Kapitel 13
Am nächsten Morgen hat Tess wieder eine Vorhersehung.
Sie, Mei und ich sind im Salon, als es passiert. Ich liege auf dem dünnen braunen Teppich vor dem Feuer und lese in Tess’ Exemplar der Metamorphosen. Ich habe die Geschichten alle schon einmal von Vater gehört, aber ich will sie selbst lesen, denn es sind Finns Lieblingsgeschichten. Tess wiederholt gerade ein chinesisches Wort und beugt sich auf dem Sofa vor, um ihre Teetasse zu nehmen, doch im nächsten Moment entgleitet sie ihr auch schon. Ihre grauen Augen sind plötzlich ganz entrückt, und der Tee läuft über den Tisch und tropft auf Tess’ blattgrünen Rock.
»Tess?« Ich werfe das Buch zur Seite und krabble zu ihr.
Mei ist sofort aufgesprungen und wischt mit ihrem ausgeblichenen gelben Taschentuch den Tee auf. Tess sitzt einfach nur da und starrt ins Leere, bis Mei sie am Arm schüttelt. »Tess?«
»Tut mir leid«, keucht sie, als sie wieder zu sich kommt. »Mir war einen Augenblick ganz schwarz vor Augen.«
Mei legt ihr die Hand auf die Stirn. »Fieber hast du keins.«
Ich hebe die angeschlagene Tasse auf und suche nach einer vernünftigen Ausrede. »Sind es deine monatlichen Beschwerden?«
Tess läuft knallrot an. »Vielleicht«, quiekt sie.
»Möchtest du hochgehen und dich hinlegen? Ich bringe dir eine Wärmflasche für den Rücken«, schlage ich vor.
»Geht nur. Ich bringe das hier in Ordnung«, bietet Mei an.
»Danke.« Ich werfe ihr noch mein Taschentuch zu, dann begleite ich Tess hinaus auf den Flur.
Wir sagen nichts, bis wir das Zimmer erreichen, das sie sich mit Maura teilt und das sich weit entfernt von meinem am entgegensetzten Endes des Flures befindet. Mauras Strümpfe liegen überall herum, und ein spitzenbesetzter blauer Unterrock hängt über einem Stuhl vor dem Frisiertisch. Tess hat sich das Bett vor dem Fenster ausgesucht und die Vorhänge aufgehängt, die Mrs O’Hare ihr vor Jahren genäht hat. Auf dem Fensterbrett steht eine Fotografie von Mutter und Vater, und ihr einäugiger Teddybär Zyklop hat einen Ehrenplatz auf ihrem Kopfkissen.
»Es geht mir gut«, sagt sie, sobald die Tür hinter uns geschlossen ist. »Du brauchst dich gar nicht aufzuregen.«
»Du hattest wieder ein Vorhersehung, oder?« Sie drückt sich die Fingerspitzen an die Schläfen.
»Ja. Machst du mir mal die Knöpfe auf?« Meine Finger arbeiten sich flink die Reihe von Knöpfen an ihrem Rücken hinunter, während ich darauf warte, dass sie sich ausführlicher äußert. Doch Tess seufzt nur, als sie sich das mit Tee getränkte Kleid auszieht. »Ich spüre, dass du mich anstarrst.«
Ich versuche, meine wachsende Neugier im Zaum zu halten. Ihre Zurückhaltung muss nicht zwangsläufig etwas Schlimmes bedeuten; sie wird in die Geheimnisse einer Menge Leute eingeweiht sein, und vielleicht handelte die Vision gerade von etwas, was mich einfach nichts angeht. Ich würde ja auch nicht wollen, dass sie allen erzählt, dass sie gesehen hat, wie Finn und ich uns küssen.
Tess wird in einem Monat dreizehn. Unter Elenas Anleitung ist sie zu einer richtigen jungen Dame geworden, die ein Mieder und einen Unterrock trägt und sich die Haare hochsteckt. Als sie sich ihr rotkariertes Kleid über den Kopf zieht, fallen mir ihre neuen Kurven auf. Sie wird eine üppige Figur bekommen wie Maura und Mutter und nicht so dürr bleiben wie ich.
»Ich will dich am Montag nach Harwood begleiten und Zara besuchen«, sagt sie.
Ich schließe die Knöpfe, an die sie nicht herankommt, und binde die schwarze Schärpe um ihre Taille. »Ich möchte nicht, dass du auch nur einen Fuß dort hineinsetzt.«
Sie dreht sich herum und sieht mich an. »Ich dachte, du wolltest mich nicht mehr herumkommandieren?«
Ja, das habe ich gesagt. Doch alte Gewohnheiten sind schwer abzulegen. »In Ordnung. Wir fragen Schwester Sophia. Aber du musst mir versprechen, die ganze Zeit bei mir zu bleiben. Du bist zu wichtig für die Schwesternschaft – und für mich –, um irgendetwas Unüberlegtes zu riskieren, ganz gleichgültig, wie sehr du den Mädchen da drinnen helfen willst.«
»Ich verspreche, dass ich bei dir bleibe. Ich will Zara nur nach den anderen Seherinnen fragen – ob sie auch verrückt wurden wie Brenna. Zara hat in ihrem Buch nichts darüber geschrieben, aber vielleicht …«
Tess hat sich durch die Enthüllungen über Brenna nicht so beruhigen lassen, wie ich gehofft hatte. Ich seufze und stecke eine Strähne ihrer blonden Haare in den Knoten zurück. »Mit Brenna wäre alles in Ordnung, wenn Alice nicht gepfuscht hätte.«
Tess lässt sich schwer auf ihr Bett fallen und zerknautscht dabei die grüne Steppdecke. »Vielleicht – wir wissen es nicht genau. Sie war schon vorher merkwürdig.«
»Merkwürdig ist aber nicht das Gleiche wie verrückt«, erkläre ich. Ich wünschte, ich könnte die Sache mit Thomasina vergessen. Ich hoffe, Zara wird Tess gegenüber mehr Taktgefühl zeigen. »Dir wird nichts passieren.«
»Wirklich nicht?« Sie greift nach Zyklop und schmiegt die Wange an seinen pelzigen Kopf. »Ich hoffe es, Cate. Ich will nicht den Verstand verlieren. Ich bin gerne klug. Ich will weiter Chinesisch lernen, und Schwester Gretchen hat versprochen, mir Deutsch und Kryptografie richtig beizubringen, wenn Schwester Cora … na ja, wenn sie nicht mehr so damit beschäftigt ist, sich um sie zu kümmern. Und Schwester Sophia will mir zeigen, wie sie ihren Weihnachtspudding kocht. Und es gibt Dutzende von Büchern in der Bibliothek, die ich noch nicht gelesen habe, und eines Tages, wenn ich alle ausgelesen habe, will ich vielleicht mein eigenes Buch schreiben. Es gibt noch so viel, was ich machen will.«
Ihre Angst erschüttert mich. »Das wirst du auch. Du hast noch jede Menge Zeit, das alles zu tun.«
»Wirklich?« Sie drückt Zyklop noch fester an sich. »Es ist schon Dezember. In einem Monat schreiben wir schon das Jahr 1897, und die Prophezeiung besagt, dass eine von uns die Jahrhundertwende nicht erleben wird. Das sind nur noch drei Jahre. Vielleicht auch weniger.«
Ich fasse sie am Ellenbogen, und sie jault leise auf, als ich sie ruppig zu mir drehe. »Teresa Elizabeth Cahill, hör mir zu. Dir wird nichts geschehen. Du wirst nicht verrückt werden, und du wirst auch nicht umgebracht werden. Niemand wird dir etwas tun, solange ich lebe, verstanden? Ich werde bis zum letzten Atemzug für dich kämpfen.«
»Autsch, Cate, lass mich los«, jammert sie.
