Kapitel 8

Um Mitternacht wartet Finn an der Gartenpforte auf mich, sein Umhang und Schopf sind mit Schnee bestäubt.

»Sieh mal einer an, du hier.« Er grinst mich schief an, nimmt meine Hand und verschränkt seine in Lederhandschuhen steckenden Finger mit meinen. Seine Stimme ist vergnügt, sein Gang beschwingt, trotz des trübseligen Wetters. »Du hast schon wieder deine Handschuhe vergessen.«

Ich traue mich nicht, ihm zu sagen, dass ich sie nicht vergessen habe. Ich habe sie absichtlich nicht mitgenommen, weil ich so wenig Stoff wie möglich zwischen uns haben will, wenn ich ihn berühre.

»Lass uns ins Gewächshaus gehen«, schlage ich vor. Der eisige Wind treibt mir die Flocken ins Gesicht, und zitternd kneife ich die Augen zusammen. Auf dem Weg durch den Garten versinken meine Stiefel zentimetertief im Schnee. Als wir bei dem achteckigen Glasgebäude ankommen, sind der Saum meines Umhangs und der meines Kleides mit Schnee bedeckt. Mit einem Zauber öffne ich die Tür. Ich würde gerne den Umhang ablegen, aber ich bin auch so schon anstößig genug gekleidet, ohne Mieder und Unterrock. Rilla ist gerade erst eingeschlafen, und ich hatte Angst, sie und ihre unendliche Neugier zu wecken.

Unter den Bodendielen zischt heißer Dampf in den Rohren, die Glaswände sind von der warmen Luft ganz beschlagen. In der Mitte des Raumes drängen sich reihenweise Farne und Schwester Evelyns preisgekrönte Orchideen. Weiter hinten stehen Zitronen- und Orangenbäume, die mit kleinen, leuchtenden Früchten gesprenkelt sind. Es riecht nach feuchter Erde und wachsenden grünen Dingen. Es ist wie eine Oase des Frühlings und der Hoffnung inmitten des trostlosen Neuengland-Winters.

Finn zieht mich an sich und drückt mir einen Kuss auf die kalten Lippen. Dann wirft er die Handschuhe auf einen Tisch und beugt sich zu einer roten Phalaenopsis hinunter, um sie näher zu betrachten. Ich spiele mit dem Stamm einer spindeldürren weißen Cattleya.

»Die ist wunderschön. Wie heißt sie?«, fragt Finn. Gärtnerei ist eines der wenigen Gebiete, in denen mein Wissen seines übertrifft.

Ich führe ihn den Gang hinunter. »Das hier sind Oncidium-Orchideen. Sie werden auch Tanzende Prinzessin genannt, weil die Blüten aussehen wie sich drehende Röcke. Und das hier sind Dendrobium-Orchideen. Die sind ein bisschen robuster als die anderen, weswegen ich Schwester Evelyn mit ihnen helfen darf.«

Finn umarmt mich von hinten. »Du bist sehr gerne hier draußen, oder?«

Oh ja. Es ist eine Erleichterung, den neugierigen Blicken und lästernden Mäulern im Kloster zu entkommen, aber ich fühle mich irgendwie immer ein bisschen schuldig, als wäre ich Mutters Rosen gegenüber untreu mit diesen Gewächshaus-Orchideen.

»Es ist mein Lieblingsort hier in New London, besonders jetzt, da es zu kalt für richtiges Gärtnern ist.« Ich lehne mich zurück in seine Umarmung. »Hast du in den letzten Wochen Zeit für deine Übersetzungen gefunden?«

»So gut wie gar nicht. Wir sind die ganze Zeit mit Ratssitzungen und Festessen und Predigten beschäftigt. Ishida stellt mich allen Leuten vor, als wäre ich sein Hündchen. Es ist furchtbar.«

»Wirklich? Du machst einen recht gut gelaunten Eindruck«, sage ich argwöhnisch.

