Kapitel 2

»Da bist du ja!«, ruft Rilla Stephenson, als sie in unser gemeinsames Zimmer gehüpft kommt.

Überrascht sehe ich auf. Ich liege bäuchlings auf meinem schmalen Federbett und habe gerade zum wiederholten Male die Post von zu Hause gelesen. Den Brief, sollte ich besser sagen, denn ich habe bisher bloß einen bekommen, dessen Inhalt ich bereits auswendig kenne:

Liebe Cate,

letzte Woche ist Vater wieder nach Hause gekommen. Er war sehr erstaunt, dass Du nach New London gegangen bist, aber er hat Deine Entscheidung bereitwillig akzeptiert. Er bat mich, Dir seinen Segen zu geben und Dich seiner Liebe zu versichern. Er sieht dünn aus, und sein Husten ist noch schlimmer als sonst, aber er hat versprochen, bis zum neuen Jahr bei uns zu bleiben – auch wenn er der Überzeugung ist, dass es besser ist, wenn Schwester Elena uns weiter unterrichtet.

Nachdem Maura eine Woche lang in ihrem Zimmer geblieben ist, hat sie sich inzwischen weitestgehend erholt. Sie hat sich mit all ihrer Energie aufs Lernen gestürzt und bereits große Fortschritte gemacht. Ich mache mir Sorgen, dass sie sich damit übernimmt. Ich wollte sie überreden, Dir zu schreiben, aber sie ist fest davon überzeugt, dass Du so viele aufregende Sachen erlebst, dass es Dich überhaupt nicht interessiert, was zu Hause passiert. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich hoffe, dass sie sich bald mit ihrem Platz hier zu Hause abfindet.

Letzte Woche haben wir zum Nachmittagstee eingeladen, und viele sind unserer Einladung gefolgt. Ich habe köstliche Ingwerkekse gebacken, und alle haben sich nach Dir erkundigt. Mrs Ishida sagt, sie kann sich nicht erinnern, wann zum letzten Mal ein Mädchen aus Chatham der Schwesternschaft beigetreten ist, und sie bat mich, Dir ihre besten Wünsche auszurichten.

Ich vermisse Dich furchtbar, Cate. Vater ist zwar zurück, aber ohne Dich ist es trotzdem langweilig und einsam hier. Penny hat Junge bekommen, drei weiße und ein schwarzes, und Mrs O’Hare schilt mich immer wieder aus, wenn ich auf den Heuboden klettere, um sie mir anzusehen. Das ist alles, was diese Woche Aufregendes passiert ist.

Ich hoffe, dass es Dir gut geht und Du nicht zu viel Heimweh hast. Schreib mir, sobald Du kannst.

In Liebe

Deine Tess

Während ich an meine geniale kleine Schwester denke – mit ihren blonden Locken und den grauen Augen, denen nichts entgeht –, werde ich von Heimweh erfasst. Noch bis vor sechs Wochen habe ich Tess jeden Tag seit ihrer Geburt gesehen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich ihren ersten Schrei hörte – der nach einem tot geborenen Bruder eine große Erleichterung war – und wie ich zum ersten Mal ihr brüllendes rotes Gesichtchen sah. Und Maura … Wir sind zu nah beieinander, als dass ich mich an eine Zeit ohne sie erinnern könnte; sie war einfach immer schon da, um sich mit mir zu streiten und mich zum Lachen zu bringen.

Ich hasse die Schwesternschaft dafür, uns getrennt zu haben. Und ich verabscheue unsere magischen Kräfte dafür, der Schwesternschaft einen Grund für unsere Trennung gegeben zu haben. Wenn wir ganz normale, gewöhnliche Mädchen wären …

Aber das sind wir nicht. Und es hilft auch nichts, darüber nachzugrübeln.

»Warum kommst du nicht mit runter ins Wohnzimmer?«, fragt Rilla.

Zu Hause hatte ich immer mein eigenes Zimmer. Es ist seltsam, sich das Schlafzimmer mit einer fremden Person zu teilen. Wir haben zwei schmale Betten, zwei Kleiderschränke und einen Frisiertisch – und keinerlei Privatsphäre. Rilla weiß, dass ich Heimweh habe, und sie ist fest entschlossen, mich aufzuheitern. Sie liest mir aus ihren Schauerromanen vor, bringt mir heiße Schokolade, bevor wir ins Bett gehen, und teilt die klebrigen Bonbons aus Ahornsirup, die ihr die Mutter von der Farm in Vermont schickt, mit mir.

Sie meint es gut, aber nichts von alldem kann ein gebrochenes Herz heilen.

»Nein, danke. Ich muss noch lesen; ich kann mich bei dem Geschnatter da unten nicht konzentrieren.« Ich setze mich auf und greife nach einem Geschichtsbuch, das am Fußende meines Bettes liegt.

»Caaate«, stöhnt Rilla, und dann bahnt sie sich einen Weg durch die Unordnung auf dem Boden zu ihrem Bett. Rillas Bett steht unter dem Bogenfenster, meines an der Wand im rechten Winkel dazu. »Du kannst dich nicht länger so von allen absondern. Willst du die anderen denn gar nicht kennenlernen?«

Nicht unbedingt, nein. Die anderen Mädchen sehen mich immer an, als müsste sich jeden Augenblick irgendeine erhabene Macht in mir manifestieren, und ich habe die ganze Zeit über das Gefühl, sie zu enttäuschen.

»Morgen vielleicht?«, schlage ich vor.

