Kapitel 10

Am nächsten Nachmittag ruft Schwester Inez mich nach dem Unterricht zu sich. Langsam stapfe ich zu ihrem Schreibtisch. Ich fürchte mich vor der Rüge, die ich gleich erhalten werde. In der heutigen Stunde haben wir geübt, uns den Anschein von bestimmten Mitgliedern der Bruderschaft zu geben. Rilla war einfach unglaublich gut, wie sie uns alle mit ihrem unheimlichen Auftreten als Covington erschreckt hat. Und Maura hat sich fast die ganze Stunde in Bruder Ishida verwandelt. Doch obwohl ich ein sehr klares Bild von O’Shea im Kopf hatte, konnte ich den Anschein von ihm nicht länger als zwei Minuten aufrechterhalten. Das Ergebnis – mein schokoladenbraunes Brokatkleid in Kombination mit seinem langen, schmalen Gesicht und kahlen Schädel – hat mir zu Recht sowohl Mauras und Alice’ Gegacker als auch die mir bevorstehende Predigt eingetragen.

Um die Wahrheit zu sagen, ich kann nicht aufhören, mir Sorgen um Tess zu machen. Ich war nie begeistert von der Vorstellung, dass ich die verkündete Hexe sein könnte, aber es gefällt mir gar nicht, dass sie die Last jetzt auf ihre schmalen Schultern nehmen muss. Es sind noch vier Jahre hin, bis sie volljährig wird und die Leitung der Schwesternschaft übernehmen kann, aber bis dahin wird sie bei Inez’ Führung mitreden wollen – wie Inez das wohl gefallen wird? Tess ist zwar jung, aber sie hatte schon immer recht starke Überzeugungen; sie wird sich nicht mit einer Rolle als Inez’ Marionette zufriedengeben. Ob Inez bereit sein wird, Tess’ Ansichten zu berücksichtigen, oder wird sie– wie Maura – Tess’ Meinungen als die eines unreifen Kindes abtun?

Ich bin stolz auf Tess, dass sie trotz ihrer Angst den Kopf nicht verliert. Sie ist wirklich die Klügste und Beste von uns dreien.

»Wir haben ein Problem, Miss Cahill«, sagt Schwester Inez. Ihre Stimme ist hart und schneidend, und da wird mir klar, dass es um etwas Ernsteres geht als um meine Vorstellung heute.

»Was gibt es denn?«, frage ich.

»Bruder Belastra hat sich auf die Stelle als Denisofs Schreiber beworben, aber ihm steht anscheinend jemand im Weg. Uns steht jemand im Weg.«

Finn ist niemandem verpflichtet außer seiner Mutter. Ist in Chatham etwas passiert? Ich denke an Hannah Maclay, und mich schaudert.

»Bruder Ishida sträubt sich, seinen Neuling schon wieder aufzugeben«, sagt Inez. Während sie spricht, lässt sie die Magielehrbücher in ihrem Regal hinter der Illusion von harmlosen Spanischfibeln verschwinden. Die zwölf Handspiegel, in denen wir unsere Abbilder als Brüder betrachtet haben, werden zu einem Dutzend kleiner Staffeleien mit unschuldigen Wasserfarben. »Er fordert, dass Belastra dem Rat von Chatham ein ganzes Jahr dient, ehe er eine andere Stelle antritt. Denisof ist natürlich von viel höherem Rang, aber Schreiber gibt es wie Sand am Meer, und er wird Belastra nicht nehmen, wenn es unnötige Aufregung verursacht.«

Verdammt. Ausgerechnet Ishida muss uns Probleme bereiten. Ich verabscheue diesen Mann. »Was sollen wir tun?«

»Wie sehr wünschen Sie sich denn, dass Bruder Belastra in New London bleibt?«, fragt Inez.

Ich sehe ihr in die Augen. »Sehr.« Vielleicht sollte ich ihn gehen lassen, es als Zeichen sehen, dass er zu Hause sicherer wäre, aber der Gedanke, dass er nach Chatham zurückgehen könnte, ist vernichtend.

»Sie kennen Ishida. Statten Sie ihm einen Besuch ab. Beschwören Sie ihn, Belastra gehen zu lassen.« Inez beugt sich wie ein langer schwarzer Schatten über den Tisch. »Können Sie das?«

Meine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht die geringsten Bedenken, bei Ishida Gedankenmagie anzuwenden. »Ja, das kann ich.«

»Ausgezeichnet. Wir haben keine Zeit zu verlieren, Miss Cahill.« Sie kann ihre Ungeduld kaum verbergen und trommelt mit ihren dünnen Fingern auf den Tisch. »Sagen Sie Belastra, sein erster Auftrag ist, Ort und Zeit der nächsten Sitzung des Höchsten Rats herauszubekommen.«

»Ich werde mich noch heute darum kümmern«, verspreche ich.