»Nun, ich freue mich natürlich, dich zu sehen. Und … ich habe einen Plan.« Er dreht mich zu sich um. »Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, solange es nicht offiziell ist, aber heute Nachmittag habe ich mich mit Bruder Szymborska getroffen, dem Vorsitzenden des Nationalarchivs. Ich habe mich für eine Stelle als Schreiber in seinem Büro beworben, und ich glaube, ich habe ganz gute Chancen.«

»Du willst hierbleiben, in New London?«, frage ich. Schwester Inez’ Angebot dröhnt wie Paukenschläge in meinem Kopf.

»Bei dir.« Er sieht mich erwartungsvoll an.

»Das ist ja großartig. Ich freue mich«, sage ich, aber meine Stimme ist ziemlich ausdruckslos. Wie kann ich ihn darum bitten?

Sein Lächeln versiegt. »Das hört sich aber nicht so an.«

Ich wende mich ab und zupfe das Unkraut von einem Sämling. »Na ja, du wolltest doch immer Lehrer werden. Und was ist, wenn deiner Mutter oder Clara etwas zustößt, und du bist nicht da? Ich will nicht, dass du mich nachher dafür hasst, dich hier festgehalten zu haben.«

»Das werde ich nicht. Ich tue es auch nicht nur für dich, Cate.« Sein Lächeln lässt die Worte weniger hart erscheinen. »Zum Teil, ja, ich möchte gerne in deiner Nähe sein. Aber nach dem von der Bruderschaft festgelegten Lehrplan zu unterrichten ist nicht gerade mein Traum. Im Nationalarchiv muss ich keine unschuldigen Mädchen verhaften. Ich würde Bücher erfassen und aufbewahren, in manchen Fällen die einzigen Exemplare, die es in Neuengland gibt.«

Er hat schon so vieles für mich aufgegeben. Wie kann ich ihn darum bitten, auch noch das für mich zu opfern? Ich gehe zum nächsten Schritt über. »Das hört sich an, als wäre es perfekt für dich.«

»Für uns, dachte ich.« Finn umfasst mein Handgelenk und unterbricht damit mein Unkrautzupfen. »Wenn du nicht willst, dass ich in New London bleibe, dann solltest du es sagen.«

Ich wirble zu ihm herum. »Nein! Das ist es nicht. Natürlich will ich dich hier haben.«

»Was du nicht sagst.« Er sieht zu mir herab. »Hör zu, Cate. Alle Aufzeichnungen der Bruderschaft befinden sich im Nationalarchiv. Die Regionalräte senden Berichte von jeder Verhaftung. Wenn ich im Nationalarchiv arbeite, habe ich Zugang zu Informationen, die für die Schwesternschaft sehr nützlich sein könnten.«

»Willst du … willst du damit sagen, dass du für uns spionieren würdest?«, platze ich lachend heraus.

Finn nickt unsicher. »Was ist daran so lustig?«

»Gar nichts! Schwester Inez hat mich nur vorgestern Nacht erwischt, als ich aus dem Garten gekommen bin. Sie hat uns gesehen. Vielleicht hätte ich ihre Erinnerung daran auslöschen sollen, aber ich habe es nicht getan. Sie meinte, du könntest uns möglicherweise helfen. Es gibt noch eine andere freie Stelle, als Schriftführer eines Mitglieds des Höchsten Rats – eines Bruder Denisof –, und Inez meinte, du solltest dich darauf bewerben.«

Finn lehnt sich gegen den Tisch. »Nun, Informationen vom Höchsten Rat könnten natürlich noch sehr viel nützlicher sein.«

Der Höchste Rat besteht aus Bruder Covington und elf seiner engsten Vertrauten. Ihre Sitzungen sind geheimnisumwobene Angelegenheiten; niemand weiß, wo oder wann sie stattfinden. Es gibt Gerüchte darüber, wer die elf Berater sind, aber niemand will es öffentlich zugeben, aus Angst, Ziel von Anschlägen zu werden.

Ich werfe meinen Umhang ab, der inzwischen klamm von geschmolzenem Schnee ist. »Es ist schrecklich gefährlich. Wenn sie dich dabei erwischen, wie du Informationen weitergibst …«

»Ich wäre immer noch weniger in Gefahr als du«, erklärt er und fährt mit dem Finger über mein bloßes Handgelenk.