»Nein. Das ist wichtig. Ich werde nicht zulassen, dass du dich aufgibst. Es ist mir egal, was mit den anderen Seherinnen passiert ist, und es ist mir auch egal, was die verdammte Prophezeiung besagt. Du wirst ein langes, glückliches Leben führen. Du wirst Chinesisch lernen und ein Dutzend Weihnachtspuddings backen und heiraten und Kinder kriegen – oder auch nicht, wie auch immer du willst –, und du wirst dieses Buch schreiben. Ist das klar?«
»Ja, gut. Kannst du jetzt aufhören, mir einen Vortrag zu halten?« Tess reibt sich den Ellenbogen.
»Tut mir leid. Ich wollte nicht laut werden.« Ich hole tief Luft und ringe um Fassung. »Es ist nur … Tess, ich muss daran glauben können, dass wir nicht nur Marionetten von Persephone oder von Gott oder den Brüdern sind. Dass die Entscheidungen, die wir treffen, etwas bedeuten.«
»Wir dürfen den Mut nicht verlieren, auch wenn wir manchmal Angst haben.« In ihren Augenwinkeln entstehen kleine Fältchen, genau wie bei Vater, und ich hoffe, dass sie sich meine Worte zu Herzen nimmt.
»Besonders wenn wir Angst haben. Ich glaube, es ist wichtig weiterzukämpfen, auch wenn es uns manchmal hoffnungslos erscheint. Ich habe die ganze Zeit Angst um Finn und um dich und Maura.« Ich hebe das mit Tee befleckte Kleid auf und breite es über dem Frisiertisch aus. »Ähm, ich weiß nicht, ob sie es erwähnt hat, aber Maura und ich hatten gestern einen furchtbaren Streit.«
Tess lehnt sich gegen das Kopfteil ihres Bettes zurück. »Ich habe davon gehört.«
Ich widerstehe dem Drang, sie zu fragen, was Maura über mich gesagt hat; ich will sie nicht in eine unangenehme Lage bringen, besonders, da sie sich mit Maura das Zimmer teilt.
»Ich hatte vorgeschlagen, dass wir die Mädchen aus Harwood befreien.« Ich tunke ein sauberes Taschentuch in den Wasserkrug neben Tess’ Bett und reibe damit über die braunen Teeflecken auf ihrem Kleid. »Das würde unser Problem mit Brenna lösen. Maura und Alice waren sofort Feuer und Flamme, aber sie wollen bloß die Hexen befreien, und das scheint mir nicht richtig zu sein.«
Tess nickt grimmig. »Da stimme ich dir zu.«
»Ich denke, wir sollten versuchen, alle zu befreien, aber ich weiß nicht, wie. Die Mädchen stehen unter starkem Einfluss von Medikamenten, damit sie gefügig sind.« Ich wringe das Kleid über der leeren Waschschüssel aus. »Ich habe Angst, dass wir alles nur noch schlimmer machen. Aber vielleicht hat Maura recht – vielleicht ist es besser, ein Risiko einzugehen, als überhaupt nichts zu tun.«
Tess presst nachdenklich die Fingerspitzen gegeneinander. »War sie deshalb wütend?«
Ich wende das Kleid. »Nicht ganz. Sie will, dass ich beiseitetrete und ihr die Führung der Schwesternschaft überlasse. Ihr und Inez.«
»Und ist es auch das, was du willst?« Tess fährt die roten Quadrate auf ihrem karierten Rock nach. »Vielleicht ist es nicht besonders nett von mir, alle glauben zu lassen, du wärst die Seherin. Und Maura wütend auf dich sein zu lassen. Ich zögere doch nur das Unvermeidliche hinaus. Vielleicht sollte ich einfach allen sagen, dass ich es bin.«
Ich setze mich neben sie. »Bist du denn bereit dafür? Das ist eine gewaltige Verantwortung, Tess, und wenn du es erst einmal offenbart hast … na ja, dann kannst du es nicht mehr zurücknehmen. Mir macht es nichts aus, die Last noch eine Weile zu tragen.«
»Ich wünschte, ich wäre schon so weit, aber ich bin es nicht. Ich weiß nicht, ob ich es jemals sein werde«, erklärt Tess und seufzt. Für ein Mädchen ihres Alters ist es ein ziemlich niedergeschlagenes Seufzen. »Ich mache mir auch noch aus einem anderen Grund Gedanken, ob ich es schon sagen soll. Wenn Inez weiß, dass sie noch vier Jahre hat, bis ich volljährig werde, wer weiß, was sie in der Zeit anstellen wird?«
»Wenn sie jedoch denkt, dass sie in ein paar Monaten die Macht an mich abgeben muss, hält sie das vielleicht davon ab, etwas Unüberlegtes zu tun«, spinne ich den Gedanken weiter.
