Kapitel 5
Am nächsten Morgen klopft es noch vor dem Frühstück an unsere Zimmertür, und Schwester Gretchen steckt den Kopf herein und sieht mich an. »Es gibt ein Problem unten. Können Sie mit mir mitkommen?«
Ich lasse meine Haarbürste auf das ungemachte Bett fallen. Erstaunlich, wie viel fröhlicher ich bin, seit ich mich mit Finn ausgesöhnt habe. Und wenn tatsächlich die Möglichkeit besteht, dass er in New London bleibt und wir uns öfter sehen können …
»Natürlich. Was gibt es denn?«
Gretchen blinzelt mich gegen das helle Licht an, das durch die gelben Vorhänge dringt. »Da ist ein Mädchen, das darum bittet, in die Schwesternschaft aufgenommen zu werden. Miss Elliott. Sie sagt, sie sei eine Freundin von Ihnen?«
Ich nehme ein paar Nadeln vom Frisiertisch und drehe meine Haare auf, während ich mich zum Gehen wende. »Rory«, sage ich mit den Nadeln im Mund. Tess rügt mich immer dafür, wenn ich das tue. Sie sagt, eines Tages werde ich mich noch an den Nadeln verschlucken. Ich muss lächeln. Maura und sie müssten bald hier sein, vielleicht schon morgen.
»Ist sie eine geeignete Kandidatin?«, fragt Schwester Gretchen.
Ist sie eine Hexe, meint sie.
Aber ist das in Rorys Fall ausreichend?
»Ja und nein«, sage ich. Gretchen und ich poltern die Treppenstufen hinunter, zusammen mit Dutzenden anderer Mädchen, die auf dem Weg zum Frühstück sind. »Sie ist eine Hexe, aber sie ist unbeständig.«
Schwester Gretchen sieht mich unbeeindruckt an. »Waren wir das nicht alle einmal?« Sie winkt mich in den Salon. »Sie ist hier, mit Cora.«
Schwester Cora sitzt auf dem olivefarbenen Sofa. Ihr Gesicht ist blass, unter den blauen Augen liegen tiefe, dunkle Schatten. Rory geht unruhig vor dem kalten Kamin auf und ab. Als ich eintrete, wirbelt sie zu mir herum. Ihre Augen sind gerötet, und das schwarze Haar fällt aus dem Knoten. Sie trägt ein ungewöhnlich sittsames Kleid – eine dunkelgrüne, aufgeplusterte Abscheulichkeit aus Taft.
»Cate! Du musst mir helfen.« Sie umklammert mein Handgelenk mit kalten Fingern.
»Was ist denn los? Geht es um Sachi?« Ihr Verbrechen – Rorys Verbrechen – war zwar unerhört, aber es wird doch wohl wenigstens eine Verhandlung geben.
»Es geht um meinen Vater.« Das Wort klingt giftig aus Rorys Mund. »Jetzt, wo Sachi verhaftet ist, kann er es gar nicht abwarten, mich loszuwerden. Er schickt mich nach Hause. Ich soll morgen früh abreisen.«
Ich rücke eine mich piksende Haarnadel zurecht. »Na ja, das ist wahrscheinlich auch das Beste. Du willst doch sicherlich nicht mehr Zeit mit ihm verbringen als unbedingt nötig.«
»Erwartest du ernsthaft, dass ich nach Hause fahre und Nils heirate, als wäre nichts passiert?« Rory weicht zurück, als hätte ich sie geohrfeigt. »Das ist alles meine Schuld, Cate!«
Sie läuft zum Fenster. Die weinroten Vorhänge werden von braunen Seidenschleifen zur Seite gehalten. Ich blicke auf die leere Straße hinaus, um mich zu beruhigen. »Dann mach es nicht noch schlimmer. Sachi wollte, dass du in Sicherheit bist, und du kannst hier eh nichts für sie tun. Fahr nach Hause und mach nicht noch mehr Dummheiten.«
Rory lässt sich auf den braunen Seidensessel fallen und vergräbt das Gesicht in den Händen. »Ich will es aber wieder gutmachen. Ich will gut sein. Und ich glaube, ich könnte es auch, nur muss ich ständig daran denken, wie Vater immer auf mich herabgesehen hat und dass er mich nie für gut genug gehalten hat, um mit Sachi befreundet zu sein, und … dann werde ich so wütend, dass ich am liebsten alles um mich herum zertrümmern würde. Vielleicht könnte ich ihm verzeihen, wie er mich behandelt hat, wenn er Sachi wenigstens ein guter Vater wäre, aber er hat sie verstoßen! Er hat gesagt, er hätte keine Tochter mehr.«
Während ihm seine andere Tochter dabei ins Gesicht gesehen hat. Bruder Ishida ist wirklich grausam.
»Ich ertrage es nicht, ihn zweimal in der Woche in der Kirche zu sehen. Ich kann nicht in der gleichen Stadt leben wie er!« Rory presst sich heftig atmend die Faust gegen den Mund. »Du musst mir helfen, Cate. Bitte. Ich kann nicht zurück nach Chatham.«
Ich werfe einen Seitenblick auf Schwester Cora, aber ihr Gesicht ist ausdruckslos. Ich sehe an die Decke, suche nach den richtigen Worten, und bemerke den beeindruckenden Stuck aus Weinreben und dicken Trauben. Es ist mir noch nie aufgefallen, aber er passt wirklich gut zu der scheußlichen lila- und olivefarbenen Weintraubentapete. Ob die Person, die diesen Raum ursprünglich eingerichtet hat, wohl im Sinne hatte, den Menschen hier drin das Gefühl zu geben, möglichst schnell wieder fortzuwollen? »Ich kann verstehen, dass du aufgebracht bist, Rory, aber du darfst jetzt nichts überstürzen. Erst gestern Abend sagtest du noch, du wollest nichts lieber als Mutter werden. Hat sich das etwa geändert?«
Rory sieht mich ruhig an. »Alles hat sich geändert. Ich will die Schwester sein, die Sachi verdient. Falls – wenn – sie da wieder rauskommt, will ich, dass sie stolz auf mich sein kann.«
Oh. Die Tatsache, dass sie nicht abstreitet, was sie getan hat, dass sie nicht versucht, sich herauszureden, lässt mich besser von ihr denken. Ich fühle mich auf einmal schuldig, weil ich so kühl bin, aber ich werde sie nicht verzärteln. Wenn ich mich für sie verbürgen soll, muss ich sichergehen können, dass sie keine Gefahr für mich oder die Schwesternschaft und die anderen Mädchen im Kloster darstellt.