»Das sagst du jedes Mal.« Rilla springt auf ihr Bett. »Ich weiß ja, dass du nicht hier sein willst. Alle wissen das. Du gibst dir ja auch keine Mühe, es zu verstecken. Aber es ist schon fast Dezember – du bist jetzt seit über einem Monat hier. Kannst du nicht wenigstens versuchen, das Beste daraus zu machen?«

»Das tue ich ja! Ich versuche es doch!«, protestiere ich betroffen.

Nachdem ich vor zwei Tagen Mei geheilt habe, bin ich aus Botanik – dem einzigen Fach, das mir etwas bedeutet – herausgenommen und in den fortgeschrittenen Heilkurs gesteckt worden. Mei ist seitdem meine Unterrichtspartnerin und fragt mich immer, ob ich beim Nachmittagstee nicht mit ihr Schach spielen mag. Und Rilla legt großen Wert darauf, während der Mahlzeiten und unseren gemeinsamen Unterrichtsstunden bei mir zu sitzen, obwohl es sicherlich einfacher – und unterhaltsamer – für sie wäre, sich zu den anderen schnatternden, lachenden Mädchen zu gesellen, statt sich mit mir abzugeben, die kaum ein Wort spricht.

Habe ich den beiden überhaupt schon einmal für ihre Bemühungen gedankt?

»Tust du das wirklich?«, fragt Rilla, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ihr Ton ist ungewöhnlich scharf. Sie reibt sich mit der Hand über die Wange voller Sommersprossen, die mich immer an Finn erinnern. »Ich meine damit nicht die Magiestunden oder die Essensausgabe an die Armen. Ich meine, du solltest versuchen, das hier zu deinem Zuhause zu machen. Sieh dir doch nur mal deine Seite des Zimmers an!«

Oh. Da fällt mir plötzlich der Unterschied zwischen ihrer Seite – die gelbe Steppdecke mit den ungleichen Stichen auf ihrem Bett, die Romane und Tassen, die Kleidungsstücke, die überall herumliegen – und meiner Seite auf, die vollkommen kahl ist. Ich habe nie darum gebeten, dass mir mein Teppich mit dem Rosenmuster oder Mutters Aquarellgemälde von unserem Garten geschickt wird. Ich habe noch nicht einmal meine Frühlingskleider ausgepackt. Ich rede mir selbst ein, dass ich nicht zu viel Platz für mich beanspruchen will – aber ist dem wirklich so, oder will ich nicht vielmehr jeden Augenblick meine Sachen packen und wieder gehen können?

»Ich versuche, dir eine Freundin zu sein, Cate. Aber du tust oft genug so, als wäre ich eine lästige Fliege, die du am liebsten totschlagen würdest. Du fragst mich nie, wie mein Tag war. Du hast mich noch nicht ein Mal danach gefragt, wieso ich überhaupt hier bin!«

Die Vorwürfe hören gar nicht mehr auf, es ist eine einzige Litanei, und ich bin vollkommen überrascht. Rilla ist eine so durch und durch gutmütige Person; ich hatte keine Ahnung, dass sie mein abweisendes Verhalten überhaupt bemerken, geschweige denn, sich davon verletzt fühlen würde.

»Weißt du, ich verteidige dich, wenn die anderen sagen, du seist arrogant und eingebildet. Und Mei verteidigt dich auch. Aber du musst langsam mal anfangen, selbst etwas zu tun.« Rilla schwingt die Beine über die Bettkante. Sie trägt ein neues Kleid, ein gelbes Brokatkleid mit voluminösen orangefarbenen Ballonärmeln, einer orangefarbenen Taftschleife an der Brust und orangefarbenen Chiffon-Rüschen am Saum. Es steht ihr gut. Habe ich ihr das eigentlich schon mal gesagt? Ich bin immer so sehr mit meinen Unterrichtsstunden beschäftigt – und damit, Tess und Maura zu vermissen …

»Vielleicht will ich auch einfach nur mal fünf Minuten für mich sein! Vielleicht zerbreche ich mir auch über wichtigere Dinge den Kopf, als darüber nachzudenken, wer gerade ein neues Kleid trägt oder was Alice schon wieder Gemeines gesagt hat«, blaffe ich sie an. Ich ziehe die Schultern hoch und verschränke die Arme mit dem Buch vor der Brust.

Rilla wird knallrot. »Das ist auch nicht alles, worüber ich mir Gedanken mache, und das weißt du auch – oder du würdest es wissen, wenn du dir zur Abwechslung die Mühe machen würdest, mit mir zu reden. Wir wissen alle, dass die Dinge schlimm stehen, aber deswegen müssen wir nicht jede einzelne Sekunde darüber nachgrübeln. Du könntest ruhig mal versuchen, ab und zu ein bisschen Spaß zu haben.«

»Ja, vielleicht«, flüstere ich. Die Enttäuschung in ihrer Stimme lässt mich kapitulieren.

Ich könnte mir ja wirklich mehr Mühe geben. Ich könnte mit den anderen nach dem Abendessen Schach oder Dame oder Scharade spielen, durch die Modezeitschriften aus Dubai blättern, mich über die neuen Verhaftungen der Bruderschaft unterhalten und was die Schwestern als Nächstes tun sollten. Das ist es, was die anderen Mädchen von mir erwarten. Ich könnte hier durchaus Freundinnen haben, wenn ich denn wollte.

Aber das würde bedeuten, dass ich das hier als mein neues Zuhause akzeptieren müsste, dass mein Platz hier ist, unter diesen Fremden, und dass die Schwesternschaft meine Zukunft ist, nicht Finn. Ich müsste akzeptieren, dass es kein Zurück mehr gibt und dass es richtig von der Schwesternschaft war, mich hierherzubringen, trotz ihrer schmutzigen Methoden und meiner Vorbehalte – eben weil ich hierhergehöre.

