schwestern finden.
Maura steht mit Vi vor der Bibliothek. »Tess wird immer noch befragt«, sagt sie, und ihre Schultern sind vor lauter Sorge vollkommen starr. »Sie ist schon Ewigkeiten da drin.«
Ich greife nach Mauras Hand und unterdrücke die Angst, die mich zu überwältigen droht. »Es ist sicherlich alles in Ordnung.«
»Bestimmt«, sagte sie, aber umklammert dabei nervös meine Hand. Der Streit von letzter Nacht scheint für den Moment vergessen.
Die Fragen der Brüder waren nicht besonders schwer. Wenn ich es geschafft habe, meine Wut unter Kontrolle zu halten und angemessen zu antworten, wird Tess bestimmt keine Probleme damit haben. Aber während die Minuten verstreichen, gehen mir mögliche Katastrophen durch den Kopf. Sie ist in der Bibliothek. Was ist, wenn die Brüder sie nach der moralischen Verwerflichkeit von Romanen fragen? Oder nach ihrer Haltung zu den Bücherverbrennungen? Wird sie überzeugend lügen können?
Da fliegt die Bibliothekstür auf, und zwei Brüder treten mit einer kleinen blonden Gestalt zwischen sich auf den Flur. »Wir werden dieses Mädchen für eine weitere Befragung mitnehmen.«
Maura drückt meine Hand so fest, dass ich das Gefühl habe, meine Knochen werden jeden Moment brechen. Mein Herz ist auf einmal schwer wie Blei, doch dann sehe ich, dass es Lucys Freundin, Hope Ashby, ist.
Wir drücken uns alle an die Wand, als Schwester Cora aus dem Salon kommt. »Darf ich fragen, mit welcher Begründung?«
»Sie hat unsere Fragen nicht zur Genüge beantwortet. Wir glauben, sie könnte eine Hellseherin sein oder von einer wissen.«
Mein Puls rast. Hope ist gerade erst zwölf und zu Tode erschrocken. Was ist, wenn sie gefoltert wird? Sie wird bestimmt reden. Schwester Cora muss etwas tun, die Brüder dürfen sie nicht mitnehmen.
»Schwester Cora, bitte! Helfen Sie mir«, bettelt Hope.
»Wenn du unschuldig bist, wirst du schon bald wieder zurück sein.« Schwester Coras Gesicht ist kränklich grau und ihr Lächeln falsch. Ihr muss doch klar sein, dass wir Hope nie wieder sehen werden.
Mein Entsetzen spiegelt sich auf den Gesichtern der Mädchen um mich. Schwester Cora kann – und wird – uns nicht retten. Ein Teil von mir hofft, dass ich, wenn ich an ihrer Stelle wäre, mehr tun würde. Härter kämpfen würde. Aber der pragmatische Teil von mir weiß, dass sie Hope opfert, um uns andere zu schützen.
Offensichtlich zufrieden, eine Verdächtige gefunden zu haben, gehen die Brüder zur Tür hinaus. Der Mann, der eben noch auf der Treppe die Namen ausgerufen hat, verstaut seine Papiere in einer schwarzen Ledermappe und räuspert sich. »Lassen Sie sich das eine Lehre sein. Niemand ist frei von Verdacht. Die Gottlosigkeit findet einen Weg, sich sogar in den jüngsten, unschuldigsten Seelen einzunisten, aber wir werden dieses Übel bei der Wurzel packen und bestrafen, wo immer es uns begegnet.« Er verneigt sich vor Schwester Cora. »Danke für Ihre Mitarbeit, Schwester. Wir werden bald wiederkommen, um eine weitere Suche durchzuführen.«
Die Brüder marschieren ab und nehmen Hope mit sich. Da kommt Tess aus der Bibliothek, den Arm um eine schluchzende Lucy geschlungen. Als sie mich erblickt, lässt sie Lucy los und wirft sich in meine Arme.
»Sie haben Hope mitgenommen!«, sagt sie unter Tränen.
Mauras sonst so schöner Teint sieht kränklich aus. »Gott sei Dank haben sie nicht dich mitgenommen.«
»Aber ich hätte es sein sollen«, wimmert Tess und vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter. »Hope weiß doch überhaupt nichts! Sie ist einfach nur erstarrt, als sie befragt wurde. Oh Cate, es war schrecklich!«
»Ich weiß«, flüstere ich. Ich streichle ihr über die Schulter und sehe zu Maura, aber sie hat sich bereits umgedreht und läuft zielstrebig den Flur hinab zu Alice.
Schwester Cora, die eben noch schwer am Endpfosten des Treppengeländers lehnte, bricht auf einmal ohnmächtig zusammen.