Es ist mir natürlich nicht entgangen, dass Inez mich in der Hand hat, weil sie über Finn Bescheid weiß. Ich hoffe nur, dass er die Informationen, die sie braucht, bald aufspürt, damit wir wieder frei von ihr sind. Oder wird es immer so weiter gehen? Wird sie als Nächstes etwas anderes verlangen? Die Sorgen reihen sich in meinem Kopf aneinander. Falls es so sein sollte, werde ich ihre Erinnerung an Finn auslöschen müssen.
Tess lehnt sich an mich. »Ich traue ihr nicht. Das ist keine Vorahnung, sondern einfach nur so ein Gefühl.«
»Mir geht es genauso, aber ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.« Ich lege ihr den Arm um die Schulter. »Soll ich so tun, als wäre ich die Seherin? Du könntest mir deine Vorhersehungen erzählen, und ich tue einfach so, als wären es meine.«
Tess kichert und stößt mit ihrem blonden Schopf gegen mein Kinn. »Das würde uns niemals gelingen. Es würde viel zu kompliziert werden, und du bist eine furchtbar schlechte Lügnerin.«
Ich rücke von ihr ab. »Bin ich nicht! Dir gegenüber vielleicht, aber …«
Tess tätschelt mein Knie. »Doch, bist du wirklich. Du denkst, du wärst überzeugend, aber das bist du nicht. Es würde niemals funktionieren. Wir müssen uns etwas anderes überlegen.«
Weiter überlegen, statt zu handeln. Langsam ärgert es mich, dass alles darauf hinausläuft, dass wir mehr Zeit brauchen. Zeit, die wir nicht haben.
»Jetzt guck doch nicht so. Wir werden schon eine Lösung finden.« Tess lächelt mich an. »Zusammen können wir alles schaffen.«
Ich muss eigentlich los zu Sachis Verhandlung, aber ich kann Tess nicht finden. Ich wollte ihr sagen, dass Schwester Sophia ihr erlaubt hat, am Montag mit nach Harwood zu kommen. Aber sie ist weder in ihrem Zimmer noch in der Bibliothek oder in der Küche. Ich laufe ins Wohnzimmer, wo Mei und Pearl eine Partie Schach spielen.
»Habt ihr Tess gesehen?«
Meis Haar fällt ihr als glatter, glänzend schwarzer Vorhang bis zur Hüfte hinab. »Sie kam vor einer halben Stunde herein und hat mich gefragt, ob ich etwas von meinen Schwestern gehört hätte. Sie schien sich Sorgen um sie zu machen, jetzt wo der Schnee kommt.«
Ich blicke aus dem Fenster. »Es schneit doch gar nicht.«
»Es sieht aber so aus, als könnte es jeden Moment anfangen«, sagt Pearl und schlingt ihr weiches lavendelfarbenes Schultertuch enger um sich.
»Da unten am Fluss muss es wirklich bitterkalt sein. Ich habe Yang Decken für sie mitgegeben. Zwei Mal am Tag dürfen sie Besuch von Angehörigen bekommen, die ihnen Essen bringen. Also geht Baba morgens und Yang nachmittags.« Mei schiebt ihre Königin über das Brett, und Pearl stöhnt. »Ich wünschte, wir könnten mehr für sie tun, aber es ist zu gefährlich für mich, selbst dort hinzugehen. Ich habe es Tess eben erst erzählt. Das ist ein schlimmes Viertel da unten am Hafen. Dort sind Taschendiebe und alle möglichen komischen Gestalten unterwegs.«
Da kommt mir plötzlich ein Verdacht, und es läuft mir kalt den Rücken hinunter. »Tess hat dich nach dem Viertel gefragt?«
»Ja. Wo die Lagerhalle sei und wie es da unten so wäre.« Mei fängt einen weiteren von Pearls Bauern. »Sie ist ganz schön neugierig. Wahrscheinlich hat sie einfach noch nicht besonders viel von New London zu sehen bekommen, oder?«
»Nein.« Aber dem schafft sie anscheinend gerade Abhilfe. Ich entschuldige mich und eile in den Salon, wo Schwester Sophia und Rory auf mich warten. Verdammt. Ich habe Rory versprochen, mit ihr zur Verhandlung zu gehen, aber das hier ist ein Notfall. »Ich kann nicht … tut mir leid, mir ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Erzählst du mir später, was passiert ist?«
Rory sieht mich fassungslos an. »Cate, das ist Sachis Verhandlung. Was kann denn da wichtiger sein?«
»Ich erkläre es dir, wenn ich wieder da bin. Vertrau mir, Rory, bitte. Du weißt doch, dass ich dich nicht alleine lassen würde, wenn ich nicht müsste.« Ich werfe mir meinen Umhang um und laufe zur Tür hinaus und die Treppe hinunter, als ich ein vertrautes Lachen höre. Es ist Maura, die gerade aus einer schwarzen Kutsche steigt, und für einen Augenblick wird mir leichter ums Herz, denn ich hoffe, dass Tess bei ihr ist und mein Verdacht unbegründet.
»Danke!«, kichert Maura, und als der junge Mann sie sanft auf dem Bordstein absetzt, erkenne ich in ihm meinen Kindheitsfreund Paul. Während ich ihn so ansehe, durchfährt mich stechendes Heimweh. Er sieht immer noch ganz genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe, mit seinem eckigen Kinn, den kräftigen Schultern, den von der Sonne aufgehellten blonden Haaren, die ihm in die gebräunte Stirn fallen.
»Maura!«, rufe ich und eile auf sie zu. Doch gleich darauf sinkt mein Herz, als ich sehe, dass es Alice ist, die auf der Rückbank der Kutsche sitzt, nicht Tess.