Ich hole tief Luft, lehne mich gegen das Kopfteil aus Messing zurück und strecke die Beine vor mir aus. »Wie bist du hier gelandet, Rilla?«

Sie sieht mich finster an. »Fragst du, weil du es wirklich wissen willst oder weil du dich dazu verpflichtet fühlst?«

»Ich will es wirklich wissen«, sage ich aufrichtig. »Und es tut mir leid, dass ich nicht schon eher danach gefragt habe.«

»Nun gut. Ich habe etwas ziemlich Dummes getan.« Sogar im Kerzenlicht kann ich sehen, wie Rillas Ohren rot anlaufen. »Da war ein Junge, in den ich verliebt war. Charlie Mott. Er hatte schwarze Haare und ein schwarzes Pferd, und er sah einfach unheimlich gut aus! Ich wollte unbedingt, dass er auf mich aufmerksam wird. Eines Samstagabends sind wir mit ein paar anderen auf eine Schlittenkutschfahrt gegangen, und ich habe zugesehen, dass ich neben ihm saß. Aber Emma Carrick saß auf seiner anderen Seite, und er hat den Arm um sie gelegt statt um mich. Ich war ja so eifersüchtig. Es ist dann alles etwas aus dem Ruder gelaufen. Ich dachte noch, wenn sie doch nur nicht so hübsch wäre, und auf einmal war sie es nicht mehr – sie war hässlich! Sie bekam ganz plötzlich einen furchtbaren Nesselausschlag, und ihre Nase wurde so lang!« Rilla zeigt ungefähr fünfzehn Zentimeter vor ihre eigene wohlgeformte kleine Nase. »Als Charlie es sah, ist er entsetzt aufgesprungen. Und ich … nun ja, ich konnte nicht anders, als zu lachen.«

Gütiger Himmel, was für eine alberne Gans. Doch im nächsten Moment stelle ich mir vor, Finn würde die Hand eines anderen Mädchens halten, und fühle mit ihr.

»Emma fing an zu weinen wegen ihrer Nase, und ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, ganz ehrlich, also habe ich es wieder rückgängig gemacht. Aber dann schrie sie wie verrückt, dass ich sie verhext hätte, weil ich eifersüchtig auf sie sei. Da haben die Jungen den Schlitten zur Kirche hinuntergefahren und mich angezeigt. Charlie Mott hat mich danach noch nicht einmal mehr angesehen«, seufzt Rilla.

»Aber Schwester Cora hat sich bei deiner Verhandlung für dich eingesetzt.«

»Ja.« Rilla zieht die Knie an die Brust und legt das Kinn auf ihrem gelben Brokatrock ab. »Und sie hat mich hierhergebracht. Sonst wäre ich sicherlich nach Harwood geschickt worden.«

Schwester Cora hat ein großes Netzwerk von Späherinnen, bestehend aus Gouvernanten und ehemaligen Klosterschülerinnen, die Schwester Cora informieren, wenn sie vermuten, dass eine Anklage wegen Hexerei auf unleugbaren Tatsachen beruht. Wenn Schwester Cora rechtzeitig dorthin gelangt, setzt sie sich für die Mädchen ein, indem sie die Mitglieder der Bruderschaft und die Zeugen mit Gedankenmagie bezwingt. Und dann nimmt sie die Mädchen mit zur Schwesternschaft.

»Gibt es eigentlich auch Mädchen, die sich weigern, mit ihr zu kommen?«

Rilla sieht mich an, als wäre ich verrückt. »Warum sollten sie? Wenn du erst einmal ins Visier der Bruderschaft geraten bist …« Sie schüttelt den Kopf und schnipst sich eine braune Locke aus dem Gesicht. »Hier sind wir sicherer. Wir lernen, unsere Magie zu kontrollieren, und die Schwestern beschützen uns.«

Die Schwesternschaft wurde 1815 von Bruder Thomas Dolan als Zufluchtsort für seine Schwester Leah gegründet. Anfangs waren es nur eine Handvoll Hexen, die im Geheimen hinter dem Schleier der Frömmigkeit agierten. 1842 entschieden sie sich dann, junge Hexen aufzunehmen und sie in Magie zu unterrichten. Schwester Cora war eine der ersten Klosterschülerinnen. Seitdem greift sie immer wieder in Gerichtsverhandlungen ein und sorgt so dafür, dass wir stetig mehr werden. Zurzeit gibt es etwa fünfzig Schülerinnen und ein Dutzend Lehrerinnen bei der Schwesternschaft, und außerdem zwei Dutzend Gouvernanten, die über ganz England verteilt sind, sowie mindestens hundert ehemalige Schülerinnen – wie Mrs Corbett, unsere Nachbarin in Chatham –, die als Späherinnen fungieren. Die meisten Schülerinnen werden keine richtigen Schwestern; sobald sie ihr achtzehntes Lebensjahr erreichen, verlassen sie das Kloster und leben ein ganz normales Leben als Ehefrauen und Mütter.

Das wird mir natürlich nicht möglich sein. Nicht, wenn ich die Verkündete bin.