»Bringt sie ins Wohnzimmer, ich kümmere mich um sie«, weist Schwester Sophia uns an. »So krank wie sie ist, sollte sie wirklich keine Magie praktizieren.«
»Was hat sie denn getan?«, fragt Maura mit einem zornigen Blick auf unsere Schulleiterin. »Hope geholfen hat sie jedenfalls nicht.«
»Miss Ashby kann nichts verraten, an das sie sich nicht erinnert«, sagt Schwester Inez nur. Dann klatscht sie zweimal in die Hände, und alle versammeln sich in der Eingangshalle. »Mädchen, ich will euch nicht beunruhigen, aber vielleicht ist es sogar angebracht, beunruhigt zu sein. Das war die erste Durchsuchung der Brüder, aber es wird nicht die letzte gewesen sein. Wir müssen wachsam sein. Wenn ihr irgendwelche verbotenen Bücher besitzt, seht bitte zu, dass sie immer unter einem Zauber verborgen sind, wenn ihr sie gerade nicht benutzt. Die Schwesternschaft ist offensichtlich nicht mehr über jeden Verdacht erhaben.«
Am nächsten Morgen mache ich mich mit meinen Anatomiebüchern voller Zeichnungen des menschlichen Körpers auf den Weg in die Bibliothek. Trotz all unserer Proteste, dass unser Heilen doch Magie sei, besteht Schwester Sophia darauf, dass wir auch die Wissenschaft lernen. Unsere momentane Aufgabe besteht darin, die zweihundert seltsamen Knochen des menschlichen Körpers auswendig zu lernen. Und auch wenn ich in Gedanken gerade mehr bei der Suche der Bruderschaft nach angeblichen Seherinnen und Finns Bewerbung um eine Stelle, die ihn das Leben kosten könnte, bin, will ich vor den anderen Mädchen nicht als Dummkopf dastehen.
Als ich die Treppe ins Erdgeschoss hinunterschlendre, kommt Tess mir entgegen. Ich lächle sie an, aber sie scheint vollkommen geistesabwesend zu sein. Was nicht besonders außergewöhnlich ist. Doch dann stolpert sie über den Saum ihres pfirsichfarbenen Brokatkleides, lässt ihre Bücher fallen und kann sich gerade noch rechtzeitig mit Händen und Knien abstützen, um nicht mit dem Gesicht in das Geländer zu krachen.
»Ist alles in Ordnung?«, rufe ich erschrocken aus. Tess hat schon immer dazu geneigt, irgendwo gegen zu laufen, wenn sie in Gedanken woanders war, aber sie fällt normalerweise keine Treppen hoch.
Tess sieht zu mir auf – nein, sie sieht durch mich hindurch, ihr Blick geht ins Leere.
»Tess?« Ich strecke ihr die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, doch sie macht keine Anstalten, sie zu nehmen.
»Mir geht’s gut«, sagt sie schließlich und steht auf.
Sie sieht aber überhaupt nicht gut aus. Sie ist blass, und ihr Lächeln ist gezwungen.
Ich hebe ihre Bücher auf – zwei dicke, abgenutzte Wälzer über die Geschichte der Hexerei. »Hast du dir wehgetan?«
»Ich sagte doch, es geht mir gut, oder? Bist du taub?« Sie schlägt sich die Hand vor den Mund.
Ich beiße mir auf die Lippe. »Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zusetzen.«
»Nein, schon in Ordnung.« Auf einmal mustert sie mich ganz genau. Als wollte sie mich abschätzen.
»Ich muss mit dir reden«, sagt sie schließlich. Offenbar habe ich ihre Prüfung bestanden. »Können wir in dein Zimmer gehen?«
»Natürlich.« Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch, als wir die Treppe hinaufgehen. Warum klingt sie so unheilvoll?
Durch einen Spalt zwischen Rillas Vorhängen scheint die Sonne ins Zimmer, eine schräge Linie, die sich über die bunten Teppiche bis hin zum Spiegel über unserem Frisiertisch erstreckt. Ich winke Tess herein und schließe die Tür hinter uns.
»Rilla hat noch eine Stunde Botanik, wir sollten also ungestört sein.« Ich spüre einen leichten eifersüchtigen Stich, als ich daran denke. In meinem Stundenplan ist leider keine Zeit mehr für Botanik. Dabei kennt meine Zimmergenossin kaum den Unterschied zwischen Tulpen und Rosen oder Pfingstrosen und Ranunkeln.
Tess setzt sich mit angezogenen Beinen ans Fußende meines Bettes. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und nehme ihr gegenüber am anderen Ende Platz, die Beine lang zwischen uns ausgestreckt. Ich würde sie gerne mit Fragen überhäufen, aber ich halte mich zurück. Tess wird erst dann reden, wenn sie dazu bereit ist, und keine Sekunde früher, das weiß ich aus Erfahrung.