Mein Herz schlägt augenblicklich schneller. »Aber ich bin da hineingeboren. Ich konnte es mir nicht aussuchen. Außerdem hört es sich so an, als könntest du im Nationalarchiv glücklich werden.«

»Ich könnte euch sehr nützlich sein. Ich kenne Denisof. Oder besser gesagt, ich habe schon von ihm gehört. Es überrascht mich nicht, dass er im Höchsten Rat ist.« Trotz seiner Bartstoppeln sieht Finns Gesicht auf einmal jungenhaft aus, verwundbar. »Welche Stelle ich auch immer bekomme – du hättest nichts dagegen, mich hier in New London zu haben?«

Ich schüttle den Kopf. »Überhaupt nicht. Ich will dich so oft sehen wie irgend möglich.« Ich schlinge ihm die Arme um den Hals. Er hat Kopfschmerzen; ich fühle es bei jeder Berührung. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, es dir zu erzählen, aber ich bin eine sehr gute Heilerin geworden. Ich merke zum Beispiel, dass du gerade Kopfschmerzen hast.«

Er verzieht das Gesicht und massiert sich die Nasenwurzel. »Bruder Ishida macht mir einfach zu schaffen.«

Ich lehne meine Stirn gegen seine. Ich kann den Schmerz sehen: roter, pulsierender Nebel, der langsam verschwindet, als ich mit meiner Magie darauf einwirke. Ich würde Finn vor allem Übel der Welt beschützen, wenn ich nur könnte; Kopfschmerzen sind dagegen nichts.

»Besser?«, frage ich, und er nickt erstaunt. Ich halte mich an seinen Schultern fest, weil sich alles um mich herum zu drehen anfängt. »Ich kann auch schlimmere Verletzungen heilen, aber es hat Nebenwirkungen. Mir wird davon immer etwas … schwindelig.«

»Schwindelig?« Er stützt mich, indem er mir seine Hände auf die Hüften legt.

»Schon wieder gut. Kopfschmerzen sind ziemlich einfach; die meisten Hexen können das. Gestern habe ich einer Frau das Leben gerettet.« Ich bin selbst überrascht, dass ich damit so angebe; solche Gefühle kannte ich bisher in Bezug auf meine magischen Kräfte noch nicht. Ich kann gar nicht aufhören: »Es wird immer einfacher, je mehr ich übe. Ich bin die Beste im ganzen Kloster, abgesehen von Schwester Sophia, und sie ist die Lehrerin in Heilkunst. Es gefällt mir. Ich helfe den Menschen gerne. In Harwood hatte ich das Gefühl, als … als würde ich etwas Nützliches tun, etwas Gutes.«

»In Harwood?« Finns Stimme wird lauter. »Du warst in Harwood?«

Ich nicke und trete ein Stück zurück, um ihn besser sehen zu können. Seine Stirn ist zerfurcht, der Blick seiner braunen Augen hinter den Brillengläsern grimmig. »Ich war nicht allein. Schwester Sophia nimmt jede Woche Mädchen mit auf Heilmission. Und ich habe meine Patentante Zara getroffen. Hat deine Mutter sie dir gegenüber jemals erwähnt?«

»Die Schwestern lassen dich nach Harwood gehen?« Das scheint ihn nicht mehr loszulassen.

»Es war vollkommen unbedenklich«, versichere ich ihm. »Schwester Cora, die Schulleiterin, hat mich gebeten, mit Zara über die bisherigen Seherinnen zu sprechen. Es gab zwei nach dem Brand im Großen Tempel und vor Brenna.«

»Was ist mit ihnen passiert?«, fragt er argwöhnisch.

»Es ist ein bisschen beunruhigend«, gebe ich zu. Und trotzdem ist es eine Erleichterung, ihm von der Folter und den Experimenten und dem Wahnsinn zu erzählen, die Thomasina erleiden musste. Ich wollte Maura und Tess nicht verängstigen, aber letzte Nacht habe ich davon geträumt, wie die Brüder mich mit altmodischen Fackeln umzingelten. Bruder Ishida führte die Meute an und lachte. Es war furchtbar.

Ich hoffe, es war nur meine Angst und keine Vorahnung.