»Cate!« Maura strahlt trotz ihres schlichten schwarzen Umhangs – und es ist nicht die gespielte Fröhlichkeit, die sie sich angewöhnt hat, seit sie im Kloster ist; sie strahlt richtig. »Wir hatten so einen aufregenden Vormittag. Paul war so nett, mit uns einkaufen zu gehen und uns zum Mittag in ein kleines Café einzuladen. Es war genau, wie ich mir das Leben in der Stadt vorgestellt habe – wie im Roman!«
»Hallo, Cate«, sagt Paul. »Oder muss ich dich jetzt Schwester Catherine nennen?«
Er kommt auf mich zu und will meine Hand nehmen, doch dann hält er inne, als wäre er unsicher, ob solche Freiheiten bei Mitgliedern der Schwesternschaft erlaubt sind. Oder vielleicht bin auch nur ich es, die ihn verunsichert. Das letzte Mal, als ich mit ihm geredet habe, habe ich ihm versprochen, über seinen Heiratsantrag nachzudenken. Ich habe es zugelassen, dass er mich küsste. Ich habe seinen Kuss erwidert. Ihn angelogen.
»Du darfst mich immer noch Cate nennen«, sage ich und lächle ihn verlegen an. »Wie schön, dich zu sehen. Ich nehme an, es geht dir gut?«
»Ja, in der Tat.« Paul dreht sich um und hilft Alice aus der Kutsche. »Der Harwood-Anbau ist ein wichtiges Projekt für uns, ein Auftrag des Nationalrats. Wenn den Brüdern unsere Arbeit gefällt, wenden sie sich möglicherweise wieder an uns, wenn es um den Ausbau der Richmond-Kathedrale oder des Nationalarchivs geht. Jones hat mich zum Bauaufseher gemacht, um sicherzustellen, dass alles glattgeht.«
»Du bist bestimmt wunderbar darin«, gurrt Maura. Sie steht sehr nah neben Paul und sieht zu ihm auf, als würde sie jedes Wort von ihm aufsaugen. »Du bist so … gebieterisch geworden.«
»Wie großartig«, sage ich knapp. Ich bin nicht gerne unhöflich, aber ich habe hierfür keine Zeit; ich muss Tess finden, und mit jeder Minute, die wir hier stehen und uns unterhalten, entfernt sie sich weiter von mir.
»Wie geht es dir denn, Cate?« Der Rappe wird langsam unruhig in seinem Geschirr, sein heißer Atem dampft in der Luft, und Paul tätschelt ihm den Hals.
»Gut. Ich bin froh, Maura und Tess jetzt hier zu haben. Danke, dass du die beiden begleitest hast. Das war sehr freundlich von dir.« Es ist mir unangenehm, mit welcher Betonung das Wort aus mir herauskommt. Ich habe kein Recht, mich wegen der Aufmerksamkeit, die er Maura schenkt, unwohl zu fühlen. »Wenn ihr mich bitte entschuldigt, ich muss mich jetzt auf den Weg machen, ich habe es ein wenig eilig.«
»Du darfst nicht alleine ausgehen«, ruft Alice mir ins Gedächtnis.
»Ich hole Tess sicher gleich ein«, erkläre ich und bete, dass sie es dabei bewenden lässt.
»Ich komme mit und werde dir alles von unserem Tag berichten«, verkündet Maura. Sie wendet sich Paul zu und spielt mit ihrem Ohrring, was sie verlegen und schüchtern wirken lässt. Wo hat sie solche charmanten Tricks gelernt? »Vielen Dank noch einmal für das wunderbare Essen, Paul. Ich hoffe, du meldest dich bald wieder.«
Ich warte seine Antwort nicht ab, sondern laufe einfach los auf die stürmische graue Straße. Maura muss regelrecht rennen, um mich einzuholen. »Das war ganz schön unhöflich von dir. Warum hast du es so eilig? Haben wir etwa eine geheime Verabredung mit unserem Spion?«
»Er ist nicht dein irgendetwas«, fahre ich sie an. Ich würde sie am liebsten zurück zum Kloster schicken, aber falls Tess in Schwierigkeiten steckt, könnte ich vielleicht Mauras Hilfe gebrauchen.
»Soll ich euch wirklich nicht mit der Kutsche mitnehmen?«, ruft Paul uns hinterher.
»Nein, vielen Dank! Der Wind ist sehr … erfrischend!«, rufe ich zurück.
»Es ist eiskalt«, schimpft Maura, steckt die Hände in ihren schwarzen Pelzmuff und hüllt das Gesicht in das warme Futter ihrer Kapuze. »Es ist doch lieb von ihm, es anzubieten, oder? Du hättest das Café sehen sollen, in dem wir essen waren. Es war ja so elegant. Die Geschäfte müssen wirklich gut für ihn laufen, wenn er sich so etwas leisten kann. Und dazu noch seine Kutsche. Diese kleinen Einspänner sind gerade groß in Mode, sagt Alice. Könntest du mal etwas langsamer gehen, bitte? Ich kann nicht so schnell. Wohin gehen wir überhaupt?«
Ich wirble zu ihr herum. »Ich gehe zum Hafen, um Tess davon abzuhalten, die Gefangenen vom Richmond Square zu befreien. Ich wäre dir für deine Hilfe sehr dankbar, wenn du mal für zwei Minuten aufhören könntest, von Paul zu reden.«
Vor einem Backsteinhaus, an dessen schmiedeeisernem Zaun sich gelbe Rosen ranken, bleibt Maura wie angewurzelt stehen. »Was? Warum sollte sie das vorhaben?«
Wahrscheinlich aufgrund einer Mischung aus meiner flammenden Rede und einer ihrer Vorhersehungen, nehme ich an.
Aber das kann ich Maura nicht sagen.
Ich fasse Maura am Arm und ziehe sie hinter mir her. »Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, wir können sie noch rechtzeitig aufhalten.«
Hat Tess etwa vorhergesehen, wie sie die Gefangenen befreit? Oder hat sie gesehen, dass ihnen etwas Schreckliches zustößt, und das ist jetzt ihre dickköpfige Methode, es verhindern zu wollen? Weil ich ihr erzählt habe, wir sollten unser Schicksal bekämpfen? Dass es besser wäre, etwas zu versuchen, als gar nichts zu tun?