»Es ist nicht einfach, darüber zu reden. Versprichst du mir, dass du zuhörst und mich nicht unterbrichst?«
Ich spiele mit Mutters Ring an meinem Finger. »Versprochen.«
Tess stützt ihr spitzes Kinn auf die Knie und verzieht das Gesicht genauso, wie Vater es immer macht. »Ich habe seit einiger Zeit Vorhersehungen. Anfangs war ich mir nicht ganz sicher. Ich glaube, ich habe sie schon eine ganze Weile, nur wusste ich zuerst nicht, dass es sich dabei um Vorhersehungen handelte. Wenn es passiert, bin ich ganz benommen, und manchmal weiß ich noch nicht einmal mehr, wo ich bin. Ich habe schon ein halbes Dutzend blaue Flecken, weil ich ständig irgendwo gegen laufe. Eine Zeit lang dachte ich noch, es wären Halluzinationen oder irgendein Fieber oder eine Art Anfall. Doch dann ist das, was ich gesehen habe, wirklich passiert. Das Feuer, in das die Brüder stapelweise Bücher geworfen haben. Der Umzug der Dolamores, nachdem Gabrielle verhaftet worden ist. Der kleine Adam Collier, der durchs Eis in den Teich eingebrochen ist. Unsere Katze, die in der Scheune Junge bekommen hat – drei so weiß wie Schnee und ein schwarzes. Wieso konnte ich diese Dinge sehen, bevor sie geschehen sind? Woher hätte ich das alles wissen sollen?«
Die Stimme meiner kleinen Schwester ist ganz ruhig, als sie mir erklärt, wie sie zu der logischen Schlussfolgerung gekommen ist, dass sie eine Seherin ist.
»Und das sind nur ein paar Beispiele. Ich hatte Dutzende von Vorhersehungen, und von sieben weiß ich, dass sie sich genauso ereignet haben.« Tess sieht mich mit ihren grauen Augen aufmerksam an. »Anfangs ist es nicht besonders oft passiert, aber in letzter Zeit … Ich hatte diese Woche schon zwei Vorhersehungen. Ich glaube … Cate, ich glaube, ich bin die neue Seherin.«
Ich gebe mir Mühe, mir den Schrecken nicht anmerken zu lassen. Ich darf Tess nicht verängstigen.
»Hast du es irgendjemandem erzählt?«, flüstere ich.
Tess schüttelt den Kopf. Sie trägt das Haar heute in zwei langen Zöpfen. »Nein. Ich will nicht …« Sie schluckt, und als sie weiterspricht, zittert ihre Stimme ein wenig. »Ich will nicht, dass die Leute mich für verrückt halten.«
Da ist es mit meiner Besonnenheit vorbei. Ich werfe mich über das Bett und nehme sie fest in die Arme. Tess’ Haut riecht nach Vanille und Gewürzen. »Niemand würde das denken. Du bist die vernünftigste Person, die ich kenne. Sieh doch nur, wie ruhig du bist. Ich würde mich unterm Bett verstecken, wenn ich es wäre.«
Tess vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter, und ich streiche ihr in einer Kreisbewegung über den Rücken, so wie ich es früher immer getan habe, wenn sie schluchzend aus einem Albtraum aufgewacht ist.
»Brenna ist verrückt geworden«, murmelt sie an meiner Halsbeuge.
Ich rücke ein Stück von ihr ab und blicke in ihr besorgtes kleines Gesicht. »Du bist aber nicht Brenna Elliott.«
»Sie ist die einzige Seherin, die ich kenne.«
Ihre Sorge zerreißt mir das Herz. Es war auch das Erste, was mir in den Sinn gekommen ist. Wie lange macht sie sich schon diese Gedanken? Das ist eine zu schwere Last für sie alleine. »Brenna ging es eigentlich ganz gut, bis sie zum ersten Mal nach Harwood kam. Und das wird dir nicht passieren.«
»Wenn die Bruderschaft davon erfährt … Wenn irgendjemand sonst es herausbekommt …«
»Es wird niemand erfahren«, sage ich eindringlich. »Du bist eine Hexe, Tess, und zwar eine ziemlich mächtige. Du beherrschst Gedankenmagie. Wenn dich jemand verdächtigen sollte, weißt du, wie du dich schützen kannst.«
Sogar Mutter wäre damit einverstanden.