»Guter Gott.« Finns Hände krallen sich in meine Taille. »Wie können sie Mädchen dermaßen foltern und immer noch behaupten, Gottes Stellvertreter auf Erden zu sein?«

»Solange es Hexen sind, stört das niemanden.« Meine Stimme versagt, und ich lehne die Wange an seine Schulter. »Hast du von den Mädchen gehört, die im Keller des Nationalratsgebäudes festgehalten werden?«

Finn fährt mir mit der Hand übers Haar. »Ja, hab ich. Es sind inzwischen neun.«

Noch eins mehr seit Coras Bericht.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gebe ich zu. »Maura und Tess sind jetzt hier. Maura kritisiert Schwester Cora, weil sie nichts unternimmt, um die Mädchen zu schützen, und sie kritisiert Brenna, weil sie den Brüdern erzählt hat, dass die Seherin jetzt in New London ist. Sie meint, wir müssten Brenna umbringen, bevor sie irgendetwas sagt, was auf uns hinweist.«

»Und was denkst du?«, fragt Finn und tritt ein Stück zurück, damit er mich ansehen kann.

Ich bin so froh, dass er hier ist und ich mit ihm reden kann. Bei ihm fühle ich mich nicht schuldig, weil ich nicht die Antwort auf alles habe. »Ich will gar nicht darüber nachdenken. Aber wenn sie weiß, dass es eine von uns ist, könnte sie die Brüder zu uns führen. Ich weiß nicht, wie ich sie aufhalten soll. Ich weiß nicht, wie ich irgendetwas davon aufhalten soll.«

Finn beißt die Zähne aufeinander. »Ich bin halb versucht, dich von hier wegzuzaubern. Irgendwohin an einen weit entfernten Ort, an dem uns niemand finden kann. Wenn ich nur daran denke, dass du …«

Ich schließe die Augen, um gegen die Versuchung anzukämpfen. »Ich kann nicht. Ich muss mich um Maura und Tess kümmern. Ich meine, was ist, wenn ich es gar nicht bin? Wenn es eine von den beiden ist?«

»Das wäre eine große Erleichterung für mich.« Finn senkt die Stimme. »Du machst dir Sorgen darum, was die Prophezeiung für deine Schwestern bedeuten könnte, aber ich mache mir Sorgen um dich, Cate. Einer muss sich ja um dich sorgen. Du würdest dich doch sofort opfern, damit ihnen nichts geschieht. Du würdest uns opfern.«

Seine Worte hängen zwischen uns in der Luft. Eine Erinnerung daran, dass ich es bereits getan habe.

»Ich weiß nicht, ob ich es noch einmal tun könnte«, sage ich aufrichtig. »Ich weiß, dass es gefährlich für dich ist, hier zu sein. Ich sollte dich eigentlich fortschicken, aber ich will dich nicht aufgeben. Es ist egoistisch von mir.«

»Gut. Sei egoistisch.« Finn erobert meinen Mund mit einem glühenden Kuss, und ich denke an nichts anderes mehr als an seine Hände, seine Lippen, seine Zunge.

Er macht einen Schritt zurück, um seinen Umhang abzuschütteln. Darunter trägt er ein steifes weißes Leinenhemd, eine graue Weste und eine dazu passende graue Leinenhose. Er sieht gut aus, richtig elegant. Aber irgendwie sieht er nicht mehr aus wie mein zerzauster, unbeholfener, gelehrtenhafter Finn.

Ich beginne mit seinem Haar, fahre mit den Händen durch die dicken Strähnen. Dann lasse ich meine Finger unter seinen Kragen gleiten, öffne den obersten Knopf, während mein Mund seinen Hals hinabwandert. Seine Hände zucken, er zieht mich näher an sich heran. Ohne ein schweres Mieder zwischen uns spüre ich seine Westenknöpfe an meinem Bauch.