»Können wir darauf vertrauen, dass Sie nicht wieder die Kontrolle verlieren?«
Rory und ich sehen Schwester Cora an, die offensichtlich verstanden hat, was gestern Abend wirklich passiert ist.
»Die Schwesternschaft ist eine Zufluchtsstätte für Dutzende von Mädchen«, fügt sie hinzu. »Wir können uns nicht von Ihnen in Gefahr bringen lassen.«
»Eine Zufluchtsstätte für …«, wiederholt Rory langsam, und ich kann regelrecht sehen, wie es in ihren Gehirnwindungen arbeitet. Sie blickt zwischen Cora und mir hin und her. »Hexen? Alle? Aber das ist doch perfekt! Ich würde eine schreckliche Nonne abgeben.«
»Aber du musst so tun können, als ob du eine wärst«, gebe ich zu bedenken.
Rory sieht mich mit ungeduldigen Hundeaugen an. »Ich werde gut sein, ich schwöre es! Ich bin mit Sachi groß geworden, nicht wahr? Ich weiß mich zu verstellen, wenn es sein muss. Ich kann es, Cate. Ich weiß, dass ich es kann.«
Ich blicke zu Schwester Cora, die vollkommen reglos dasitzt und noch nicht einmal mit den Augenlidern zuckt. Es ist unmöglich zu sagen, was sie gerade denkt. »Lass mich kurz mit Schwester Cora allein sprechen, Rory. Du kannst auf dem Flur warten.«
Rory zieht an ihrem scheußlichen grünen Kleid. »Ich weiß, was ich getan habe, und ich werde es mir selbst niemals verzeihen. Wenn ich mit Sachi tauschen könnte, würde ich es sofort tun. Aber da ich es nicht kann … ich muss wenigstens in ihrer Nähe sein. Und weit weg von meinem Vater. Gib mir diese Chance. Lass mich beweisen, dass ich ein besserer Mensch sein kann, Cate, bitte.«
Ich nicke, und Rory stapft hinaus auf den Flur. Ihr munterer, hüftschwingender Gang gehört der Vergangenheit an. Sie lässt den Kopf hängen, als wäre sie selbst auf dem Weg ins Gefängnis.
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, setze ich mich neben Schwester Cora aufs Sofa. Ich möchte, dass sie mich als ebenbürtig betrachtet, nicht als demütig bettelnde Schülerin. Ich möchte in dieser Angelegenheit mitreden können.
»Miss Elliott und das Mädchen, das gestern Abend verhaftet wurde, sind also Schwestern?«, fragt sie.
»Halbschwestern. Rory ist ein uneheliches Kind.«
»Sie war es, die den Bewegungszauber vollführt hat? Und sie lässt ihre Schwester die Schuld dafür auf sich nehmen?« Cora hebt missbilligend die weißen Augenbrauen.
»Rory wollte sich stellen, aber ich habe sie zurückgehalten. Ich habe keinen Sinn darin gesehen, dass sie beide verhaftet werden«, erkläre ich. »Rory hatte kein einfaches Leben. Ihre Mutter ist eine Säuferin, und sie selbst trinkt auch regelmäßig Sherry. Und diese verrückte Seherin, Brenna Elliott, ist ihre Cousine.«
»Interessant. Vielleicht kann sie uns mehr über Brenna erzählen.« Schwester Cora mustert mich mit ihren blauen Augen. »Du willst sie wegschicken?«
Ich erwidere ihren Blick und hebe das Kinn. »Im Gegenteil, ich denke, wir sollten sie aufnehmen.«
»Warum?« Cora trommelt mit den Fingern auf die geschwungene Armlehne aus Mahagoni. Sie trägt fast ein Dutzend Silberringe an den Händen. »Du hast gerade erdrückende Gründe dagegen angeführt.«
»Aber wir sind es Rory schuldig. Die Schwesternschaft besteht doch, damit Hexen wie sie lernen, ihre magischen Kräfte zu kontrollieren, oder nicht? Einer der Gründe dafür, dass sie sich so leichtsinnig verhält, ist ja der, dass sie gar keine Hexe sein will. Sie weiß nicht, was sie mit ihren Fähigkeiten anstellen soll. Und der andere Grund ist, dass sie … dass sie nie das Gefühl hatte, irgendwohin zu gehören, außer zu Sachi.« Ich verstehe es selbst erst, während ich so vor mich hin rede. »Wir könnten ihr helfen.«
Schwester Cora erhebt sich und zuckt vor Schmerzen zusammen, bevor sie nach ihrem Stock greift. »Es ist ein Risiko.«
»Ich weiß.« Rory hat ihre Fehler, aber die habe ich auch. Auch meine Schwestern haben ihre Fehler. Und Rorys Fehlverhalten war bloß eine öffentliche Variante dessen, was Maura getan hat, nachdem Elena sie verraten hatte.
Ich runzle die Stirn, als ich mich an den Abend erinnere, ehe ich Chatham verließ: Maura war ein Wirbelwind aus Liebeskummer, der alles, was sich ihm in den Weg stellte, zerstörte.
Ich würde meiner Schwester eine zweite Chance geben wollen.