Dieses Mal stelle ich keine Fragen.

Ich kann Rory nirgendwo finden – nicht in ihrem Zimmer im zweiten Stock, das sie sich mit Daisy teilt, und auch nicht im Wohnzimmer oder der Küche. Die Bibliothek wäre ein ungewöhnlicher Ort für sie, aber trotzdem sehe ich auch dort nach. Schwester Gretchen sitzt einen deutschen Roman lesend hinter ihrem Tisch und beaufsichtigt ein Dutzend lernende Mädchen.

»Ist Rory hier?«, frage ich flüsternd.

»Cora hat vor ein paar Minuten nach ihr geschickt«, sagt Gretchen.

Oh nein. Ich nehme zwei Stufen auf einmal. Was hat Rory nur angestellt, um in so kurzer Zeit schon zur Schulleiterin gerufen zu werden. Sie hat mir doch versprochen, sich zu benehmen! Sie schien sich auch daran zu halten – sie war vielleicht ein bisschen niedergeschlagen, aber sie hat nicht ein einziges Mal nach Sherry gerochen oder unanständige Witze gemacht –, obwohl, um ehrlich zu sein, war ich mit meinen Gedanken auch woanders. Möglicherweise hätte ich mich mehr um sie kümmern sollen. Sie muss schrecklich einsam und halb verrückt vor Sorge um Sachi sein.

Sachi. Ich habe kaum noch an sie gedacht in all dem Trubel um die Ankunft meiner Schwestern. Wo sie wohl gefangen gehalten wird? Was muss sie durchmachen, während sie auf ihre Verhandlung wartet, wo sie doch ganz genau weiß, wie wahrscheinlich es ist, dass sie lebenslänglich nach Harwood geschickt wird?

Von panischer Angst erfasst, platze ich in Coras Wohnzimmer. »Was auch immer sie getan hat, es tut ihr leid«, verkünde ich atemlos. »Bitte, schicken Sie sie nicht fort.«

»Catherine«, sagt Schwester Cora, »wovon redest du bloß?«

»Von mir, schätze ich.« Rory sitzt auf einem der grün geblümten Sessel am Fenster. Sie trägt ein tomatenrotes Kleid mit riesigen Puffärmeln und einem ausladenden Dekolleté und sieht damit eher wie eine Kurtisane denn wie eine Nonne aus. »Sie denkt, ich habe mich schlecht benommen. Eine berechtigte Annahme, wirklich, aber ich bin eine Musterschülerin, Cate. Ich habe noch mit keinem einzigen Mann auf der Straße geschäkert.«

Schwester Cora kichert. Schwester Sophia muss vor Kurzem bei ihr gewesen sein; sie sieht gesund und munter aus in ihrem lilafarbenen Kleid mit dem silbernen Saum. »Rory hat nichts Schlimmes getan. Ich wollte mit ihr über ihre Cousine Brenna sprechen.«

»Oh. Gut.« Ich drücke mich verlegen in der Tür herum. »Tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe, Rory.«

»Schon verziehen. Es hat mir sehr gefallen, wie du mir zu Hilfe geeilt bist.«

Schwester Cora winkt mich herein. »Da du schon einmal hier bist, kannst du uns ebenso gut auch Gesellschaft leisten. Victoria war gerade dabei, mir ein paar Hintergrundinformationen über Brenna zu geben.« Sie wedelt mit der Hand, woraufhin der Schreibtischstuhl durch den Raum gleitet und ihr und Rory gegenüber zum Stehen kommt.

Rory nickt, und die rote Feder in ihrem Haar wippt. »Wir sind zusammen aufgewachsen und ständig bei der anderen ein und aus gegangen. Brennas Vater und mein Stiefvater Jack waren Brüder.« Bei der Erinnerung leuchten Rorys braune Augen auf, doch dann verdunkeln sie sich auch schon wieder. »Als meine Mutter krank wurde, durfte Brenna nicht mehr so oft kommen.«

»Wie hast du von ihren seherischen Fähigkeiten erfahren?«, fragt Cora.

»An dem Tag, bevor Jack starb, kam Brenna zu uns. Sie sagte ihm, er solle nicht nach Newburgh gehen, er solle nirgendwo hingehen, wohin er nicht laufen könne. Doch er hat sie nur ausgelacht. Und dann hat sein Pferd auf dem Rückweg von Newburgh gescheut, und die Kutsche ist in einen Baum gefahren. Genauso wie Brenna es vorhergesagt hatte. Einen Tag nach der Beerdigung hat ihr Vater sie dann nach Harwood geschickt.«

Also wollte Brenna es verhindern. Ihr muss bewusst gewesen sein, wie gefährlich es ist, von ihren Vorhersehungen zu erzählen, und trotzdem hat sie ihn gewarnt. Und das war dann der Dank für ihre Bemühungen.