Ich versuche, den obersten Westenknopf zu öffnen, und als es mir schließlich gelingt, gehe ich zum nächsten über. Finn nimmt mein Ohrläppchen zwischen die Zähne. »Ziehst du mich gerade aus?«

Ich erschaure, als ich seinen Atem an meinem Ohr spüre, und öffne den dritten Knopf. »Hast du etwas dagegen?«

»Nein.« Seine Stimme ist ein bisschen heiser, als ich ihm die Weste ausziehe und sie zu seinem Umhang auf den Boden werfe. Ich schlinge ihm wieder die Arme um den Hals und fühle die sehnigen Muskeln seiner Schultern unter meinen Fingerspitzen.

Wie er wohl aussieht ohne das Hemd?

Wie er wohl aussieht mit gar nichts an?

Wäre ich in Chatham geblieben und hätte ich mich der Schwesternschaft verweigert, wären wir dann jetzt schon verheiratet und würden jede Nacht das Bett teilen? Ich drücke mich fester an ihn, als er mit den Händen unter meinen Umhang fährt und über meine Seiten streicht. Ich erröte bei dem Gedanken, wie sehr mir das gefällt.

Dann springt auf einmal die Tür auf, und wir machen beide einen Satz zurück.

Maura steht in der offenen Tür, hinter ihr wirbeln Schneeflocken durch die Luft. »Ich würde ja fragen, was ihr da treibt, aber es ist doch ziemlich offensichtlich«, fährt sie uns an.

Ich bringe meine Haare wieder in Ordnung und spüre, wie ich rot werde vor Zorn. Finn wendet sich ab, um seine Weste aufzuheben.

»Ich konnte nicht schlafen, also habe ich das Schneetreiben beobachtet. Dann habe ich dich im Garten gesehen – aber das hier ist noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe! Was denkst du dir dabei, Cate? Alle hätten dich sehen können!«

Sie braucht gar nicht so schockiert zu gucken. »Es ist alles in Ordnung, Maura. Geh wieder ins Bett.«

»Du erwartest ernsthaft, dass ich dich so weitermachen lasse? Mit ihm?«, stottert Maura empört, und da wird mir klar, dass es nicht meine Unschuld ist, um die sie sich sorgt. »Hast du vollkommen den Verstand verloren? Hast du überhaupt keinen Stolz?«

Finn sieht mich verletzt an, während er sich seinen Umhang wieder anzieht. »Du hast es deinen Schwestern nicht gesagt?«

»Ich habe es niemandem gesagt«, erkläre ich.

»Ich verstehe, wie das für dich aussehen muss, Maura«, sagt er, »aber ich versichere dir, dass ich nur die ehrenwertesten Absichten habe, was deine Schwester angeht.«

»Nun, meine Schwester ist vielleicht dumm genug, das zu glauben, aber ich nicht. Cate, er hat sein Versprechen dir gegenüber gebrochen. Er ist jetzt einer von den Brüdern!« Die Tür fällt knallend ins Schloss, als sie näher kommt und auf den Silberring an seiner Hand zeigt.

Finn wirbelt zu ihr herum, sein Umhang fliegt durch die Luft. Ich weiß nicht, wie er es schafft, in einem Symbol, das ich mein Leben lang mit Abscheu betrachtet habe, so attraktiv auszusehen.

Wahrscheinlich würde ich ihn in allem anziehend finden.

»Ich bin der Bruderschaft nur beigetreten, um Cate zu helfen. Um mir eine Frau leisten zu können«, erklärt er.

Maura lacht. »Bitte sag mir, dass du diesen Blödsinn nicht glaubst, Cate. Wenn er dich erst einmal befleckt hat, was dann? Schwestern müssen keusch sein; du würdest verhaftet werden, wenn es herauskommt! Du bringst dich wegen ein paar Küssen in Gefahr, und das bringt nicht nur dich, sondern uns alle in Gefahr. Denkst du eigentlich nie an jemanden anders als dich selbst?«

»Was?« Finn ist der einzige Teil meines Lebens, der wirklich mein ist, und sie will, dass ich mich dafür schäme? Es als bedeutungslos abtue? Sie ist immer so schnell darin, das Schlimmste von mir zu denken.

Wut und Verlegenheit prallen in mir aufeinander, und die Magie, die untrennbar mit meinen Gefühlen verbunden ist, steigt auf. Ich werfe Maura mehrere Schritte zurück, sodass sie gegen die Glaswand prallt. Nicht so heftig, dass es ihr wehtun würde, aber doch heftig genug, um sie zu erschrecken.