»Sie sagte, sie sei verlobt«, gibt Schwester Cora zu bedenken. »Wenn sie ihre Absichtsbekundung bricht, würde das Aufmerksamkeit erregen.«
Als auch ich mich erhebe, schwingen meine grauen Röcke um mich. »Bruder Winfield wäre froh, sie loszuwerden. Wir könnten Sachis Verhaftung als Auslöser für ihren plötzlichen religiösen Eifer anführen. Die beiden waren schon immer unzertrennlich.«
Cora schürzt nachdenklich die Lippen. Von der Wand hinter ihr starren mich drei ehemalige Schulleiterinnen anklagend aus ihren mit Goldschnitt versehenen Rahmen an. »Bist du sicher, dass du das willst?«
Ich nicke. »Wenn wir die Mädchen, die uns am meisten brauchen, fortschicken, nur um unsere eigene Haut zu retten, wozu ist die Schwesternschaft dann gut?«
Cora lächelt. »Deine Neigung zur Heilkunst, deine Entscheidung in dieser Frage, wie rasch du nach deinen Schwestern geschickt hast trotz der damit für dich verbundenen möglichen Gefahr, das alles spricht sehr für dich.«
Ich halte Cora zurück, als sie zur Tür hinkt, denn in einem Punkt muss ich sie korrigieren. »Es war kein Opfer, nach Maura und Tess zu schicken. Sie würden mich niemals verletzen.«
Schwester Coras Mund zuckt mitleidig. »Das hoffe ich sehr, Catherine. Wirklich.«
Die Kutsche macht einen Ruck, als wir von der viel befahrenen Straße nach New London abbiegen, um den Hügel in Angriff zu nehmen, hinter dem die Harwood-Heilanstalt für geisteskranke Kriminelle liegt. Es hat angefangen zu schneien. Kleine Graupelkörner springen gegen die Fensterscheiben. Ich schiebe den Vorhang zur Seite, drücke das Gesicht gegen das beschlagene Glas und beobachte, wie die gefrorene Landschaft an uns vorbeizieht. In der Nähe eines halb mit Eis überzogenen Teichs liegen Kühe auf der matschigen Weide. Einen Augenblick später hält Robert die Kutsche an, um einen Bauern mit einer Herde zotteliger brauner Ziegen die Straße überqueren zu lassen. Es ist schön, aus der Stadt herauszukommen – oder es könnte schön sein, wenn ich unser Ziel vergessen könnte.
Wir sitzen zu fünft im Wagen: fünf weite schwarze Bombasinröcke, fünf Paar Hände, in die gleichen schwarzen Pelzmuffe gesteckt, fünf Paar schwarzer geknöpfter Stiefel, die wir auf dem eisigen Holzboden der Kutsche auf Wärmflaschen gestellt haben. Unsere Verkleidung ist an diesem Tag wichtiger denn je.
Schwester Sophia zieht sich die Kapuze über die schwarzen Locken, und wir folgen ihrem Beispiel. Wir müssen gleich da sein. Mir ist ganz flau im Magen.
»Guter Gott, bin ich nervös«, platze ich heraus, und gleich darauf schießt mir das Blut in den Kopf. Was für eine Anführerin gibt zu, dass sie Angst hat?
Doch die anderen Mädchen nicken. Mei drückt meinen Arm und sieht mich mit ihren dunklen Augen mitfühlend an. »Als ich das erste Mal hierhergekommen bin, hatte ich schreckliche Angst. Das ist nichts, wofür du dich schämen müsstest.«
»Mit der Zeit wird es einfacher.« Addie schiebt sich die Brille die lange Nase hoch. »Anfangs habe ich mich noch darüber aufgeregt, wie die Mädchen behandelt werden. Aber es hilft nichts. Jetzt versuche ich einfach, es etwas erträglicher für sie zu machen.«
Sogar die schüchterne Pearl, die so gut wie nie etwas sagt, lächelt mich aufmunternd an. Sie hat furchtbar hervorstehende Zähne, was ihr durchaus bewusst ist, denn Alice macht sich ständig darüber lustig.
Die drei kommen jede Woche mit Schwester Sophia hierher. Ich staune über ihren Mut. Machen sie sich gar keine Sorgen, dass sie die Anstalt eines Tages vielleicht nicht mehr verlassen dürfen?
Denn das ist es, was mich am meisten an diesem Besuch beunruhigt. Nicht die Angst, dass Zara nicht mit mir reden könnte, oder das Leiden der Mädchen zu sehen, an deren Stelle ich sein könnte, wenn die Schwesternschaft vor ein paar Wochen nicht eingegriffen und Tess keine Gedankenmagie angewendet hätte. Nein, ich habe Angst, dass eine Alarmglocke ertönt, die die Anwesenheit einer Hexe verkündet, wenn wir jetzt durch die drohend vor uns aufragenden Tore fahren und ich dann für immer hier bleiben muss.
Es ist verrückt, absichtlich hierherzukommen. Ich kann nichts dagegen tun, dass diese unbeschreibliche, abergläubische, panische Angst mir durch die Adern jagt und meinen ganzen Körper zu Eis erstarren lässt.
Schwester Sophia legt ihre warme Hand auf die meine, und die Übelkeit lässt nach. »Beruhig dich, Cate«, murmelt sie. »Du wirst keinem der Mädchen helfen können, wenn du in dieser Verfassung dort hineingehst.«
Sie ist so viel mutiger als ich. Und auch Addie und Pearl und Mei, die jede Woche wieder hierherkommen. Wenn Cora nicht vorgeschlagen hätte, dass ich mit Zara rede, wäre ich dann freiwillig mit auf eine Heilmission gegangen? Oder hätte ich mich dahinter versteckt, die verkündete Hexe zu sein, diejenige, die nicht in Gefahr gebracht werden darf, und weiter andere an meiner Stelle gehen lassen, obwohl meine Gabe, was das Heilen angeht, alle anderen übertrifft? Ich habe geübt, und auch wenn das Heilen mich schwächt und mir übel davon wird, gibt es mir eine Befriedigung wie keine andere Art der Magie es bisher vermochte. Ich bin gut darin. Besser als jede andere in der Klosterschule.
Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in etwas die Beste.