»Hast du denn nie Heimweh?«, bohre ich nach. »Vermisst du deine Brüder gar nicht?«

»Doch«, antwortet Rilla mit einem Blick auf die Fotografie über ihrem Bett. Darauf ist sie mit ihren zehnjährigen Zwillingsbrüdern Teddy und Robby, dem zwölfjährigen Jeremiah und dem vierzehnjährigen Jamie zu sehen. Fünf schelmische kleine Racker mit Locken und Sommersprossen. »Aber es war auch nicht einfach als einziges Mädchen – und einzige Hexe. Es war nicht leicht, es geheim zu halten.«

Ich kann mir kaum vorstellen, dass Rilla irgendetwas geheim halten kann, so eine Schnatterliese, wie sie ist.

»Ich glaube, Jamie – ach, ich soll ihn ja jetzt James nennen, ich vergesse das immer –, James ahnt es vielleicht. Und Mama weiß es natürlich. Sie ist nämlich auch eine Hexe, aber keine besonders gute. Sie beherrscht nur ein paar ganz einfache Illusionszauber. Nicht, dass ich so viel besser wäre. Du hast sicherlich schon gemerkt, was für ein hoffnungsloser Fall ich bin, wenn es um Bewegungszauber geht, und Heilen kann ich überhaupt nicht«, erklärt Rilla verlegen. »Ich kann wirklich froh sein, dass die Schwestern mich überhaupt wollten.«

»Ich wünschte, mir ginge es auch so. Dass ich darüber froh wäre«, platze ich heraus. Unser Zimmer hat ziemlich hohe Wände, aber jetzt, während unserer leisen Unterhaltung bei Kerzenschein und zugezogenen Vorhängen, kommt es mir klein und gemütlich vor. »Fragst du dich nie, wie dein Leben wohl aussähe, wenn du nicht erwischt worden wärst?«

»Wahrscheinlich hätte ich weiterhin Bonbons aus Ahornsirup gemacht, irgendwann geheiratet und einen Haufen Rabauken großgezogen, genau wie Mama.« Rilla wirft mir ein Bonbon zu, und ich stecke es mir in den Mund. »Aber ich bin nun mal erwischt worden; was soll ich also darüber nachbrüten. Ich wollte schon immer Schwestern haben, und jetzt habe ich Dutzende. Ich bin glücklich hier.«

Ich beuge mich vor und streiche die zerknitterte blaue Steppdecke glatt. »Es macht dir also nichts aus, dass du gar keine Wahl hattest?«

»Es ist bei Weitem besser als Harwood«, seufzt Rilla. »Wir haben es warm, wir haben zu essen, und wir haben ein Dach über dem Kopf. Es ist nun wirklich nicht wie im Gefängnis hier, Cate.«

Aber für mich fühlt es sich so an. Selbst wenn es meine Entscheidung war hierherzukommen, war es keine wirkliche Entscheidung.

Ich kann nicht aufhören, dem Leben hinterherzutrauern, das mir verwehrt wurde.

Ich sollte nicht an ihn denken, aber die Erinnerungen sind hinterhältig. Sie schleichen sich ohne Vorwarnung heran; alles scheint sie hervorzurufen. Immer wieder spielen sie sich in meinem Kopf ab, wunderschön und quälend zugleich: Finn, wie er mich damit aufzieht, Piratengeschichten zu lesen; Finn, wie er mich in unserem Gartenpavillon küsst, sodass ich beinah verrückt werde; Finn, wie er um meine Hand anhält und mir den Rubinring seiner Mutter ansteckt.

Und die letzte Erinnerung: Finn, wie er dasteht, als ich die Kirche verlasse, in der ich eigentlich unsere Verlobung bekannt geben sollte, und mich fragt, warum.

Ich dachte wirklich, ich könnte ihn heiraten und in Chatham bleiben und glücklich sein.

Wie dumm von mir. Die Schwesternschaft hätte es niemals zugelassen. Nicht, solange eine der Cahill-Schwestern die Schwesternschaft wieder an die Macht bringen könnte.

Was mag Finn wohl jetzt von mir denken?

Doch über diese Frage nachzudenken, macht mich nur noch unglücklicher.

Rilla hat recht. Ich muss aufhören zu schmollen.

Ich stehe auf. »Gut. Gehen wir hinunter?«

»Wirklich?« Rilla schnellt empor wie ein Springteufel.

»Ja. Ich werde dir von nun an eine bessere Freundin sein, Rilla. Gibst du mir noch eine Chance?«

Sie grinst und hüpft vom Bett. »Oh, keine Sorge. So schnell gebe ich nicht auf.«

Ich suche gerade meine Bücher zusammen, und Rilla steckt noch ein paar Bonbons ein, um sie mit ins Wohnzimmer zu nehmen, als es an unserer Tür klopft. Rilla reißt die Tür auf, und davor steht Schwester Cora höchstpersönlich.

»Guten Abend, Marilla. Wie geht es dir?« Schwester Coras blaue Augen funkeln wie Saphire; sie erinnern mich an Mauras.

»G-gut«, stottert Rilla überrascht. »Wie geht es Ihnen, Ma’am?«

»Es ging mir schon besser«, gesteht unsere Schulleiterin mit geschürzten Lippen. »Catherine, dürfte ich dich bitten, mich auf eine Tasse Tee in mein Zimmer zu begleiten?«

Mit ihren glänzenden weißen Haaren, die sie wie eine Krone hübsch um den Kopf geflochten trägt, und ihrem taubengrauen Kleid mit weichem weißen Pelzbesatz sieht Schwester Cora aus wie eine majestätische alte Königin. Sie sitzt auf ihrem geblümten Sessel und plaudert mit mir. Sie schenkt uns Tee ein.

Und lässt mich warten.