»Aber die Brüder bringen alle diese Mädchen bloß meinetwegen um«, flüstert Tess. »Gestern haben sie Hope mitgenommen, und … und Maura will Brenna töten. Das ist alles meine Schuld.«
»Nein.« Ich lege ihr die Hände auf die Schultern und sehe ihr in die Augen. »Es ist nicht deine Schuld. Es ist … es ist alles ziemlich schrecklich, aber das hat nichts mit dir zu tun.«
Tess spielt mit dem Goldmedaillon an ihrer Kette. »Es ist so merkwürdig, Cate. Die Vorhersehungen sind wie Erinnerungsfetzen, nur dass ich etwas sehe, was noch gar nicht geschehen ist. Ich sehe es so deutlich wie eine Fotografie. Eben gerade auf der Treppe habe ich Schwester Evelyn gesehen, wie sie auf dem Eis ausrutscht und sich den Arm bricht. Ich weiß nicht, wann es passiert, vielleicht morgen oder übermorgen oder im Februar oder erst nächstes Jahr. Aber ich weiß, dass es passieren wird.«
Schwester Evelyn unterrichtet Botanik und Geschichte, und sie ist der älteste Mensch, den ich kenne. Ihre Haut ist schrumpelig braun wie eine vertrocknete Kastanie, und ihre Haare sehen aus, als wären sie aus Baumwollfäden. Auf der Nase trägt sie eine Halbbrille. Sie sieht aus, als könnte der Wind sie einfach davonpusten, aber sie kümmert sich immer noch um ihre preisgekrönten Orchideen im Gewächshaus.
Ich ziehe mir die Nadeln aus dem Haar, damit meine Hände etwas zu tun haben. »Hast du etwas über uns gesehen?« Sie zögert, und ich werde panisch. »Was war es? Wenn du es mir nicht sagst, werde ich mir das Schlimmste ausmalen.«
Tess errötet. »Ich habe dich und Finn Belastra gesehen. Ihr habt euch geküsst. Es war dunkel. Du hattest ein rosafarbenes Kleid mit Rosen darauf an. Es ist das Kleid, das Elena für dich mitgebracht hat; ich habe ihr geholfen, den Stoff auszusuchen, nachdem ich dich darin gesehen hatte. Du sahst wunderschön aus.«
»Oh.« Jetzt erröte auch ich.
»Du triffst dich heimlich mit ihm, oder?«, fragt Tess. Ihre Stimme ist vollkommen neutral. Wie froh können wir doch sein, dass es Tess ist, die diese Vorhersehungen hat. Diese Fähigkeit in den Händen der falschen Person, das wäre furchtbar. Wenn es Maura wäre … nun. Ich bin froh, dass es Tess ist. »Ist er ein Spion? Er kann nicht wirklich an die Bruderschaft glauben. So einer ist er nicht.«
»Hast du das auch sehen können?« Ungeduldig beuge ich mich vor.
Tess sieht mich an, als wäre ich beschränkt. Es muss ihr schon wieder besser gehen. »Nein. Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Ich kann mir nicht anders erklären, warum er die Buchhandlung sonst hätte schließen sollen, außer es war, um dir damit irgendwie zu helfen. Er liebt Bücher.« Sie schenkt mir ein kleines, weises Lächeln. »Aber dich liebt er anscheinend noch mehr.«
»Hast du noch mehr über mich gesehen oder dich oder Maura?«
»Ich habe gesehen, wie wir gestern Schwester Coras Brief geöffnet haben. Deswegen habe ich auch meinen Tee darübergeschüttet«, gibt sie zu. Sie nimmt eines der Bücher, die sie vorhin getragen hat. »Seit ich hier bin, lese ich über die Seherinnen. Ich muss herausfinden, ob die Vorhersehungen immer wahr werden oder ob sich manchmal auch Einzelheiten verändern. Wenn ich schlimme Dinge sehe, kann ich dann verhindern, dass sie passieren? Ich habe mich schrecklich gefühlt, als Adam Collier durchs Eis gebrochen ist. Sein Vater hat ihn rechtzeitig gefunden, und es geht ihm gut, aber … es hätte auch schlimm ausgehen können.«
»Das wäre aber nicht deine Schuld gewesen.«
Tess sieht mich misstrauisch an. »Das ist nett von dir, dass du das sagst, aber du würdest anders darüber denken, wenn du es wärst, oder?«
Ich lehne mich gegen das Kopfteil aus Messing zurück, das Haar fällt mir offen über die Schultern. Sie hat recht, ich sollte ihr keine falschen Zusicherungen machen. Das hier ist nicht das Problem eines Kindes, also sollte ich sie auch nicht so behandeln. »Ja, wahrscheinlich. Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast. Danke, dass du dich mir anvertraut hast.«
Tess nickt und zeichnet mit dem Finger Kreise auf den roten Lederumschlag des Buches. »Ich glaube, ich sollte es erst einmal niemandem sonst erzählen. Aber ich fühle mich schrecklich, weil ich es Maura nicht sage.« Sie holt stockend Luft. »Ich habe Angst, dass sie wütend auf mich ist, wenn sie es herausfindet. Sie will unbedingt die verkündete Hexe sein. Aber es ist einfach ein zu großes Geheimnis, um es für mich allein zu behalten. Ich … ich habe Angst, Cate.«
Das habe ich auch.