In etwas Nützlichem jedenfalls.
Die Kutsche hält vor einem gewaltigen schmiedeeisernen Tor, auf dem HARWOOD HEILANSTALT steht. Hoher Stacheldrahtzaun erstreckt sich zu beiden Seiten.
Robert wechselt ein paar Worte mit dem Wachmann. Währenddessen erhasche ich einen ersten flüchtigen Blick auf das monströse Gebäude auf dem seichten Hang. Es ist ein bedrohliches dreistöckiges Haus aus grauen, von der Witterung gezeichneten Steinen. An beiden Enden des zweiflügeligen Gebäudes stoßen riesige Schornsteine Rauchwolken in den blassen Himmel. Vor den meisten Fenstern befinden sich Eisengitter, manche sind sogar zugemauert.
Wieder kommt die Kutsche zum Stehen. Robert hilft uns einer nach der anderen hinunter auf den vereisten Weg. Meine Hände im Pelzmuff sind zu Fäusten geballt. Wir folgen Schwester Sophia wie vier verängstigte Entenküken.
Noch ehe wir läuten können, öffnet uns eine Vorsteherin mit weißer Schürze die Tür. Die Haare über ihrer faltigen Stirn sind grau und gewellt. Sie hat eine Knollennase und gerötete Wangen. »Schwestern, der Herr segne Sie für Ihr Kommen.«
»Es ist unsere Pflicht, denen, die weniger mit Glück gesegnet sind, beizustehen«, sagt Schwester Sophia.
»Dank sei dem Herrn«, murmelt die Vorsteherin und winkt uns hinein. »Kommen Sie, kommen Sie, raus aus der Kälte. Wie üblich der Saal mit den Aufsässigen zuerst?«
Nachdem wir zwei Stockwerke emporgestiegen sind, bleiben wir vor einer großen Tür stehen, die den gesamten Südflügel abriegelt. Die Vorsteherin nimmt einen Messingschlüssel von einer Kette um ihren Hals und dreht ihn im Schloss. Als sie die Tür aufstößt, verschränke ich die Hände auf dem Rücken, damit sie aufhören zu zittern.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe – ein Tollhaus von schreienden und fluchenden Mädchen, ärgerliches Schimpfen und verzweifelte Hilferufe? –, aber es ist totenstill wie auf einem Friedhof. Die Gesichter, die sich uns zuwenden, sind leer, die Augen gefühllos. Es lässt mich frösteln.
Der Raum ist in Dunkelheit gehüllt, keine Kerzen oder Gaslampen spenden Licht. Unwillkürlich rümpfe ich die Nase – es riecht nach einer Mischung aus Nachttopf und grober Laugenseife. Zwei Reihen Betten stehen auf beiden Seiten des langen Ganges, an dessen Ende ein erloschener Kamin in die Wand eingelassen ist. Ein Feuer wäre hier wahrscheinlich ein zu großes Wagnis. Trotz der Wärme, die mein Umhang spendet, ist mir kalt.
Die Frauen hier müssen unglaublich frieren. Sie tragen dünne weiße Blusen und derbe braune Röcke aus Sackleinen, die aussehen wie Mehlsäcke. Ein paar haben sich raue Wolldecken um die Schultern geschlungen. Die Mädchen sind dünn und hohlwangig, als wenn sie nicht genug zu essen bekämen. Sie haben verfilzte Haare, dreckige Gesichter und Flecken auf den Blusen.
Die zwei neben der Tür sitzenden Krankenschwestern erheben sich, und die etwas Dralle stöhnt, als ihre Knie knirschen. »Seht doch, Mädchen, die Schwestern sind hier, um vor dem Tee mit euch zu beten!«
Die Mädchen blicken uns kurz an, dann wenden sie sich, ohne das geringste Interesse zu zeigen, wieder ab. Unsere Ankunft durchdringt ihren Nebel kaum.
Schwester Sophia hat mich vorgewarnt. Die Patientinnen werden mit Laudanum ruhiggestellt, das ihrem Tee zugesetzt wird. Das Laudanum verhindert, dass die echten Hexen sich genug konzentrieren können, um Magie zu praktizieren, und sorgt dafür, dass die anderen ruhig und gehorsam sind.
Ich bin es gewöhnt, dass Frauen sich ruhig und gehorsam verhalten. Aber inzwischen habe ich begriffen, dass es bei vielen bloß eine Fassade ist. Doch dies hier ist etwas vollkommen anderes. Vor lauter Wut kann ich mich überhaupt nicht mehr rühren und bleibe wie angewurzelt stehen. Reicht es nicht, dass die Brüder diese Frauen ihren Familien entrissen und sie dazu verdammt haben, den Rest ihres Lebens fernab von zu Hause in einem elenden Gefängnis zu verbringen? Sie haben ihnen außerdem auch noch die Fähigkeit zu denken und zu entscheiden genommen, ihre Fähigkeit zu kämpfen.