Niemand darf erfahren, dass Tess die neue Seherin ist.

»Sie war schon immer ein bisschen merkwürdig, aber in Harwood ist sie wirklich verrückt geworden«, sagt Rory und schürzt die vollen Lippen. Wahrscheinlich denkt sie gerade an Sachi und fragt sich, ob Harwood ihre Schwester genauso vernichten wird wie ihre Cousine.

»War es wirklich Harwood, oder waren es ihre Vorhersehungen? Werden Seherinnen oft verrückt?« Ich habe Angst vor der Antwort, aber ich muss es wissen. Gab es noch andere Seherinnen außer Brenna und Thomasina?

»Sie ist nicht die erste, die wahnsinnig wurde«, seufzt Schwester Cora. »Aber Brennas Vorhersehungen sind nicht die Ursache ihrer Krankheit – oder zumindest nicht die einzige Ursache. Wahrscheinlich solltet ihr die Wahrheit darüber erfahren, vor allem du, Cate.«

Rory und ich sehen uns perplex an.

»Wir haben bei Brennas erster Verhandlung versucht einzugreifen. Als wir hörten, dass sie eine Seherin ist, wollte ich sie bei der Schwesternschaft in Sicherheit wissen. Ob Hexe oder nicht, es wäre der beste Ort für sie gewesen.« Schwester Coras Stimme ist freundlich, als hätten sie Brenna damals einen Gefallen getan. »Aber da sie keine Hexe war, überließen wir ihr die Entscheidung. Sie lehnte es ab, mit uns nach New London zu kommen. Sie hatte Angst, und sie wollte in Chatham bleiben. Mir war klar, dass es nicht lange dauern würde, bis sie erneut verhaftet würde.«

»Soll das heißen, die Schwesternschaft hat sie nach Harwood geschickt?« Rory springt erbost auf.

Schwester Cora hebt beschwichtigend die Hand. »Das war nicht unsere Absicht. Ich wollte bloß ihre Erinnerung an unser Gespräch und unsere Anwesenheit dort auslöschen. Ich hatte eine Schülerin dabei, die der Gedankenmagie fähig war, und dachte, es könnte förderlich für sie sein, einer Verhandlung beizuwohnen. Ich erlaubte ihr, in Brennas Gedanken einzudringen. Unglücklicherweise ist es schiefgegangen. Versteht – das ist das Risiko, das wir jedes Mal, wenn wir Gedankenmagie anwenden, eingehen. Seitdem ist Brenna nicht mehr dieselbe.«

Also ist es Alice gewesen, die Brenna ruiniert hat.

Auf einmal ergibt Brennas unheimliches Gerede Sinn. Löcher in meinem Kopf. Die Krähen haben sie dorthin getan. Sie sind zu meinem Prozess gekommen. Die Brüder haben mich mit ihnen allein gelassen. Ich hatte solche Angst. Ich dachte, sie würden mir die Augen ausstechen, aber sie haben mir bloß meine Erinnerung genommen.

Ich bin so entsetzt, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen kann. Deswegen hat Mutter mich also immer vor Gedankenmagie gewarnt und dass ich sie niemals nachlässig praktizieren darf.

Gleichzeitig bin ich auch ein bisschen erleichtert. Brennas Wahnsinn hat offenbar nichts mit ihren Vorhersehungen zu tun. Das wäre also eine Sorge weniger für Tess.

Rory stehen Tränen in den Augen. »Sie haben sie gebrochen. Sie haben eine Schülerin an ihr üben lassen, sie gebrochen und sie dann im Stich gelassen!«

»Victoria, ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist. Bitte, setz dich wieder, dann können wir darüber reden«, sagt Cora. »Es ging Brenna nicht gut. Harwood war die beste Lösung für sie.«

»Harwood ist kein Ort, an den Mädchen geschickt werden, damit es ihnen besser geht«, wende ich ein. Das muss Cora doch wissen.

»Sie lügen doch. Sie hatten bloß Angst, dass Brenna die Schwesternschaft verrät«, sagt Rory anklagend. Sie steht immer noch und blickt bedrohlich auf uns herab. Sie ist so groß wie ich, aber sie hat Kurven an all den Stellen, an denen ich vollkommen flach bin. Mit zusammengekniffenen Augen fährt sie fort: »Sie haben sie nach Harwood geschickt, um sie dort verrotten zu lassen, weil Sie dachten, dass niemand einer Wahnsinnigen Beachtung schenken würde. Aber jetzt wird auf einmal auf ihr irres Gerede gehört, und Sie … ich habe die Gerüchte gehört. Sie haben im Kriegsrat darüber gesprochen, sie umzubringen!« Die Tränen laufen Rory übers Gesicht, und sie zittert wie eine Schneeflocke im Novemberwind.