Ich habe noch nie vorher Magie gegen sie angewandt, aber sie soll wissen, dass ich es ernst meine. »Halt den Mund, Maura, und lass es uns wenigstens erklären.«

»Was soll das?«, schreit sie. Das rote Haar fällt ihr aus dem losen Zopf; ihre Stiefel hinterlassen Pfützen auf dem Boden.

»Er weiß, dass ich eine Hexe bin. Er weiß alles. Ich würde Finn mein Leben anvertrauen. Mehr als das. Ich würde ihm dein Leben anvertrauen.«

Maura schnappt nach Luft. »Bist du verrückt? Er könnte ein Spion sein!«

Finn nimmt meine Hand. »Ich bin ein Spion. Für die Schwesternschaft.«

»Was?« Maura reißt die blauen Augen weit auf.

Ich mache mich von ihm los. »Bist du sicher? Was ist mit der Stelle im Nationalarchiv?«

»Ich bin sicher«, sagt Finn und fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Ich werde mich auf die andere Stelle bewerben, wenn es das ist, womit ich der Schwesternschaft am nützlichsten sein kann. Welche Informationen braucht Schwester Inez?«

»Schwester Inez weiß, dass du dich mit Finn triffst? Sie ist damit einverstanden?« Maura lässt sich wieder gegen die Wand fallen. Der nasse blaue Saum ihres Nachthemds guckt unter ihrem neuen schwarzen Umhang hervor.

»Sie ist der Meinung, dass Finn ein wertvoller Verbündeter sein könnte«, erkläre ich.

»Und du liebst sie«, sagt Maura zu Finn. Sie hat jede Kampfeslust verloren. Auf einmal sieht sie sehr jung aus mit den roten Locken um ihr blasses Gesicht. »Du bist bereit, dein Leben für sie aufs Spiel zu setzen.«

»Ja.« Finn wendet sich mit aller Ernsthaftigkeit Maura zu. Ich weiß, wie beeindruckend das sein kann. »Es ist mir wichtig, etwas zu unternehmen. Schon ehe ich mich in Cate verliebt habe, war ich nicht mit dem Vorgehen der Brüder einverstanden. Und jetzt bekomme ich jeden Tag mit, wie viel Verachtung die Männer um mich herum den Hexen entgegenbringen und wie wenig Respekt gegenüber Frauen sie haben. Sie reden davon, was sie mit den Hexen anstellen würden, wenn es keine Gesetze gäbe, die sie davon abhalten würden.« Seine Miene verfinstert sich. »Wenn ich nichts dafür tue, auf der richtigen Seite mitzukämpfen, was wäre ich dann für ein Mensch?«

Er ist ein guter Mensch. Ehrenwert. Ich sehe ihn an, und mir wird einmal mehr klar, wie glücklich ich mich schätzen kann.

Maura nimmt das alles in sich auf. »Du hast mir nie gesagt, dass du ihn liebst.« Ihre Stimme ist leise, verletzt.

Ich gehe ein paar Schritte auf sie zu. »Ich hätte es dir von Anfang an erzählen sollen. Es tut mir leid.«

Doch Maura schüttelt den Kopf, ihre blauen Augen schwimmen vor Tränen. »Dir fliegt immer alles zu, Cate. Das ist nicht gerecht.«

Sie lässt mir gar keine Zeit zu antworten – etwas gegen die Unwahrheit ihrer Worte zu sagen –, sondern nimmt ihre Röcke in die Hand und läuft hinaus in den Schnee.

Ich drehe Finn den Rücken zu und vergrabe das Gesicht in den Händen. Ich hätte ihr und Tess schon gestern die Wahrheit über Finn erzählen sollen. Ganz gleichgültig, wie sehr Maura auch beteuert, über Elena hinweg zu sein, es ist offensichtlich, dass dem nicht so ist. Nicht, wenn es eine solche Wirkung auf sie hat, mich glücklich zu sehen.