»Schwestern!« Ein Mädchen, dünn wie eine Bohnenstange, stürzt auf uns zu und fällt Schwester Sophia vor die Füße. »Ich bin sehr böse. Ich fürchte, ich kann nicht mehr gerettet werden.«
»Steh auf, Kind«, sagt Schwester Sophia. »Du musst zum Herrn beten, damit er dir hilft.«
Das Mädchen schüttelt den Kopf, die blauen Augen voller Verdruss. Seine Haut sieht krank aus, als hätte es die Gelbsucht. »Er hört mich nicht. Ich bin verloren. Ich bin ein böses, böses Mädchen.«
»Der Herr hört alle seine Kinder.« Schwester Sophia geht in die Hocke, ihr rundliches Gesicht ist weich und mitfühlend. »Wie heißt du?«
Das Mädchen kauert sich auf den Boden, das dunkle Haar fällt ihm ins Gesicht. »Stella. Oh, Schwester, bitte. Der Herr kommt in meinen Träumen zu mir, und ich bitte ihn jedes Mal um Vergebung, aber er spricht nicht mit mir.«
»Das sind Wahnvorstellungen von deiner Medizin, du Dummkopf«, bellt die dünne Krankenschwester sie an. Das Haar unter ihrer gerüschten weißen Haube sieht kraftlos und fettig aus. »Bösen Mädchen erscheint der Herr nicht.«
Schwester Sophia steht auf und zieht Stella mit sich. »Komm, setz dich zu mir, Stella. Wir beten zusammen.«
»Sie sind zum ersten Mal hier, oder?«, fragt mich die dicke Krankenschwester, als ihr auffällt, wie ich Addie beobachte, die sich neben das Krankenbett eines Mädchens mit zimtfarbenen Korkenzieherlocken kniet. Das Mädchen liegt vollkommen reglos auf dem Rücken und starrt an die Decke. »Die da war eine richtige Furie, als sie herkam. Hat die Vorsteherin gebissen und gekratzt. Kann man sich gar nicht vorstellen, was? Die würde keiner Fliege mehr was zuleide tun«, sagt sie lachend, und ihr Speichel trifft mich an der Wange. Ich muss mich zusammenreißen, ihn nicht sofort abzuwischen.
Sie deutet auf ein blondes Mädchen, das gerade vor Pearl einen Knicks macht. »Die da sagt, sie ist mit einem Prinzen verlobt! Macht sich immer noch die Haare schön, für den Fall, dass er sie besuchen kommt.«
»Sie dürfen keinen Besuch empfangen, oder?«
Am Ende der Reihe schlafen mehrere Mädchen zusammengerollt unter schäbigen braunen Decken.
Die Krankenschwester schüttelt den Kopf, sodass ihr Doppelkinn wackelt. »Oh nein, es ist das Beste, man hält sie von den normalen Leuten fern. Besonders die Mädchen hier oben. Die haben sich mit Händen und Füßen gewehrt, als sie eingeliefert wurden, und anfangs ihren Tee verweigert. Die kriegen jetzt Extramedizin. Davon bekommen ein paar von ihnen lustige Wahnvorstellungen, aber die meisten sind mucksmäuschenstill.«
Ich gebe mir Mühe, mir mein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Mei geht die zweite Reihe von Betten entlang und ergreift die Hände von einem hübschen indisch aussehenden Mädchen, das sich zu einer Musik vor und zurück wiegt, die offenbar nur in seinem Kopf existiert. Als sie sich Mei zuwendet, sehe ich, dass sie ein blaues Auge hat und eine Platzwunde an der Wange.
»Was ist mit ihr passiert?«
»Oh, das ist eine von Bruder Cabots Lieblingen. Macht normalerweise nicht mehr so einen Ärger.«
»Eine von seinen … Lieblingen?«, wiederhole ich unsicher.
»Er mag die Hübschen« sagt die Krankenschwester und zwinkert mir zu.
»Ist das … üblich?«, frage ich. Ich muss an die hübsche Mina Coste denken und Jennie Sauter und all die anderen Mädchen aus Chatham, die hierhergebracht wurden.
»Nun, er ist nicht der Einzige, der regelmäßig zur Untersuchung vorbeikommt. Die Vorsteherin davor wollte es beenden, wissen Sie, und hat deswegen ihre Anstellung verloren. Es ist besser, sich nicht einzumischen.«
Ich zucke zusammen, als sich auf einmal scharfe Fingernägel in mein Handgelenk krallen.
»Sarah Mae«, schimpft die Krankenschwester. Ein sommersprossiges Mädchen, kaum älter als dreizehn Jahre, starrt mich mit zusammengekniffenen grünen Augen an. Der Saum ihres Kleides ist voller Matsch, und ihr Gesicht ist dreckverschmiert. Das braune Haar ist voller Blätter. »Sieh dich nur an. Was hast du auf deinem Gesundheitsspaziergang bloß schon wieder gemacht?«
»Ich habe eine Beerdigung geleitet«, sagt sie. »Beten Sie mit mir, Schwester?«
»Äh … sicher. Ich …«
Doch die Krankenschwester sieht sie missbilligend an. »Na, aber nicht in diesem schändlichen Zustand, Fräulein! Nur saubere Mädchen dürfen mit der netten Schwester reden«, erklärt sie, während sie mich auch schon die Reihe weiter drängt. »Die liebt Tiere. Vergräbt tote Vögel, wenn sie welche findet. Richtig unheimlich.«
Auf einmal gibt es lautes Geschrei, als die Tür aufgeht und die Vorsteherin mit einem Teewagen hereinkommt. »Teestunde, Mädchen!«, verkündet sie lächelnd. »Stellt euch auf!«
Mehrere junge Frauen stürzen nach vorn.
»Sie müssen ja am Verhungern sein.« Dabei ist doch gar nichts zu essen auf dem Wagen.
Die Krankenschwester schüttelt den grauen Lockenkopf. »Sie bekommen zwei Mahlzeiten am Tag, Haferbrei zum Frühstück und ein warmes Abendessen. Was diese Mädchen wollen, ist ihr Tee.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch, und sie lacht wieder leise in sich hinein. »Manche kriegen ’nen richtigen Tatterich ohne.«
»Verstehe.« Die Mädchen nehmen sich alle eine Tasse und halten sie der Vorsteherin hin, damit sie gefüllt wird – nicht aus einer Teekanne, sondern aus einer großen, dampfenden Suppenterrine. Manche wölben die Hände um die warme Tasse und sehen erst für einen Augenblick apathisch hinein, während andere sofort gierig zu schlürfen beginnen. Die Vorsteherin und die dünne dunkelhaarige Krankenschwester beäugen die Mädchen.
»Trink aus, Mercedes«, schilt die Vorsteherin, und die junge Frau setzt gehorsam die Tasse an und schluckt.