Meine Gedanken rasen. Ist Maura oder Tess etwas zugestoßen? Hat Schwester Cora etwas Neues über die Prophezeiung erfahren? Unsere Äbtissin lädt ihre Schülerinnen nicht ohne Grund zum Tee.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Schwester?«, frage ich schließlich.

Sie betrachtet mich über den Goldrand ihrer Teetasse hinweg. »Ich würde dir gerne vertrauen können, Catherine.«

Sie klingt, als hätte sie da so ihre Zweifel.

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, antworte ich ruhig und streiche über meinen marineblauen Rock.

Cora lässt ein lautes, kehliges Lachen hören, das mehr zu einer Bardame als zu einer Königin passen würde. »Verständlich. Ich weiß, dass du nicht aus freien Stücken hier bist. Ich würde mich gerne bei dir dafür entschuldigen, aber das würde mich wohl wie eine Heuchlerin aussehen lassen, nicht wahr? Ich möchte, dass du mir vertraust, aber ich weiß, dass so ein Vertrauen nicht schnell aufgebaut ist. Unglücklicherweise haben wir leider nicht viel Zeit. Hier.«

Sie reicht mir eine Tasse Tee und streift dabei leicht mit dem kleinen Finger über meine Hand.

Als ihre Haut die meine berührt, verschlägt es mir den Atem.

Schwester Cora ist krank. Böswillig liegt das Leiden in ihrem Körper verborgen. Als ich mit meiner Magie danach taste, fühle ich es wie eine schwarze Wolke in ihrem Bauch, und aus reinem Selbsterhaltungstrieb zucke ich zurück. Die Tasse fällt zu Boden. Der Tee spritzt auf mein Taftkleid und sickert zwischen den weißen Porzellanscherben in den hellgrünen Teppich.

»Oh, das tut mir leid«, sage ich beschämt, aber ich kann den Blick nicht von ihr lösen.

Auf einen Wink ihrer Hand fliegen die Scherben in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch. »Du kannst es also spüren«, stellt sie fest.

»Sie sind krank«, flüstere ich. Sogar im flackernden Kerzenschein kann ich ihre Falten an Hals und Gesicht sehen, und die blauen Adern, die sich unter der pergamentenen Haut ihrer Handrücken abzeichnen. Sie muss fast siebzig sein.

»Ich sterbe«, korrigiert sie mich. »Sophia gibt ihr Bestes, aber sie kann mir stets nur ein paar Stunden des Friedens schenken. Doch was mir am meisten Sorge bereitet, ist die Frage meiner Nachfolge. Inez wird die Schwesternschaft so lange leiten, bis die Verkündete volljährig ist. Ich will offen mit dir sprechen, Catherine. Du wirst im März siebzehn, und mir wäre es lieb, wenn Inez die Leitung der Schwesternschaft nicht länger übernimmt als unbedingt notwendig. Es ist wichtig, dass du verstehst, was auf dem Spiel steht.«

Die Angst kriecht mir den Rücken hoch. Ich bin hierfür noch nicht bereit. Ich bin es zwar gewohnt, mich um meine Schwestern zu kümmern, aber für über hundert Hexen verantwortlich zu sein? Ich weiß doch gar nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wie um alles in der Welt ich sie beschützen soll. Ich dachte, es würde noch Jahre dauern, bis ich an die Macht käme und die Führung übernehmen müsste!

»Ich weiß sehr wohl, was auf dem Spiel steht.« Ich stehe auf und stemme die Hände in die Hüften. Meine Angst lässt mich schnippisch werden. »Ich bin eine Hexe, meine Schwestern sind Hexen, und meine Freundinnen sind Hexen. Denken Sie etwa, ich will mit ansehen, wie Mädchen wie wir ertränkt, gehängt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden? Ich wünschte, ich wüsste, wie ich es verhindern kann, aber ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.«

Schwester Cora nippt an ihrem Tee. »Wenn du dich setzt, kann ich es dir erklären.«

Ich nehme wieder auf dem großen geblümten Sessel Platz und wärme meine Hände an der neuen Teetasse, die sie mir reicht. Das Kloster ist eigentlich ein äußerst modernes Gebäude; es wurde mit Gasheizungen und Toiletten mit Wasserspülung ausgestattet. Aber die Räume haben sehr hohe Decken und gotische Bogenfenster, durch deren Rahmen der eisige Novemberwind zieht. Ein bisschen kalt ist mir hier immer.

»Du bist ein kluges Mädchen, Catherine. Ich gehe davon aus, dass dir die aktuellen Unstimmigkeiten innerhalb der Schwesternschaft nicht entgangen sind«, fängt Schwester Cora an zu erklären. »Einige sind des Wartens müde geworden. Sie sind der Ungerechtigkeiten gegenüber Hexen und Frauen überdrüssig. Und jetzt, da wir dich gefunden haben, wollen sie den offenen Krieg mit der Bruderschaft. Sie sagen, die Zeit sei reif, dass wir wieder die Macht übernehmen, und wir sollten alles dafür tun, was notwendig ist. Hast du solche Gespräche bereits verfolgt?«

»Ja, das habe ich.« Alice schwingt nach dem Abendessen gerne im Wohnzimmer solch leidenschaftliche Reden.