Schweigend eilen wir weiter durch das wohlhabende Wohnviertel. Einige Einspänner mit jungen Männern und Frauen fahren an uns vorbei, offenbar unternehmen sie ihre Nachmittagsspazierfahrten. Sie alle haben eine Mutter oder Schwester oder ein Dienstmädchen als Anstandsdame auf der Rückbank mit dabei. Wie Paul haben sie das lederne Klappverdeck aufgespannt, um ihre zarten Passagiere vor dem Wind zu schützen. Wir laufen in die Straße nördlich der Kirche und entfernen uns vom hohen Turm der Richmond-Kathedrale.
Eine Straße weiter packt Maura mich am Arm. »Cate, sieh nur!«, flüstert sie.
Zu unserer Rechten steht die ausgebrannte schwarze Ruine eines Gebäudes. Die Backsteinfassade ist noch erhalten, aber das Dach und das Innere sind rußgeschwärzt, und kein Fenster ist mehr ganz. Offenbar war es ein Geschäft, doch jetzt kann ich durch die große Schaufensteröffnung bis zu dem Gebäude dahinter sehen. Ich frage mich, was für ein Laden es wohl war, bis ich das Schild entdecke, das an einem Mast davor hängt.
»Das war eine Buchhandlung«, sage ich verbittert, und ich muss daran denken, wie ich an dem Tag, an dem ich Chatham verließ, an Belastras Buchhandlung vorbeifuhr, vor der ein Schild mit der Aufschrift DAUERHAFT GESCHLOSSEN hing.
Besser die von Marianne gewählte Geschäftsaufgabe als das hier.
Ich bezweifle, dass der Brand ein Unfall war.
Maura läuft vor mir her, ihre Stiefel knallen wütend und laut wie Pferdehufe auf den Bürgersteig. Wir durchqueren einen kleinen Teil des Marktviertels und kommen an einem Blumenladen mit Rosensträußen vorbei, an einem Kurzwarengeschäft, einer Apotheke und einem Schuhmacher mit einem Fenster voller eleganter Lederstiefel. Der erfrischende Duft von Bergamotte umweht mich, als eine Dame in weißem Pelzumhang aus einem Teeladen kommt. Das letzte Geschäft in der Reihe ist ein Spielzeugladen. Das Schaufenster muss der Traum eines jeden Kindes sein. Es ist voll mit Zinnsoldaten, Stoffpuppen, Kreiseln, Geduldspielen und Springseilen. In der Mitte steht ein prachtvolles Puppenhaus.
»Oh«, haucht Maura und bleibt vor dem Fester stehen. Dann sieht sie über die Schulter zu mir und errötet. Offenbar ist es ihr peinlich, dass ich sie dabei beobachtet habe, wie sie nach solchen kindischen Dingen schmachtet. Sofort empfinde ich eine tiefe Zuneigung für sie. Sie ist eben immer noch meine kleine Schwester, die verzweifelt versucht, erwachsen zu wirken.
»Magst du Paul wirklich?«, frage ich leise. »Oder wolltest du bloß Informationen aus ihm herausbekommen?«
Wir biegen in eine Straße mit Doppelhäusern aus rotem Backstein ein. Die Gehwege sind hier nicht so gepflegt, aber dafür gibt es lachende, mit Murmeln spielende Kinder.
»Damit hatte es nichts zu tun«, behauptet Maura. »Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm eine Fahrt in seiner neuen Kutsche unternehme, und ich dachte, es könnte Spaß machen, also habe ich Ja gesagt.«
»Das war alles?«, bohre ich nach.
Maura grinst. »Na ja, ich dachte, du würdest dich vielleicht ärgern. Das kam noch dazu.« Sie senkt die Stimme. »Pass auf, was Harwood angeht, kannst du machen, was du willst. Ich habe wichtigere Dinge zu tun.«
»Na gut«, sage ich zweifelnd.
»Es stimmt.« Sie zieht den Kopf wieder in die Wärme ihrer Kapuze zurück; ihre Worte sind gedämpft, als sie bei mir ankommen. »Kümmre dich einfach um deine Angelegenheiten, und ich kümmere mich um meine.«
Die Straße fällt jetzt zum Fluss hin ab, und vor uns ist der Mast eines großen Schiffes zu sehen. Die Häuser hier sind ziemlich heruntergekommen. Baufällige Mietshäuser drängen sich auf viel zu kleinen Grundstücken zusammen. Gesprungene Fensterscheiben sind nur notdürftig mit Lumpen abgedichtet, um die Kälte draußen zu halten, aber das Stimmengewirr von drinnen dringt trotzdem auf die Straße. Fuhrwerke mit Waren aus den Lagerhäusern am Hafen rumpeln an uns vorbei. In einem schlammigen Park voller Schutt spielt eine Gruppe Jungen mit Besenstielen Schlagball. Ein Mann sitzt vor sich hinplappernd auf einer Bank. Um ihn herum gurren Tauben. Ich habe bereits in einem Mietshaus nahe besagtem Lagerhaus Essen ausgeliefert, von daher ist mir diese Gegend nicht unbekannt, aber ohne Robert und unsere Kutsche fühle ich mich hier nicht sicher.
Der Himmel ist ganz weiß vom bevorstehenden Schnee, und der Wind pfeift mir um die Ohren. Von Tess keine Spur. Je näher wir den Lagerhäusern kommen, desto größer wird meine Sorge. So viele schreckliche Dinge könnten ihr in dieser Gegend zustoßen, und nicht alle davon haben mit Magie zu tun.
Schließlich sehen wir eine große Backsteinlagerhalle mit einem halben Dutzend Wächtern davor, aber niemandem, der hineingeht oder herauskommt. »Das muss es sein«, sage ich und weise mit dem Kopf darauf. Ich ziehe Maura mit mir in eine dunkle Gasse voller Unrat. »Vielleicht sollten wir uns einen anderen Anschein geben?«
»Gute Idee«, stimmt Maura zu. Im Handumdrehen hat sie sich in ein Mädchen mit dunklen Locken, Schmollmund und einem fleckigen roten Mantel verwandelt.