»Wenn wir nicht aufpassen, versuchen manche, den Tee anderen zu geben oder ihn in den Nachttopf zu schütten«, erklärt die Krankenschwester. »Hinterlistige Biester.«
Während sie fortfährt, über diese und jene Patientin zu lästern, beobachte ich die Mädchen am Ende der Reihe. Ein paar versuchen, sich irgendwie davor zu drücken, den Tee zu trinken, doch vergeblich. Eine Frau lässt ihre Tasse zu Boden fallen, woraufhin die Vorsteherin sie ohrfeigt und ihr eine neue Tasse gibt. Ein kleines blondes Mädchen hält zwar seine Tasse in den Händen, weigert sich aber zu trinken und starrt nur vor sich hin, als die Vorsteherin es ermahnt, keinen Ärger zu machen. Schließlich nickt die Vorsteherin der dünnen Krankenschwester zu, die daraufhin dem Mädchen die Nase zuhält. Als das Mädchen nach Luft schnappt, gießt ihm die Vorsteherin den Tee einfach in den Mund. Das Mädchen würgt und hustet – und schluckt.
»Wir müssen weiter zum nächsten Saal«, ruft Schwester Sophia, die bereits in der Tür steht.
Ich sehe mich noch einmal um und präge mir das Elend ein. Und dann mache ich mir selbst ein Versprechen. Ich werde diesen Mädchen helfen. Sie werden nicht für den Rest ihres Lebens hierbleiben – dafür werde ich sorgen.
Auf dem Flur fasst Schwester Sophia mich am Ellenbogen. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie, und ich nicke. Ob mir anzusehen ist, wie entsetzt ich bin? »Ich gehe mit Pearl und Addie ins Krankenzimmer im Erdgeschoss. Wie wäre es, wenn du mit Mei in den ersten Stock gehst, und wir treffen uns dann später unten? Mei kann den Nordflügel übernehmen, und du gehst in den Südflügel.«
Mir schwirren so viele Fragen durch den Kopf. Woran soll ich Zara erkennen? Wird sie mich erkennen? Sie muss ja noch einigermaßen bei Verstand sein, schließlich hat sie mir erst diesen Herbst jenen Brief geschrieben, in dem sie mich gedrängt hat, das Tagebuch meiner Mutter zu suchen. Wie stark steht sie wohl unter dem Einfluss von Medikamenten? Kann sie überhaupt klar genug denken, um uns zu helfen, selbst wenn sie es wollte?
Gleich hinter der Tür zum Südflügel sitzt eine große, derbe Krankenschwester emsig über ihr Strickzeug gebeugt und hält Wache. Als sie mich kommen sieht, macht sie sich noch nicht einmal die Mühe, von ihrem Stuhl aufzustehen. »Die meisten Mädchen sind bei der Arbeit, Schwester.«
»Bei der Arbeit?«, frage ich. »Zu was für einer Art von Arbeit sind sie denn überhaupt in der Lage?«
»Ah, Sie sind wahrscheinlich die Neue.« Die Krankenschwester lächelt. Sie hat ein großes rotes Muttermal auf der rechten Wange. »Dieser Flügel beherbergt die Patientinnen, die uns keinen Ärger bereiten. Ein paar helfen im Garten, andere in der Küche oder in der Wäscherei. Sie wissen ja – Müßiggang ist aller Laster Anfang. Sie werden natürlich die ganze Zeit über beaufsichtigt.«
»Natürlich.« Es ist so düster überall, dass ich mich frage, wie die Frauen hier nicht verrückt werden sollen. Die Kerze der Krankenschwester spendet das einzige Licht. Die alten Fußbodendielen knarzen unter meinen Füßen, als ich den Gang hinuntergehe. Vorhänge mit Mottenlöchern verdecken die Fenster, von den Wänden blättert die Tapete. Es gibt keinerlei Bilder oder Pflanzen, die den Eindruck des Zerfalls und des Verlassenseins abmildern würden. Ein kleines dunkles Etwas – eine Maus? – huscht mit scharrenden Krallen über den Gang.
In die Türen sind kleine Gucklöcher eingelassen, durch die in jede Zelle hineingesehen werden kann. Darunter sind Schilder mit den Namen der Patientinnen angebracht. Die meisten Zimmer stehen tatsächlich leer. Als ich den Gang schon zur Hälfte hinuntergegangen bin, entdecke ich auf der rechten Seite schließlich ein Schild, auf dem in ausgeblichener blauer Tinte Z. ROTH steht.
Meine Patentante.
Durch das Guckloch sehe ich auf einem Schaukelstuhl vor dem Fenster eine große Frau sitzen. Sie hat dichtes, lockiges dunkles Haar, was mich irgendwie überrascht. Ich hätte gedacht, sie wäre klein und rothaarig, so wie Mutter. Ich hole tief Luft und stoße die Tür auf. Zara stöhnt, als sie mich bemerkt.
»Miss Roth? Zara Roth?«
»Was wollen Sie?« Ihre Stimme ist rau, der Blick leblos. Trotz der Dunkelheit sind ihre Pupillen so klein wie Nadelstiche. »Ich bin heute nicht in Stimmung zu beten, Schwester.«
»Ich bin nicht … ich …« Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, und panische Angst überkommt mich. Die Krankenschwester wird schon irgendwann kommen. Schwester Sophia wird mich nicht hier zurücklassen. Trotzdem muss ich mich sehr zusammenreißen, nicht mit beiden Fäusten gegen die Tür zu trommeln und zu schreien, dass ich rausgelassen werden will. Der Raum fühlt sich erdrückend klein an, er ist kaum groß genug für das schmale Bett und den Schaukelstuhl. Es gibt nichts Persönliches, nichts Fröhliches oder Willkommenheißendes, nichts Schönes.
Wie hält Zara das aus? Sie ist bereits seit zehn Jahren hier.
»Gehen Sie und lassen Sie mich in Frieden.« Meine Patentante muss einst sehr hübsch gewesen sein, aber jetzt ist sie ausgemergelt: lange Glieder ragen wie bei einer Vogelscheuche unter ihrem zerlumpten Kleidersaum und aus den Ärmeln hervor, ihr Gesicht ist hohlwangig und die Nase für das schmale Gesicht zu groß.