»Und dann gibt es diejenigen, die den rechten Augenblick abwarten wollen. Die Angst davor haben, was für Opfer so ein Krieg mit sich bringen würde. Ich gehöre zu Letzteren«, räumt Schwester Cora ein. »Ich denke, einen Krieg zu führen, bevor wir bereit sind, könnte desaströse Folgen haben.«

Ich nehme einen Schluck von meinem Tee, der köstlich und ein bisschen scharf schmeckt. Wahrscheinlich ist gemahlener Ingwer darin. »Und was sollen wir Ihrer Meinung nach in der Zwischenzeit tun?«

»Abwarten, bis du deine magischen Kräfte voll entfaltet hast. Ich habe Vertrauen in Persephone und die Prophezeiung, Catherine, auch wenn wir sie noch nicht ganz verstehen.« Auch wenn ich mich noch nicht als besonders nützlich erwiesen habe, meint sie wohl. »Und bis dahin müssen wir Informationen sammeln. Ich habe Informanten innerhalb der Bruderschaft. Einer ist Mitglied im Höchsten Rat. Er ist der direkte Nachfolger von Covington, und er arbeitet daran, dass diejenigen, die auf unserer Seite sind, in machtvolle Positionen gelangen. Das kann natürlich nicht über Nacht geschehen, aber ich halte es für den besten Weg.«

»Es ist wahrscheinlich der sicherste«, stimme ich zu. »Mit dem geringsten Risiko, dass wir alle in unseren Betten ermordet werden.«

Sie lächelt gequält. Sie muss einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein, was ihre Gesichtszüge und die Art, wie sie den Kopf hält, immer noch erkennen lassen. »Das versuche ich zu verhindern, ja. Wir wären eindeutig im Nachteil, wenn es zu einem offenen Krieg kommen sollte. Es gibt Tausende von Brüdern – und nur ein paar Hundert von uns.«

»Aber Bruder Covington könnte noch für weitere zwanzig Jahre im Amt sein«, gebe ich zu bedenken. »Er ist sehr beliebt. Und charmant.«

»Das könnten wir ändern. Die Dinge geraten in Bewegung, Catherine. Das Volk wird langsam unzufrieden mit der harten Hand der Bruderschaft.« Mir fallen die Jungen, die mit Steinen nach O’Shea und Helmsley geworfen haben, wieder ein, und ich nicke. »Aber wenn wir zu schnell vorgehen und Angst und Schrecken verbreiten… Nun, wir dürfen die Fehler unserer Vergangenheit nicht wiederholen.«

Ich fahre mit dem Finger den Rand meiner Teetasse nach. Ihre Vorsicht gefällt mir. Wie oft hat Maura mich dafür gescholten, zu ängstlich und zurückhaltend zu sein. »Ich habe es nicht eilig, einen Krieg anzuführen, wenn das Ihre Frage sein sollte.«

Ihr Lächeln ist jetzt herzlicher. »Darüber bin ich sehr froh, denn ich …«

Da springt die Tür auf, und Schwester Gretchen kommt hereingepoltert. Sie ist ganz rot und außer Atem, weil sie die Treppen so schnell genommen hat. »Cora! Entschuldige bitte die Störung. Zwei Mitglieder des Stadtrats von New London sind gekommen und bitten darum, empfangen zu werden. Sie warten im Salon.«

Schwester Cora nimmt den in Leder gebundenen Kalender vom Beistelltisch und setzt sich ihre Lesebrille auf. »Wir hatten keinen Termin. Haben sie gesagt, worum es geht?«

Schwester Gretchen schüttelt den Kopf, und ihre grauen Locken tanzen. »Nein, aber O’Shea scheint kein besonders geduldiger Menschen zu sein.«

»Nein. Das ist er wahrhaftig nicht. Widerwärtige Kreatur. Hätten sie doch nur Brennan geschickt«, murrt Schwester Cora, während sie sich langsam erhebt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stützt sie sich auf die Sessellehne. »Teufel.«

Sie sieht Schwester Gretchen in die warmen haselnussbraunen Augen. Die beiden scheinen eine ganze Unterhaltung ohne Worte zu führen. Rilla hat mir erzählt, dass die beiden zusammenhalten wie Pech und Schwefel, dass sie beste Freundinnen sind, seit sie als Mädchen zusammen auf der Klosterschule waren. Wenn Mutter und Zara beide noch am Leben wären, würden sie sich dann auch mit Blicken unterhalten können?

Ob Rilla und ich das eines Tages können werden?

»Warum begleitest du uns nicht, Catherine?«, fragt Schwester Cora. »Ein unangekündigter Besuch kann nur Ärger bedeuten. Wenn nicht für uns, dann für andere. Aber es ist unbedingt erforderlich, dass du ruhig bleibst, ganz egal, was sie sagen. Kannst du mir das versprechen?«

»Ja.« Aber nervös bin ich trotzdem. Was kann die Bruderschaft zu dieser Stunde wollen? Was ist so wichtig, dass es nicht bis morgen warten kann?

»Dann lasst uns gehen. Wir sollten sie nicht zu lange warten lassen.«

Schwester Gretchen bietet ihr den Arm an, doch Cora winkt ab. Sie humpelt nicht, aber sie geht ganz vorsichtig, so als würde jede Bewegung schmerzen. Gretchen und ich folgen ihr.

Als wir schließlich im Salon ankommen, sitzen dort zwei Brüder auf dem olivefarbenen Sofa. Der Raum hat eine recht nüchterne Atmosphäre mit all seinen steifen, kunstvoll geschwungenen Rosshaarsitzmöbeln. Er ist in gedämpften, dunklen Farben gehalten. Porträts bereits verstorbener Klostervorsteherinnen schmücken die Wände; schwere Samtvorhänge hüllen den Raum in Dunkelheit. Schwester Cora empfängt hier immer die Eltern der Mädchen und die Gesandten der Bruderschaft.