Ich zögere und atme den salzigen Gestank von verrottendem Fisch ein. »Ich habe es noch nicht geschafft, eine Illusion länger aufrechtzuerhalten.«
»Ich mache es für dich«, bietet sie an, woraufhin ich überrascht die Augenbrauen hochziehe. »Oh, um Persephones willen, ich werde doch nicht zulassen, dass du verhaftet wirst. Jedenfalls nicht, ehe wir Tess da rausgeholt haben. Sie ist schließlich auch meine Schwester.«
Ich betrachte eine lose Strähne meiner Haare, die jetzt die gleiche braune Farbe haben wie ihre. Mein Umhang ist aus grober grauer Wolle, und ich trage abgenutzte, dreckige Arbeitsstiefel. »Danke«, sage ich und steure auf das Gebäude zu.
Es fühlt sich gut an, wieder mit Maura an einem Strang zu ziehen, statt gegeneinander zu arbeiten.
Einer der Wächter tritt vor und versperrt mir den Weg. Er ist nicht viel älter als wir. Sein flaumiger brauner Schnurrbart liegt ihm wie eine Raupe auf der Oberlippe. »Was wollt ihr?«
»Wir kommen unseren Vater besuchen. Er ist einer der Häftlinge.« Ich senke den Blick und versuche, so unterwürfig wie möglich zu klingen.
»Tut mir leid, Miss. Besuche sind erst in einer Stunde erlaubt.«
»Können wir nicht drinnen warten? Es ist so kalt hier draußen.« Maura blickt unter gesenkten Wimpern zu ihm auf und zieht zitternd den schäbigen Umhang enger um sich.
Der Wächter wird milder, als er Mauras Gesicht betrachtet. Sie konnte es natürlich nicht lassen, sich besonders hübsch zu machen. »In Ordnung. Geht geradeaus durch. Da sind noch ein paar andere, die sich am Feuer wärmen. Aber nähert euch dem Häftling nicht, bevor ihr die Erlaubnis dazu bekommt, verstanden? Ihr dürft ihm kein Essen oder Decken geben, ehe die Wächter es sagen. Sonst bringt ihr ihn nur in Schwierigkeiten.«
»Vielen Dank, Sir«, antworten wir.
In dem riesigen Raum wärmen sich ein halbes Dutzend Mädchen und Frauen die Hände an einer Feuertonne. Die meisten haben Körbe mit Essen dabei, und da erst fällt mir auf, dass auch wir Lebensmittel für unseren angeblichen Vater hätten mitbringen sollen. Ich blinzle, weil mir der Rauch in den Augen brennt. Es dauert einen Moment, bis ich Tess am anderen Ende des Grüppleins entdecke. Ihr blondes Haar steckt unter einer ungewohnten blauen Kapuze. Ich halte direkt auf sie zu, und sie sieht die zwei merkwürdigen Frauen, die sich ihr mit finsterem Blick nähern, verwirrt an, bis ich ihr zuraune, dass wir es sind. »Was machst du hier?«
»Vater besuchen, genau wie ihr. Ich habe ihm eine Decke mitgebracht«, sagt sie laut und hält uns eine von Motten zerfressene rote Decke hin.
»Es war verrückt von dir, einfach so alleine loszulaufen. Das hier ist kein Ort für kleine Mädchen«, erklärt Maura und zieht sie zur Seite.
In einer Ecke stehen drei weitere Wachen und rauchen Pfeife. Ein paar der Frauen, die um das Feuer herum stehen – Mütter der Häftlinge? Ehefrauen? – sehen uns neugierig an, aber die meisten unterhalten sich leise und stampfen mit den Füßen, um sich warm zu halten. Falls Yang auch kommen sollte, ist er jedenfalls noch nicht da; außer den Wächtern sind hier keine Männer.
Zu unserer Rechten befinden sich eine Reihe Zellen, die alle mit einer schweren metallenen Schiebetür verschlossen sind. Ich kann die Gefangenen nicht sehen, aber ich höre ihr leises Stimmengewirr – und ich kann sie riechen. Der Gestank ungewaschener Körper und menschlicher Exkremente weht zu uns herüber, und auch mit mehreren Metern Abstand erregt er Übelkeit in mir. Wie die Häftlinge das wohl aushalten? Wie lange werden die Brüder sie hier noch festhalten? Es sind bereits zwei Tage vergangen. Bei dieser Kälte werden die Leute bestimmt krank. Und was ist mit denen, die keine Familien haben, die ihnen Essen bringen? Lässt man sie hier verhungern?
Doch ich schüttle mein Mitleid gleich wieder ab. Ich bin hier, um Tess heil aus dieser Sache herauszubekommen.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, flüstere ich wütend.
»Sieh dir das hier doch nur an! Die Leute werden gehalten wie Tiere«, faucht Tess störrisch und wirft vielsagende Blicke auf die Fleischhaken, die von der Decke hängen, und die Blutflecken auf dem kalten Betonboden. »Das hier ist kein Lagerhaus, es ist ein Schlachthaus, und es ist kein Ort, an dem Menschen festgehalten werden sollten. Ich will ihnen helfen. Ich kann es. Ich weiß, dass ich es kann.«
»Was kümmert es dich überhaupt?« Maura schiebt die Hände in die Taschen. »Wir kümmern sie jedenfalls nicht. Wenn wir eingesperrt wären, würden sie den Schlüssel wegwerfen. Oder Schlimmeres.«
Tess’ Wangen und Nase sind rot von der Kälte. »Das weißt du doch gar nicht.«
»Oh doch. Und du bist naiv, wenn du etwas anderes glaubst«, erklärt Maura und wirft sich die braunen Locken über die Schultern.
»Cate?« Tess hält mir fragend die offene Hand entgegen. »Auch wenn das stimmt, sollten wir trotzdem besser sein. Wir sollten ihnen helfen, weil wir es können, weil es richtig ist. Und wenn wir ihnen nicht helfen, kommen sie alle aufs Gefängnisschiff.«
»Woher hast du das denn?«, fragt Maura und sieht dabei zu der rundlichen grauhaarigen Frau, die am dichtesten neben uns steht.