Finn legt mir eine Hand auf die Schulter. »Willst du nicht nach ihr sehen?«

»Nein. Ich werde morgen mit ihr reden. Sie … wurde sehr von jemandem enttäuscht. Doch anscheinend ist es noch nicht ganz so vorbei, wie sie dachte.« Wieso muss alles zwischen uns in einem Wettstreit ausarten? Warum tut sie so, als würde meine Beziehung zu Finn ihr etwas wegnehmen?

»Ja, manchmal ist es besser, sie etwas abkühlen zu lassen«, stimmt Finn mir zu. »Morgen hat sie es vielleicht schon wieder vergessen.«

Das bezweifle ich allerdings. »Hast du dich mit Clara oft gestritten?«

Finn nickt, und seine Mundwinkel zucken. »Sehr oft sogar. Sie hat mir immer vorgeworfen, ein rechthaberischer Besserwisser zu sein. Kannst du dir das vorstellen?«

»Niemals«, lache ich und nehme seine Hand. »Ich würde gerne noch etwas mit dir über diese Spionagesache reden. Mir ist irgendwie nicht ganz wohl dabei …«

»Was würdest du denn dazu sagen, wenn ich dir verbieten würde, nach Harwood zu gehen?«, unterbricht er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Du würdest mir niemals etwas verbieten«, entgegne ich und ziehe die Nase kraus. Das ist eines der Dinge, die ich so an ihm liebe.

»Ganz genau. Und den gleichen Respekt erwarte ich auch von dir«, sagt er.

»Natürlich respektiere ich dich. Sei doch nicht dumm. Du bist der klügste Mensch, den ich kenne, außer vielleicht noch Tess.« Ich atme tief ein und bringe seine Weste in Ordnung. In der Eile hat er sie schief zugeknöpft. »Ich habe bloß Angst. Ich will dich nicht verlieren.«

»Das wirst du auch nicht. Aber du musst schon zulassen, dass ich die gleichen Risiken auf mich nehme wie du, Cate.« Er zieht mich in seine Arme, und dieses Mal klammere ich mich an ihn. Die Furcht durchfährt mich dunkel und schrecklich.

Ich hätte nicht gedacht, dass irgendetwas so schlimm sein könnte wie die Angst, meine Schwestern zu verlieren, aber diese Furcht geht genauso tief. Was, wenn ich nie wieder sein warmes Lachen höre, wenn ich nie wieder meine Probleme mit ihm besprechen kann oder ihn nie wieder küssen kann?

Die Vorstellung einer Welt ohne Finn Belastra ist furchtbar. Ich liebe ihn. Ich wusste es. Ich trauerte um unsere nicht zustande gekommene Hochzeit; ich machte mir Sorgen, dass er mir nicht verzeihen würde oder dass ich ihn jahrelang nicht wiedersehen würde. Aber ich wusste, dass er in Chatham sicher war; ich konnte ihn mir vorstellen, wie er in der Jungenschule unterrichtete, sich Bruder Ishidas Predigten anhörte, in der Wohnung seiner Mutter zu Abend aß. Ich konnte mir sein Leben vorstellen, auch wenn ich nicht länger Teil davon war. Doch der Gedanke an ihn, tot und blass wie meine Mutter, irgendwo auf einem Friedhof begraben – das ist mehr, als ich ertragen kann.

Ich kann nicht atmen, kann gar nicht mehr richtig denken. Ich darf ihn nicht verlieren. Das würde mich umbringen.

»Cate.« Finn hebt mein Kinn, und ich küsse ihn. Küsse ihn, als würde ich in tausend Stücke zerspringen, wenn ich es nicht tun würde; ich küsse ihn, als ob meine Lippen auf den seinen ihn vor aller Gefahr beschützen könnten.

Als er sich von mir löst, sind meine Augen voller Tränen. Ich blicke nach unten, damit er es nicht sieht.

»Du musst wieder reingehen«, sagt er. »Wir sehen uns bald wieder. Versprochen.«

Ich schlinge meinen kleinen Finger um den seinen. Die kleinste Berührung seiner warmen, sommersprossigen Haut an meiner.

Ich nicke, als würde ich ihm glauben. Aber solche Versprechen kann er nicht machen.

Keiner von uns kann das.