Es war auch hier, in diesem Raum, dass ich Mrs Corbett – Schwester Gillian Corbett, meiner ehemaligen Nachbarin aus Chatham und Begleiterin auf meiner Reise nach New London – eine Backpfeife gegeben habe. Sie hatte mir versichert, in meiner Abwesenheit nach meinen Schwestern zu sehen, und meinte, es würde ihnen gut tun, endlich nicht mehr unter meiner Fuchtel zu stehen. Beim Anblick des selbstgefälligen Grinsens auf ihrem dicken Gesicht verlor ich die Geduld, und da ist mir die Hand ausgerutscht. Die Erinnerung bringt mich zum Lächeln, aber das Lächeln vergeht mir gründlich, als ich den grimmigen Gesichtsausdruck der Brüder sehe. Ich kenne die beiden: Bruder O’Shea ist der Gleiche, der Lavinia Anderson verhaftet hat, und er hat wieder seinen Koloss von einem Komplizen dabei.

»Schwester Cora«, sagt Bruder O’Shea, während er sich vom Sofa erhebt, »das hier ist Bruder Helmsley. Und … Schwester Gertrude, wenn ich mich recht erinnere?«

»Gretchen«, korrigiert ihn Cora. »Und das hier ist eine unserer vielversprechendsten jungen Novizinnen, Schwester Catherine.«

Ich bin größer als er, aber ich wage es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Stattdessen neige ich den Kopf, während ich ein Zittern unterdrücke. Der Raum ist kalt; das Feuer wurde sicherlich gerade erst angezündet, als die beiden Besucher kamen.

»Was für eine Erleichterung, dass es noch junge Frauen gibt, die ihr Leben in den Dienst des Herrn stellen, statt leichtfertig auf den Straßen herumzustolzieren«, bemerkt O’Shea. Offenbar erkennt er mich nicht wieder, und ausnahmsweise bin ich mal froh über die Anonymität, die uns die Tracht der Schwesternschaft verleiht.

Bruder O’Shea deutet auf den Boden, woraufhin wir drei uns vor ihn knien. »Der Herr segne euch und behüte euch heute und den Rest eurer Tage«, stimmt er an.

»Dank sei dem Herrn«, antworten wir im Chor und kommen wieder auf die Beine. Und obwohl das hier unser Zuhause ist, bleiben wir so lange stehen, bis Bruder O’Shea wieder Platz genommen hat und uns bedeutet, uns zu setzen. Dann erst lässt Schwester Cora sich auf dem Sessel aus brauner Seide neben dem Kamin nieder, und Schwester Gretchen setzt sich auf die runde, mit Quasten geschmückte Ottomane neben ihr. Ich stehe wie ein Wachmann mit zum Zerreißen gespannten Nerven hinter ihnen.

»Wie Sie vielleicht wissen, tagt der Nationalrat gerade in New London«, beginnt O’Shea. Als ob wir das vergessen könnten. Hunderte von Brüdern sind seit Tagen in der Stadt, und Schwester Cora hat uns eindringlich ermahnt, während der dreiwöchigen Tagung besonders vorsichtig zu sein. »Es ist eine Zeit der Besinnung. Wir beten zum Herrn, uns zu führen, uns zu lehren, wie wir unsere schwachen, aufsässigen Schützlinge besser leiten können. Heute wurden wir mit der Weisheit des Herrn gesegnet. Es wurden zwei neue Gesetze verabschiedet.«

»Gleich zwei?«, keucht Schwester Cora.

Das ist noch nie da gewesen. Manchmal vergehen ganze Jahre, in denen der Nationalrat nicht ein einziges neues Gesetz beschließt. Nervös spiele ich mit den Händen und drehe an Mutters Perlenring.

»Als uns die Nachrichten aus Frankreich ereilten, war klar, dass wir sofort Maßnahmen ergreifen müssten, um die Seuche einzudämmen«, erklärt O’Shea und verschränkt die Beine.

Eine Seuche? Ich achte nicht besonders auf die Nachrichten aus Übersee, aber von einer Krankheit habe ich nichts mitbekommen.

Helmsley, dessen massige Gestalt das Sofa sehr klein erscheinen lässt, sagt nichts. Anscheinend ist seine einzige Aufgabe, Frauen zu misshandeln und Kinder einzuschüchtern.

Bruder O’Shea hält inne, wahrscheinlich, um die Spannung noch zu steigern. Mir fällt auf, wie sauber und frei von Schwielen die Hand auf seinem Knie ist. Die Fingernägel sind ordentlich manikürt. Auf einmal muss ich an Finns Hände denken. An die Sommersprossen und die Tintenflecke, den Dreck unter seinen Nägeln von der ehrlichen Arbeit im Garten.

Ob Finn jetzt auch in New London ist? Die neuen Mitglieder begleiten Bruder Ishida doch für gewöhnlich zur Nationalratsversammlung, wo sie feierlich von der Bruderschaft aufgenommen werden.

Er muss hier sein, aber er hat noch keinen Versuch unternommen, mich zu sehen.

Ob er mich jetzt hasst?

Er hätte jedenfalls allen Grund dazu. Schließlich ist er der Bruderschaft einzig und allein meinetwegen beigetreten, und dann habe ich ihn ohne eine Erklärung verlassen.

Doch die Vorstellung, dass er mich – uns – einfach so aufgegeben haben könnte, schmerzt.