»Das hat einer der Wächter gesagt. Wir können es verhindern, aber wir müssen es jetzt tun. Bevor der Sturm noch schlimmer wird.« Tess zeigt auf die dicken Schneeflocken, die durch die kaputten Fensterscheiben hereinwehen.
Tess ist wahrscheinlich stark genug, es alleine zu schaffen, doch ich nehme trotzdem ihre Hand, damit sie auch meine Magie nutzen kann. Sie starrt auf die leere Betonfläche vor den Zellen.
Mit einem Krachen fällt jedes einzelne Vorhängeschloss auf den Boden. Keine Sekunde später fliegen eine nach der anderen laut knallend die Türen auf, und die Gefangenen kommen brüllend auf den Gang gelaufen. Ein großer schwarzer Mann ist der erste, gleich gefolgt von zwei stämmigen Blonden, die aussehen wie Brüder.
»Wer hat die Türen geöffnet?«, ruft einer der beiden Blonden. Sein Gesicht ist dreckverschmiert.
»Das war Hexerei!«, ruft eines der wartenden Mädchen und läuft mit fliegenden Zöpfen auf die Häftlinge zu. »Papa! Es war Hexerei!«
»Was zum Teufel ist hier los? Sofort stehen bleiben! Stehen bleiben!«, ruft einer der Wächter und fuchtelt erfolglos mit seiner Pistole in der Luft herum. Die auf ihn zulaufende Menge ignoriert den abgegebenen Warnschuss.
»Die Hexen sind uns zur Hilfe gekommen!«, ruft jemand.
»Danny! Danny, wo bist du?« Die rundliche alte Frau drängt sich an uns vorbei.
Die Wächter von draußen strömen herein, Schüsse fallen, aber die meisten Wächter erkennen schnell, dass sie unterlegen sind, drehen gleich wieder um und laufen davon. Die übrigen Wächter werden von den Häftlingen gepackt, zwei werden bereits den Gang zu den Zellen hinuntergeschubst. Die meisten Gefangenen sind jetzt draußen. Ein großer, dünner Mann mit dunklen Haaren stützt einen humpelnden Greis.
»Oh, nein«, sagt Tess, als zwei der Häftlinge auf einen auf dem Boden liegenden Wächter eintreten. »Das wollte ich nicht – sollen wir ihm helfen?«
Ich fasse sie am Arm. »Nein. Wir haben genug getan.«
»Was ist mit Meis Schwestern? Sollten wir nicht nachsehen, ob es ihnen gut geht?«, fragt sie.
»Wir müssen gehen. Ich wette, die entkommenen Wächter holen bereits Unterstützung.« Maura schiebt sich zum Ausgang, und ich ziehe Tess hinter mir her. Meis Schwestern müssen den Weg nach draußen selbst finden.
Die Häftlinge laufen überwältigt von ihrer plötzlichen Freiheit laut jubelnd die Straße hinauf. Maura führt uns in die entgegengesetzte Richtung, um das Lagerhaus herum und entlang der hölzernen, knarrenden Anlegestellen des Hafens. Zwischen den Landungsbrücken zweier riesiger Schiffe – einem Schoner namens Lizzie Mae, der Kohle entlädt, und einem großen Dreimaster mit Eisenrumpf, der vor Matrosen nur so wimmelt – bleiben wir stehen. Es ist hier so laut mit der ganzen Aktivität an Bord, dem vielen Krachen und Klirren, dass niemand uns hören wird. Mauras Haare färben sich rot, ihr Umhang wird schwarz, und mein eigenes, im Wind wehendes Haar erblondet, als Maura die Illusion wieder auflöst.
»Wir haben es geschafft!«, ruft Tess und wirft sich mit solcher Wucht in meine Arme, dass ich beinah umfalle. »Ich wusste, dass wir es schaffen. Was habe ich dir gesagt – wir sind ein wunderbares Gespann!«
Maura wendet sich ab und starrt hinab in den träge fließenden grauen Fluss. »Ihr zwei seid also ein Gespann?«
»Ich meine … wir drei sind ein wunderbares Gespann, wenn wir zusammenarbeiten, nicht wahr?«, stammelt Tess. Sie wird rot und blickt schuldbewusst zu Boden. »Darum dürfen wir auch nicht diese ganzen Angelegenheiten der Schwesternschaft zwischen uns kommen lassen.«
»Das ist aber bereits passiert«, sagt Maura leise. Sie hat einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. »Ich habe mich stets um dich bemüht, weißt du noch? Ich habe dir früher immer die Haare gebürstet und sie geflochten, als wärst du meine Puppe. Ich habe dir Lieder vorgesungen und dir Märchen erzählt. Aber wenn Cate aus dem Garten hereinkam, bist du immer sofort zu ihr gelaufen. Es war schon immer Cate, zu der du gegangen bist, bei jedem Kratzer und jedem schlechten Traum.«
»Das ist nicht wahr.« Tess greift nach dem schneebedeckten Ärmel von Mauras Umhang. »Ich habe mich in letzter Zeit eher Cate anvertraut, aber das liegt nur daran, dass du so abweisend warst. Als würdest du nichts mehr mit uns zu tun haben wollen. Ich weiß, Elena hat dir das Herz gebrochen, Maura, aber seitdem bist du einfach nur kalt.«
»Du hältst mich für kalt?« Maura schüttelt Tess’ Hand ab. »Cate ist doch diejenige, die sich nicht um diese armen Mädchen schert, die gerade umgebracht werden! Ich habe vorgeschlagen, ins Nationalratsgebäude einzubrechen und sie zu retten, aber sie hat die Idee verworfen, so wie sie alles verwirft, was nicht ihre eigene Idee ist! Sie denkt doch nur an sich – an sich und Finn. Wusstest du, dass sie sich immer noch mit Bruder Belastra trifft?«
Der Wind nimmt zu. Der Fluss ist aufgewühlt, das große Schiff neben uns schwankt wie in einem heftigen Sturm. Die Männer an Deck laufen laut rufend hin und her, um die Fracht zu sichern. Ist es nur der aufkommende Schneesturm, oder verliert Maura mal wieder die Kontrolle?