Ich zögere. Wenn ich doch nur Tess’ Begabung hätte, in Menschen hineinzusehen. »Ich bin Cate«, sage ich und trete näher an sie heran. »Annas Tochter, Cate.«
»Cate Cahill?« Zara fasst nach dem Goldmedaillon um ihren Hals. Dann sieht sie mich lange an. »Du siehst nicht aus wie Anna«, sagt sie und dreht sich weg, als wäre damit alles gesagt.
»Maura sieht aus wie Mutter. Ich komme mehr nach Vater«, erkläre ich, während ich mir eine lose Haarsträhne zurück in den blonden Nackenknoten stecke.
Zara schielt mich an. Jetzt, wo ich näher bei ihr stehe, fühle ich den Luftzug vom eisenvergitterten Fenster; ich sehe die Krähenfüße in ihren Augenwinkeln und die grauen Strähnen in ihrem Haar. Sie ist gerade mal siebenunddreißig, so alt wie Mutter jetzt wäre, aber sie sieht älter aus. »Brendan hat nie besonders gut ausgesehen. Anna war so hübsch, sie hätte einen Besseren finden können, aber die beiden waren nun mal verliebt.« Sie schüttelt den Kopf. »Warum verwirren Sie mich mit diesem Gerede über Anna? Was wollen Sie von mir?«
Ich beiße mir auf die Lippe. »Ich möchte nur mit Ihnen reden. Ich gehe auf die Klosterschule der Schwesternschaft, und ich wollte gerne meine Patentante kennenlernen.«
»Die Schwesternschaft. Ah. Cora hat also von der neuen Seherin gehört.« Sie lacht ein eingerostetes, gellendes Lachen. »Sie braucht mich. Ich wusste, dass es so kommen würde, als ich die Krankenschwestern tratschen hörte.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe – dass wir uns weinend um den Hals fallen, dass sie lügt und sagt, wie sehr ich meiner Mutter ähnle? –, aber nicht dies.
»Verdammt sei sie, meine Erinnerung an Anna zu missbrauchen, um an mich heranzukommen«, sagt Zara. Offenbar glaubt sie inzwischen, dass ich diejenige bin, für die ich mich ausgebe. Sie öffnet das Goldmedaillon. Darin ist eine Fotografie meiner Mutter, als sie jung war.
»Oh.« Auf einmal habe ich einen Kloß im Hals. Es ist schon einen Monat her, seit ich das Gesicht meiner Mutter auf einer Fotografie gesehen habe; ich habe keine Bilder mit ins Kloster genommen. Mit ihren Locken und dem herzförmigen Gesicht sieht sie wirklich aus wie Maura.
»Ich liebte sie wie eine Schwester«, sagt Zara traurig. Dann schreckt sie zusammen, als wäre sie von einer Wespe gestochen worden. »Sind deine Schwestern … beide noch am Leben?«
»Natürlich. Sie sind gerade auf dem Weg nach New London. Schwester Cora hielt es für das Beste – das Sicherste –, wenn wir alle drei im Kloster sind«, erkläre ich und setze mich auf das Bett.
»Hältst du das für klug?« Zara scheint jetzt etwas wacher zu sein. »Im Hinblick auf die Prophezeiung?«
»Die Prophezeiung stimmt nicht«, sage ich mit ausdrucksloser Stimme und verschränke die Arme.
Als Zara lächelt, wird ihr langes, kantiges Gesicht weicher. »Du bist eine Kämpferin, nicht wahr, Cate Cahill? Sogar als kleines Kind warst du schon leicht reizbar. Guter Gott, du warst so ein Dreckspatz, bist immer deinem Nachbarn hinterhergejagt.« Ich runzle die Stirn. Paul ist nicht länger mein. »Ständig hattest du zerschrammte Knie, weil du so viel auf Bäumen rumgeklettert bist. Anna hatte immer Angst, dass du dir eines Tages noch das Genick brechen würdest.«
»Das habe ich zum Glück nicht.«
Zara dreht den Stuhl zu mir herum. Weil der Raum so eng ist, berühren sich jetzt unsere Knie. »Sie werden dich hängen. Oder vielleicht verbrennen sie dich auch bei lebendigem Leib«, sagt sie und wirft einen Blick auf die Tür. Mein Lächeln verblasst. »Falls du die neue Seherin bist. Es gab bisher zwei seit dem großen Tempelbrand. Sie haben sie hier festgehalten und gefoltert, damit sie ihnen ihre Prophezeiungen verraten. So werden sie es auch mit Brenna machen. Aber dich … dich werden sie nicht am Leben lassen.«
Ich versuche, mich von ihren Worten nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, aber ohne Erfolg. »Weil ich eine Hexe bin?«
»Es hat noch nie eine Seherin mit magischen Fähigkeiten gegeben. Noch dazu in Gedankenmagie.« Zara springt auf und läuft zur Tür, um durch das Guckloch zu spähen, dann setzt sie sich wieder und fragt mich mit leiser, kratziger Stimme: »Bist du es? Hat Cora dich deswegen zu mir geschickt?«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte noch keine Vorhersehungen. Ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht sagen könntest, was mich erwartet. Was ist mit den anderen beiden Seherinnen passiert?«
Zara kaut nachdenklich an einem Fingernagel. Ihre Nägel sind alle bis aufs Bett abgebissen, die Fingerkuppen kaputt und blutig. »Ich würde dir gerne helfen. Anna zuliebe. Aber du bist jetzt eine von ihnen, und ich kann ihnen leider nicht verzeihen, was sie getan haben. Nicht nur mir, auch wenn das schon schlimm genug wäre. Kannst du dir vorstellen, wie viele Mädchen durch diese Türen kommen? Wie viele Mädchen hier geschlagen oder als Spielzeug der Brüder missbraucht werden? Und wenn sie sterben – und das tun viele, sie hören einfach auf zu essen und beschließen zu sterben –, wenn sie sterben, bekommen sie noch nicht einmal eine ordentliche Beerdigung. Auf der anderen Seite des Hügels ist ein Gemeinschaftsgrab. Das ist alles, was uns erwartet. Und Cora lässt es einfach geschehen.«
Ich erneuere das Versprechen, dass ich mir vorhin gegeben habe: Ich werde diese Mädchen retten.