»Es tut mir leid.« Cora breitet die Hände aus und schüttelt ihr weißes Haupt. »Ich würde dir gerne versprechen, dass Brenna von der Schwesternschaft nichts zu befürchten hat, aber ich kann es nicht. Meine oberste Pflicht ist, unsere Mädchen zu beschützen, besonders die Verkündete. Ich kann dir nur sagen, dass wir im Moment nicht vorhaben, Brenna irgendetwas zu tun.«

Ich zucke innerlich zusammen. Himmel, was für eine furchtbare Entscheidung.

Ich bin bloß froh, dass ich sie nicht treffen muss.

Wird Tess es bald tun müssen? Wenn Tess dagegen wäre, Brenna zu töten, Inez jedoch dafür, würde Tess sich durchsetzen können? Hätte Tess überhaupt etwas zu sagen als zukünftige Anführerin der Schwesternschaft? Ich helfe Inez zwar gerade, doch wenn ich die Seherin wäre und sie an meiner Stelle regieren lassen müsste – und das nicht nur für Monate sondern Jahre –, würde ich mich damit wahrscheinlich nicht besonders wohlfühlen.

»Sie können es nicht versprechen? Sie wollen es nicht, meinen Sie wohl. Wenn es Cate wäre, würden Sie Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sie freizubekommen«, sagt Rory bitter. »Aber meine Cousine und meine Schwester – die sind entbehrlich!«

Sie stampft zur Tür. Ihre Worte hängen in der Luft und erinnern mich daran, wie Zara mich vor Cora gewarnt hat. Dann schlittert Rory mit fuchtelnden Armen zu uns zurück und fällt wie von einer unsichtbaren Hand geschubst in ihren Sessel.

Schwester Cora erhebt sich. Heute sind ihr die Schmerzen nicht anzusehen; ihre Bewegungen sind voller Kraft und Anmut. »Du solltest Persephone danken, dass Cate nicht in Harwood ist. Weißt du nicht, was das bedeuten würde? Die Prophezeiung besagt sehr deutlich, dass es eine zweite Schreckensherrschaft geben wird, wenn die Verkündete in die Hände der Bruderschaft fällt.« Wie sie so auf Rory hinabschaut, sieht sie in ihrem lilafarbenen Kleid immer noch aus wie eine grimmige alte Königin. »Dann wäre Brenna nicht die einzige Gefangene. Wir würden alle weggesperrt oder Schlimmeres. Nachts in unseren Betten verbrannt wie die Hexen des Großen Tempels, oder auf Marktplätzen überall in Neuengland. Wir würden vor den Augen unserer Familien geköpft, und unsere Familien würden auch geköpft, wenn sie versuchten, uns zu helfen. Wir würden mit Steinen beschwert in Flüsse geworfen, damit wir ertrinken. Willst du das etwa?«

»Natürlich nicht! Ich will bloß meine Familie zurück!«, ruft Rory.

»Rory, lass uns in mein Zimmer gehen und reden«, schlage ich vor und ziehe sie mit mir. Ich muss sie hier herausbekommen, bevor sie wieder die Kontrolle verliert. Offen gestanden finde ich, dass sie durchaus recht hat. Schwester Cora hatte eine Verpflichtung gegenüber Brenna, und sie hat sie im Stich gelassen.

»Du kannst das nicht wieder in Ordnung bringen, Cate.« Auf dem Flur krallt Rory die Hände in ihr Satinkleid und lässt sich gegen die Wand sinken. Ich ziehe sie in den Alkoven am Fenster des zweiten Stocks, wo wir uns auf die weichen Kissen setzen und hinaus auf den Schnee sehen, der vom grauen Himmel fällt.

»Ich kann Brenna nicht wieder in Ordnung bringen«, räume ich ein. »Und ich kann nicht verhindern, dass Sachi nach Harwood geschickt wird. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, aber ich weiß nicht, wie.«

Rory schnieft. »Ich will zu Sathis Verhandlung gehen.«

»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.« Rory hat zwar gelernt, ihre Magie und ihre Wut zu kontrollieren, aber unter solchen Umständen – nun, wer wäre da nicht versucht?

Rory legt die Stirn in Falten. »Ich frage dich nicht um Erlaubnis, Cate. Sie wird sich bestimmt freuen, ein freundliches Gesicht zu sehen.« Ihre Stimme klingt hart.