»Es geht hierbei doch nicht um Cate«, sagt Tess bestimmt und weicht einen vorsichtigen Schritt zurück. »Es geht um dich und mich. Unsere Beziehung als Schwestern.«
»Es geht immer um Cate«, erwidert Maura. Ihr schwarzer Mantel bläht sich in der plötzlichen Windböe auf. »Sie muss sich überall hineindrängen! Wir wissen noch nicht einmal, wer von uns die Seherin ist, aber du hast dich bereits entschieden, oder etwa nicht? Wenn es nach dir ginge, würde doch Cate die Schwesternschaft anführen.«
Tess strafft die Schultern. »Ich mag Schwester Inez nicht. Ich traue ihr nicht. Von daher, ja, ich denke, Cate ist die beste Wahl.«
Maura ist vollkommen perplex, als hätte Tess sie geohrfeigt. »Und was ist mit mir? Vertraust du mir denn überhaupt nicht?« Sie lacht hysterisch. Tränen stehen ihr in den blauen Augen. »Lass mich raten: Du hältst mich für leichtsinnig. ›Zu sehr von Gefühlen gesteuert‹, wie Elena sagt. Als wenn es so furchtbar wäre, tief zu empfinden und mehr für mich und Mädchen wie uns zu wollen!«
Mit einem gewaltigen Platsch fällt eine schwere Kiste ins Wasser, woraufhin die Matrosen auf der Landungsbrücke einen Schwall Flüche loslassen.
»Maura, lass uns nach Hause gehen und dort weiterreden«, schlägt Tess vor.
»Cate wird diesen Krieg nicht gewinnen, weißt du?«, erklärt Maura. Der Schnee fällt jetzt immer dichter, die Schiffe in der Ferne sind bereits nicht mehr zu erkennen. Der Boden unter meinen Absatzstiefeln ist glatt. »In diesem Krieg sind Kämpferinnen wie Inez und ich gefragt. Kämpferinnen, die bereit sind zu tun, was nötig ist.«
»Wir befinden uns aber nicht im Krieg«, fahre ich sie an. »Und das ist auch gut so, denn die Brüder sind hundertmal mehr als wir.«
»Aber wir sind hundertmal so mächtig.« Ihr Lächeln ist kalt, als sie auf den Hafen hinausblickt. »Du willst ein paar Hexen befreien? Das reicht nicht. Wir müssen den Menschen zeigen, wozu wir wirklich in der Lage sind. Deswegen werden wir uns auch den Höchsten Rat vornehmen.«
»Inwiefern?«, fragt Tess, und mein Herz wird schwer.
»Wir werden die Erinnerung aller Ratsmitglieder auslöschen, so wie es die Töchter von Persephone mit ihren Feinden gemacht haben. Wenn wir mit ihnen fertig sind, werden sie noch nicht einmal mehr ihren eigenen Namen wissen.« Die Stimme meiner Schwester klingt abgrundtief böse. »Die Brüder werden aufhören, unschuldige Mädchen zu ermorden, und wir rufen den Menschen damit wieder ins Gedächtnis, wozu wir Hexen fähig sind.«
Deswegen sollte Finn also für Inez spionieren. Damit sie einen Krieg heraufbeschwören kann.
»Sie will uns enttarnen? Wir sind noch nicht so weit, Maura!« Tess ist ganz blass geworden.
Maura wischt sich die Haare aus den Augen. »Niemand wird die Sache mit der Schwesternschaft in Verbindung bringen. Sie werden bloß wissen, dass Hexen dafür verantwortlich sind.«
»Das wird die Brüder nicht davon abhalten, unschuldige Mädchen zu ermorden. Sie werden doppelt so hart zurückschlagen, verstehst du das denn nicht?«, protestiere ich. »Das kann Inez nicht tun. Cora ist noch nicht einmal tot, und wenn sie erst einmal gestorben ist, wird Inez auch nur so lange an der Macht sein, bis eine von uns bereit ist, die Führung zu übernehmen.«
»Was ich sein werde«, erklärt Maura. »Warum kannst du mir nicht diese eine Sache lassen?«
»So funktioniert das nicht, Maura. Wir können nicht einfach entscheiden, dass du es bist. Es liegt in den Händen von Persephone«, sagt Tess und geht mit ausgestreckten Händen auf Maura zu, als wäre sie ein wildes Tier.
»Auch wenn du es könntest, würdest du mich nicht wählen, stimmt’s?« Mauras Lippen beben. »Mich wählt doch nie jemand.«
Tess legt ihr die Hand auf den Arm. »Maura, ich liebe dich.«
Maura schüttelt sie ab. »Lass mich in Ruhe!«
Tess stolpert zurück – viel weiter als Mauras Stoß hätte vermuten lassen – und rutscht auf dem eingeschneiten Anleger aus. Sie schwankt und rudert einen Augenblick mit den Armen über dem eisigen Fluss. Sie kreischt entsetzt.
Ich bekomme sie gerade noch rechtzeitig zu fassen und ziehe sie zurück. Sie wirft mir die Arme um die Taille und klammert sich zitternd wie ein Kind an mich.
Maura laufen die Tränen übers Gesicht. »Das wollte ich nicht …«
»Du hättest mich beinah umgebracht«, sagt Tess wie gelähmt. »Ich kann nicht schwimmen. Du weißt, dass ich nicht schwimmen kann.«
Tess hat schon immer Angst vor Wasser gehabt; sie ist nie mit mir in den Teich gegangen. Mrs O’Hare hat sie immer damit geneckt, dass Mutter sie wohl als Säugling mal ins Becken hat fallen lassen.
»Ich kann es eben nicht … Wenn ich aufgebracht bin, kann ich es eben nicht kontrollieren«, sagt Maura. »Ich habe dir doch gesagt, dass du dich von mir fernhalten sollst. Ich … Lasst mich einfach in Ruhe, alle beide! Ich brauche euch nicht. Ich brauche überhaupt niemanden!«
Und damit dreht sie sich um und läuft über die verschneite Straße fort. Tess im Arm blicke ich Maura hinterher.