Ich weiß nur nicht, wie oder wann. »Sie kann nicht alle retten«, sage ich leise.
Zara sieht mich zornig an, ihre dünnen Nasenflügel beben. »Hat sie das gesagt? Mich hätte sie retten können!«
Sie starrt einen Moment aus dem Fenster. Der Schneeregen hat sich in Schnee verwandelt, der Hang ist inzwischen weiß gepudert. In der Ferne ist der rote Speicher eines angrenzenden Bauernhofs zu sehen und dahinter ein weißer Kirchturm. »Ich bin böse auf Cora, aber ich bin nicht so dumm, dich darunter leiden zu lassen. Du wirst noch genug leiden müssen, solltest du die Seherin sein«, sagt sie.
»Ich hoffe, dass ich es bin. Es wäre mir lieber, als wenn es Maura oder Tess sind.« Ich hole tief Luft. »Erzählst du mir von den anderen Seherinnen? Wie haben die Brüder sie gefunden?«
Zara lässt sich nicht länger bitten. »Marcela Salazar war gerade erst vierzehn, als sie ihren Vater warnte, dass er ertrinken würde, wenn er in einem See in der Nähe schwimmen ginge. Nachdem er gestorben war, wurde sie der Bruderschaft übergeben. Es ist ein Wunder, dass sie nicht sofort getötet wurde, weil man sie für eine Hexe hielt. Sie haben sie ihr ganzes Leben unter Schloss und Riegel gehalten. 1829 ist sie dann mit fünfundzwanzig Jahren gestorben, als die Typhusepidemie ausbrach.«
»Was für ein Leben«, bemerke ich.
»Aber noch längst nicht so schlimm wie das von Thomasina Abbott.« Zara sieht mich ernst an und spielt mit der Kette an ihrem Hals. »Als Thomasina zwölf war, warnte sie ihre Nachbarn vor einem Hausbrand. Die Nachbarn hörten nicht auf sie, und als das Haus tatsächlich niederbrannte, wurde Thomasina der Hexerei bezichtigt und hierhergebracht. Sie weigerte sich, mit den Brüdern zu sprechen, aber sie konnten es ihr ansehen, wenn sie wieder einmal unter dem Bann einer Prophezeiung stand, also haben sie sie gefoltert. Sie haben ihr die Finger abgeschnitten und ihr die Beine so schlimm gebrochen, dass sie nie wieder richtig geheilt sind. Irgendwann fing sie an, Unsinn zu reden, und da die Brüder nicht wussten, ob sie tatsächlich verrückt geworden war oder nur so tat, machten sie alle möglichen schrecklichen Versuche mit ihr. Sie bohrten ihr ein Loch in den Schädel, um den Wahnsinn zu mindern, aber das brachte sie um. Das war vor drei, nein vier Jahren. Dann haben sie ihr Gehirn seziert. Die Krankenschwester sagte, sie fanden keinerlei Abnormität, die den Wahnsinn oder die Vorhersehungen erklärt hätte.«
Mir dreht sich der Magen um, als ich mir vorstelle, wie meine Leiche für wissenschaftliche Zwecke auseinandergenommen wird. »Werde ich …«, meine Stimme ist nur noch ein Krächzen, »werde ich auch verrückt werden?«
Zara hört so plötzlich auf, mit dem Stuhl zu schaukeln, dass sie damit gegen die Zementwand hinter sich knallt. »Ich weiß es nicht. Du hast es auf jeden Fall besser, denn du weißt über die Vorhersehungen Bescheid. Sie können ziemlich verstörend sein. Kopfschmerzen und Verwirrung verursachen. Die anderen wollten verhindern, dass schlimme Sachen passieren, und brachten sich dadurch selbst in Gefahr. Die Prophezeiungen erfüllen sich immer.«
Betroffen schweigend sehen wir einander an. Ich weiß, dass Zara das für die Wahrheit hält, aber ich weigere mich, es zu glauben.
»Zara?« Die Krankenschwester mit dem Muttermal klopft an die Tür und steckt den Kopf herein. Ich befürchte schon, dass sie unser Gespräch mitgehört hat, aber sie sieht einfach nur erschöpft aus. »Du solltest die Zeit der jungen Schwester nicht mit deinen Geschichten verschwenden. Sie wird unten im Krankenzimmer gebraucht.«
»Ich habe ihr gerade von dem Minotaurus erzählt«, sagt Zara mit verträumter Stimme. »Von all den verlorenen Jungfrauen im Labyrinth. Sie brauchten einen Krieger, der sie befreite.«
»Sie wird Ihnen den ganzen Tag diese schändlichen Geschichten erzählen, wenn sie sie nicht bremsen. Sie war früher Gouvernante«, sagt die Krankenschwester und schnalzt missbilligend mit der Zunge. Sie hält ihr Strickzeug in der Hand, und jetzt kann ich erkennen, dass es ein blauer Kinderstrumpf ist. Vielleicht für einen Enkel? »Verabschiede dich, Zara.«
Zara wirft mir ein breites, unheimliches Lächeln zu. Ihr fehlen mehrere Zähne. »Auf Wiedersehen, Schwester Catherine. Cave quid dicis, quando, et cui.«
»Genug jetzt. Du sprichst ordentliches Englisch wie wir alle, Zara, oder es gibt kein Abendessen«, schilt die Krankenschwester. Dann fragt sie mich: »Was hat sie gesagt?«
»Ich habe keine Ahnung«, lüge ich.
Doch dank Vaters Beharren, dass wir alle Latein lernen, kenne ich den Spruch.
Pass auf, was du sagst, wann und zu wem.