»Nun, dann komme ich mit. Du kannst nicht alleine gehen«, entscheide ich und kreuze die Beine. »Aber zuerst müssen wir herausfinden, wann die Verhandlung überhaupt stattfindet. Dein Vater wird es doch sicher wissen, oder? Auch wenn er gar nicht daran teilnehmen will?«

»Ich glaube nicht, dass er dem fernbleiben kann. Vielleicht sagt er sogar gegen sie aus.« Rory richtet die Feder in ihrem Haar, die durch den Luftzug vom undichten Fenster verweht wurde. »Wenn er sich weiter so wie gerade verhält, wird es ihr garantiert das Herz brechen.«

Meine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. Eine Sache gibt es zumindest, die ich für Rory tun kann. »Wie würde es dir gefallen, wenn du ihm sagen könntest, was du von ihm hältst? Ohne wegen Ungehorsams verhaftet zu werden?«

Rory wirft mir einen kurzen Blick zu. »Wie soll das denn gehen?«

»Ich habe zufälligerweise eine Aufgabe zu erledigen, die mit deinem Vater und Gedankenmagie zu tun hat«, gestehe ich. »Willst du mitkommen?«

Sie grinst. »Ich müsste verrückt sein, mir die Gelegenheit entgehen zu lassen.«

Eine tückische dicke Eisschicht bedeckt die Kopfsteinpflasterwege, die dadurch eigentlich viel zu glatt sind, um zu Fuß zu gehen. Vielleicht hätten wir doch warten sollen, bis die Kutsche frei ist. Prasselnder Eisregen sticht mich in Nase und Wangen. Der Himmel ist sturmgrau wie Tess’ Augen.

Als Rory vor einem vierstöckigen Backsteinbau stehen bleibt, winkt uns ein Portier in schwarzer Livree herein. Auf dem Weg in den ersten Stock tropft der geschmolzene Eisregen von unseren Umhänge auf den weißen Marmorboden. Rory geht voran und klopft schließlich gegen eine schwere Eichentür. Eine prächtige goldene Tapete mit goldener Zierleiste schmückt den Flur. An diesem eleganten Ort fühle ich mich wie ein durchweichter Lappen, aber die Umhänge der Schwesternschaft verleihen uns hoffentlich ein wenig Seriosität. Ich bin nervös. Der Moment, bis Bruder Ishida die Tür öffnet, zieht sich unendlich lang hin. Er trägt schwarze Hosen und ein graues Hemd. Ich finde es merkwürdig, ihn ohne seinen offiziellen schwarzen Umhang zu sehen. Er sieht wie ein ganz normaler Mann aus, wie ein Vater, nicht wie ein Priester.

»Miss Elliott.« Er nickt kurz, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Ah, und Schwester Catherine. Guten Tag.«

Jetzt, da der Moment gekommen ist, scheint Rory der Mut verlassen zu haben. Sie bringt kein Wort heraus und starrt ihren Vater bloß an.

»Dürfen wir hereinkommen, Sir?«, frage ich. »Wir würden gerne mit Ihnen reden.«

»Sicher.« Er tritt zurück und verneigt sich. Unwillkürlich fasse ich mir an die Wange. Die Schnittwunde ist längst verheilt, und er wird sich nicht daran erinnern, mich wegen meiner Aufsässigkeit geschlagen zu haben. Dafür hat Tess gesorgt. Doch ich werde es niemals vergessen, ebenso wenig wie sein Gerede, das damit einherging. Er sagte, wenn es nach ihm ginge, würde er die Hexenverbrennungen wieder einführen.

Die Erinnerung bestärkt mich in meinem Entschluss.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Bruder Ishida übergeht die übliche Zeremonie und bedeutet uns, auf dem grünen Sofa Platz zu nehmen. Das Wohnzimmer ist sehr eindrucksvoll: Es gibt lauter Sofas und Sessel aus Samt, schwere Vorhänge aus Golddamast mit Blattmuster und glänzende Teetische aus Rosenholz mit geschwungenen Beinen in Schlangenform. Ein braun-goldener Orientteppich liegt auf dem Holzboden, und Gaslampen mit Goldfassungen leuchten hell und gleichmäßig gegen die Dunkelheit draußen an.

»Haben Sie Neuigkeiten von Sachi?«, frage ich.

»Sie ist im Gefängnis und erwartet ihre Verhandlung, wie es sich gehört«, sagt Bruder Ishida mit ausdrucksloser Stimme, während er sich in den Sessel uns gegenüber setzt.

»Wie es sich gehört?«, wiederholt Rory.

»Ganz genau.« Er sieht sie mit seinen schwarzen Marmoraugen an. »Sie ist eine Hexe. Sie verdient, welche Strafe auch immer der Rat von New London für angemessen hält.«

»Wissen Sie, wann die Verhandlung sein wird?«, frage ich.

»Samstag«, antwortet er.

»Haben Sie sie besucht? Geht es ihr gut?«, fragt Rory.

Bruder Ishida trommelt mit den Fingern auf den Drachenkopf, der in seine Armlehne geschnitzt ist. »Ich habe sie nicht gesehen und habe es auch nicht vor.«

Damit habe ich gerechnet, doch seine Kälte erschüttert mich trotzdem.

»Und Sie können sie einfach so aus Ihrem Herzen schneiden?« Rory schnippt mit den Fingern.

Bruder Ishida sieht sie widerstrebend an. »Es war nicht einfach, aber es ist der Wille des Herrn. In dem Moment, als Sachiko zum ersten Mal Magie praktizierte, hat sie ihrer Familie und der guten Gesellschaft den Rücken gekehrt. Sie ist eine Schande für den Namen Ishida, und ich werde …«

»Aber sie ist immer noch Ihre Tochter«, sagt Rory mit gereizter Stimme. »Gibt es denn nichts, was Sie für sie tun können? Um ihr zu helfen?«

»Unterbrechen Sie mich nicht.« Bruder Ishida zerrt mit den fleischigen Fingern an seinem Kragen. »Es gibt nichts, was ich tun könnte, selbst wenn ich es wollte. Und ich will es nicht. Ich habe Sachikos Namen aus unserem Familienbuch getilgt. Ich habe keine Tochter mehr.«

Rory gibt ein ersticktes Lachen von sich. »Oh doch.«

Eine schwarze Haarsträhne fällt Ishida in die Stirn, als er den Kopf schüttelt. »Nein. Ich habe Sachiko verstoßen. Es ist meine Pflicht …«

»Ich meine nicht Sachi«, sagt Rory leise. »Ich meine mich. Ich bin Ihre Tochter.«

Bruder Ishida erstarrt und blickt zu mir herüber. »Das ist lächerlich.«

»Ist es nicht. Sie haben meiner Mutter Geld gegeben, damit sie den Mund hält.« Rory sieht ihn herausfordernd an. »Ich bin Ihre Tochter.«

Bruder Ishida erhebt sich. Sein Gesicht ist rot vor Zorn, als er zu mir sagt: »Lydia Elliott ist eine gemeine Schlampe. Sie könnte mit einem halben Dutzend Männern verkehrt haben. Schwester Catherine, ich bitte Sie, nicht auf diesen Uninn zu hören.«

»Ist es denn Unsinn?«, frage ich mit im Schoß gefalteten Händen. »Es kursieren … Gerüchte, die das Gegenteil behaupten.«

»Das ist nichts weiter als böswilliger Tratsch!« Er wendet sich an Rory. An seiner Stirn ist eine Ader hervorgetreten. »Wie können Sie es wagen, hierherzukommen und sich am Kummer eines Vaters zu weiden? Was für ein intrigantes Mädchen Sie sind. Vielleicht wussten Sie ja, dass meine Tochter eine Hexe ist – haben sie sogar darin bestärkt und dachten, Sie könnten sich an ihre Stelle setzen. Als ob eine Person wie Sie jemals meine Sachiko ersetzen könnte! Sie hatten ihre Freundschaft noch nie verdient. Vielleicht waren Sie sogar diejenige, die sie überhaupt auf diesen gottlosen Weg gebracht hat!«

Rory zuckt noch nicht einmal mit der Wimper, obwohl er ihr praktisch direkt ins Gesicht schreit. »Wenn sie jemand zur Hexe gemacht hat, dann Sie. Ihre Großmutter war eine Hexe.«

Bruder Ishida packt Rory am Arm und zieht sie hoch. Davon wird sie sicher einen blauen Fleck bekommen. »Das ist Unsinn. Ich verbiete Ihnen, das zu wiederholen.«

»Was macht das schon für einen Unterschied?«, fährt Rory ihn an. »Sachi wird nach Harwood verbannt werden. Sie werden keine Enkelkinder bekommen. Ihre Blutlinie ist zu Ende – es sei denn, Sie haben noch einen anderen Bastard irgendwo.«

Bruder Ishida schlägt Rory so heftig ins Gesicht, dass sie aufs Sofa fällt und ihr Kopf beinah in meinem Schoß landet. Dabei ist sie gar nicht so klein wie Sachi. Er muss richtig kräftig zugeschlagen haben.

»Wie können Sie es wagen, so mit mir zu sprechen!«, brüllt er, und der Speichel fliegt ihm aus dem Mund. »Ich sollte Sie für Ihre Unverschämtheit verhaften lassen.«

Rory fasst sich an die Wange. »Sie haben nicht einen Funken väterliche Gefühle, oder?«

Ich stehe auf. »Rory ist jetzt eine Novizin der Schwesternschaft. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie davon absehen würden, Ihre Hand gegen sie zu erheben.« Meine eigene Kühnheit lässt mich erschauern.

»Wie bitte?« Bruder Ishida sieht mich verblüfft an. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Männer ihre Frauen oder Töchter schlagen. Die Bruderschaft predigt, dass Frauen sich ihren Vätern und später ihren Ehemännern zu unterwerfen haben.

»Sie sollten sich bei Rory entschuldigen«, fahre ich ihn an. Rory liegt immer noch auf dem Rücken und sieht ein wenig benommen aus. »Möchtest du deinem Vater noch etwas sagen, Rory?«

Das muss ich sie nicht zweimal fragen. Sie rappelt sich wieder auf. Ihr schwarzer Umhang sitzt schief, sodass ihr rotes Kleid darunter zu sehen ist. Ihre scharlachroten Schuhe sind durch den Schneematsch und das Salz ruiniert, ihre Haare zerzaust, und die rote Feder ist nass und verrutscht. Aber sie ist wunderschön, wie sie dasteht und sich vor ihrem Vater, der sie nie akzeptiert hat, aufbaut.

»Sie verachten mich«, sagt sie geradeheraus. Bruder Ishida schreckt zurück. Angst und Zorn zeichnen sich auf seinem Gesicht ab. »Sie tun so, als wären Sie ein Muster an Tugendhaftigkeit, aber was für ein Mann begeht Ehebruch? Was für ein Vater verstößt seine Kinder? Sie sind nichts weiter als ein scheinheiliger Lügner.«

»Wie können Sie es wagen, so mit mir zu sprechen!«, ruft Bruder Ishida und wirft sich auf sie. Doch Rory springt schnell zur Seite.

Die Gedankenmagie kommt fast von alleine. Sie durchfährt mich und springt aus meinen Fingerspitzen. Meine Aufmerksamkeit ist scharf wie ein Skalpell und von keinerlei Skrupeln beeinträchtigt. Ich befehle ihm, diese Szene zu vergessen und Finn Belastra in New London bleiben zu lassen, wo er der Bruderschaft bessere Dienste leisten kann.

Die darauf folgende Erschöpfung ist nichts, verglichen mit der Übelkeit nach dem Heilen. Ich schiebe sie beiseite und betrachte Bruder Ishida argwöhnisch.

Er stürzt auf einen der Teetische, der daraufhin scheppernd umfällt. Als Ishida sich wieder aufrichtet, sieht er Rory und mich verwirrt an. »Schwester Catherine? Was sagte ich gerade? Es tut mir leid, mir war kurz schwindelig.«

»Geht es Ihnen gut, Sir?« Ich versuche, den Triumph in meiner Stimme zu verhehlen.

»Ja, ja«, er nickt und beugt sich hinunter, um den Tisch wieder aufzustellen.

»Wir wollten gerade gehen. Noch einmal unser aufrichtiges Beileid wegen Sachi. Es tut uns wirklich leid um Ihren Verlust und falls unser Besuch Sie aufgebracht haben sollte«, sage ich, obwohl die Worte sich in meinem Mund wie Dreck anfühlen. »Wir müssen jetzt zurück, es gibt bald Abendessen bei der Schwesternschaft.«

»Sehr wohl. Danke für Ihr Kommen, Schwestern. Es tut mir leid, dass Ihr Vertrauen in Sachiko enttäuscht wurde. Ich habe mich auch in ihr getäuscht. Es ist der Wille des Herrn, dass wir sie verstoßen.«

Ich nehme Rorys Hand. »Ganz recht.«

Auf dem Flur lässt Rory sich gegen die goldene Tapete fallen und bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen. »Danke«, flüstert sie.

»Tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Du verdienst einen besseren Vater.«

»Jack war immer gut zu mir«, sagt Rory. »Ich bin froh, dass ich seinen Namen trage und nicht den dieses Ungeheuers.«

»Ich hoffe, dass Sachi niemals erfährt, was er über sie gesagt hat.«

»Von mir wird sie es nicht erfahren.« Rory verzieht das Gesicht. »Wir müssen ihr helfen, Cate. Ich kann es nicht zulassen, dass sie den Rest ihres Lebens in Harwood verbringt. Ihre Mutter wird niemals etwas gegen ihn sagen. Ich bin die einzige Familie, die sie noch hat.«

»Sie hat auch noch mich«, erkläre ich. »Und die gesamte Schwesternschaft, um mal für alle zu sprechen.«

Rory hat an der Wange eine kleine Schnittwunde vom Ring ihres Vaters. Ich rufe meine magischen Kräfte an und berühre Rory vorsichtig mit den Fingerspitzen. »Halte still.«

Rory fasst mich am Arm, als ich ins Schwanken gerate. »Du bist unglaublich, Cate Cahill, weißt du das eigentlich? Ich … ich hätte nie gedacht, dass du mich so magst. Normalerweise mögen die Leute mich nämlich nicht, sondern geben sich nur wegen Sachi mit mir ab. Bei dir habe ich das Gefühl, dass es ehrlich gemeint ist.«

Oh. Auch ich habe mich bloß mit Rory angefreundet, weil das Sachis Voraussetzung war – Sachi gab es nur mit Rory zusammen –, und ihre glühende Überzeugung hielt mich davon ab, Rory zu kritisieren. Aber im Stillen habe ich sie dafür verurteilt, dass sie immer so laut ist, so gewagte Kleider trägt, für ihre betrunkene Mutter, ihre Impulsivität. Sie hat Schreckliches mitmachen müssen, doch statt mich in ihre Lage zu versetzen, habe ich auf sie herabgesehen, weil sie Trost in ein paar Schlucken Sherry und den Armen eines Schafskopfs wie Nils Winfield suchte. Und am Schlimmsten daran ist, dass ich ihr nicht zugetraut habe, meine ablehnende Haltung ihr gegenüber überhaupt zu bemerken.

Vor Scham bin ich wie erstarrt.

»Ich mag dich«, beteuere ich, und dabei wird mir bewusst, dass ich es tatsächlich so meine. »Du bist mutig genug zu sagen, was du denkst. Du stehst zu den Menschen, die dir etwas bedeuten, auch wenn es nicht leicht ist, so wie bei Brenna. Und es ist dir völlig gleichgültig, was die Leute von dir denken.«

Rory strahlt über das ganze Gesicht, so sehr freut sie sich über meine Worte. »Das Letzte stimmt nicht. Aber danke, trotzdem. Niemand hat sich jemals so für mich eingesetzt, außer meiner Schwester.«

Ich grinse sie blöd an. »Du kannst dich ja erkenntlich zeigen, indem du mir zeigst, wo Finns Zimmer ist.«

»Gleich hier.« Rory deutet auf die Tür gegenüber. »Warum?«

»Hältst du kurz Wache für mich? Huste, wenn jemand den Flur betritt. Ich will ihm eine Nachricht hinterlassen.«

»Kein Problem, für solche Dummheiten bin ich immer zu haben«, sagt Rory und stellt sich am Ende des Flurs auf. Ich werde von Zuneigung für sie erfasst. Gott sei Dank, dass sie keine Fragen stellt oder mich verurteilt, weil ich mich in das Zimmer eines Mannes stehle.

Ich lege die Hand auf den goldenen Türknauf und spreche einen stillen Zauber, woraufhin die Tür sich öffnet. Finn hat kein beeindruckendes Wohnzimmer, nur ein Schlafzimmer mit einem kleinen Schreibtisch in der Ecke, auf dem ein Stapel Bücher liegt. Über der Stuhllehne hängt ein schwarzer Umhang, und vor dem Kamin stehen ordentlich aufgereiht ein Paar Stiefel. Das Himmelbett ist nicht gemacht, das zerknitterte Laken schlingt sich um die dicke grüne Federbettdecke.

Ich stelle mir vor, wie Finn in sein Zimmer zurückkehrt, seine schwere Winterkleidung ablegt und ins Bett schlüpft. Ob er nachts wach liegt und an mich denkt, so wie ich an ihn?

Ich spüre, wie ich rot werde, und wende mich wieder dem Tisch zu. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier, ich habe keine Zeit, herumzutrödeln und darüber nachzudenken, wie er wohl im Schlaf aussieht. Auf dem Tisch liegen ein Füllfederhalter und ein Stapel Pergamentpapier. Das oberste Blatt ist offenbar ein Brief an Finns Mutter, den er noch nicht beendet hat. Ich weiß, dass sich das nicht gehört, aber ich kann nicht anders, als die ersten Zeilen zu überfliegen:

Ich habe mich auf eine Stelle als Schreiber hier in New London beworben. Ich hoffe, du kannst es verstehen. Ich werde Dich und Clara natürlich vermissen, aber mein Herz schlägt gerade für diese Stadt, und außerdem denke ich, dass ich hier gute Arbeit verrichten kann, Arbeit, die du sicherlich gutheißen würdest …

Mein Herz schlägt für diese Stadt – meint er damit mich? Sein Herz schlägt für mich? Ich muss grinsen. Ich nehme den Füllfederhalter und ziehe ein leeres Blatt unter dem Brief hervor.

Komm morgen um vier in den Richmond Square Garden. Du fehlst mir.

Zögernd beiße ich in das Ende des Federhalters, dann setze ich darunter: In Liebe, C.