»Die Franzosen haben ihren Frauen das Wahlrecht gegeben«, fährt Bruder O’Shea fort. »Aufgrund Frankreichs enger Verbindung zu Arabien war das vielleicht zu erwarten. Aber es zwingt uns zu handeln. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Frauen von solchen weltlichen Angelegenheiten unberührt bleiben und sich weiterhin um ein behagliches Heim und die Erziehung gottesfürchtiger Kinder kümmern. Die neuen Gesetze sind dazu bestimmt, die Frauen an ihre wahre Bestimmung zu erinnern.«

Oh nein. Das klingt nach etwas Schlimmerem als einer Seuche.

»Selbstverständlich.« Schwester Cora hält den Kopf leicht geneigt, wie eine Tulpe im Regen. »Wir helfen Ihnen natürlich, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln.«

»Ich hoffe, dass Ihr Entschluss auch noch genauso unumstößlich ist, wenn Sie erst einmal gehört haben, inwieweit die neuen Gesetze die Schwesternschaft betreffen.« Bruder O’Shea räuspert sich. Helmsley lächelt höhnisch und lässt seine Fingerknochen knacken. Wartet er etwa nur darauf, dass wir aufbegehren, damit er heute Abend noch jemanden verhaften kann?

Das Herz schlägt mir bis zum Halse. Ist das hier eine Art Prüfung?

»Das erste Gesetz, das mit sofortiger Wirkung in Kraft tritt, untersagt es Frauen, außerhalb des Hauses zu arbeiten.« O’Shea streckt die Brust heraus und ist offenbar sehr zufrieden mit seiner Botschaft.

Ich denke an Marianne Belastra, die mit ihrer Buchhandlung die Familie über Wasser gehalten hat, nachdem Finns Vater gestorben ist. Ich denke an Mrs Kosmoski, die Schneiderin in Chatham. An Witwen wie Lavinia Anderson, die von nun an vollkommen von der Wohltätigkeit der Bruderschaft abhängig sind, um ihre Familien zu ernähren. Doch genau das will die Bruderschaft erreichen, nehme ich an: absolute Abhängigkeit.

»Gibt es spezielle Bestimmungen für Witwen?«, fragt Schwester Gretchen, die selbst verwitwet ist. Doch da sie keine Kinder hat, konnte sie nach dem Tod ihres Ehemanns zur Schesternschaft zurückkehren.

Bruder O’Shea schüttelt den Kopf. »Die einzige Ausnahme ist diejenige für Krankenpflegerinnen – wegen der Bedürftigen, Sie verstehen. Nun. Das zweite Gesetz, das ebenso mit sofortiger Wirkung in Kraft tritt, untersagt es, Mädchen das Lesen beizubringen. Bei denen, die bereits des Lesens mächtig sind, können wir natürlich nichts mehr dagegen tun, aber für die Zukunft halten wir es für unnötig, wenn nicht gar gefährlich. Mädchen sollten sich auf das Wissen ihrer Väter, ihrer Ehemänner und der Bruderschaft verlassen. Sie brauchen kein anderes Wissen.«

Schweigen erfüllt den Raum. Nur das Zischen der Gaslampen neben dem Kaminsims ist noch zu hören.

Ich sehe Schwester Cora und Schwester Gretchen an, die mit ausdruckslosen Mienen dasitzen.

Ich kann mir ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen.

Ohne Vaters Geschichten von alten griechischen Gottheiten, ohne Piratengeschichten und Märchen und Gedichte. Ohne die Hoffnung auf ein anderes Leben, auf Freiheit und Abenteuer, auf etwas anderes, als wir hier und jetzt erleben. Wie traurig wäre das Leben ohne solche Geschichten.

Ich denke an die Menschen, die ich liebe, denen ich mein Leben anvertrauen würde. An Maura. Tess. Finn. Marianne. Sie alle sind vernarrt in Bücher. Was wird dieses neue Gesetz mit ihnen machen?

Als ich merke, dass ich meine Hände zu Fäusten geballt habe, versuche ich, meine Finger zu entspannen. Ich sollte besser nicht so aussehen, als würde ich eine Schlägerei anfangen wollen.

»Sie müssen ihre Gouvernanten abberufen«, erklärt Bruder O’Shea.

»Ich verstehe.« Schwester Cora spricht mit ruhiger Stimme, doch ihre Schultern sind starr. »Ich werde ihnen sofort schreiben. Wird unsere Schule denn weiterhin geöffnet bleiben?«

»Vorerst«, antwortet O’Shea, aber die Knappheit seiner Auskunft wie auch sein verbissener Gesichtsausdruck machen deutlich, dass er damit alles andere als einverstanden ist. »Freitagabend wird es ein Feuer auf dem Richmond Square geben, wie auch in jeder anderen Stadt in den kommenden Tagen. Wir rufen die Gläubigen dazu auf, Bücher aus ihren privaten Sammlungen mitzubringen – Erzählungen und Märchen und Derartiges –, um sie zu verbrennen.«

Entsetzt schlage ich mir die Hand vor den Mund. Bruder O’Shea blickt mich mit seinen blassen Augen an.

»Entschuldigen Sie, Sir«, stoße ich keuchend hervor, während ich ein Husten vortäusche.

Er versteift sich auf dem Sofa, sein Rücken ist kerzengerade. »Wir vertrauen darauf, dass die Schwesternschaft auch etwas dazu beiträgt.«

»Oh, ja«, antwortet Schwester Cora und setzt sich auf dem glatten Seidensessel zurecht. »Sie können wie immer auf uns zählen.«

»Ich bin froh, das zu hören.« Er beugt sich vor und mustert uns eindringlich. »Doch das Wichtigste kommt noch: Wir haben in der Irrenanstalt von Harwood eine Hellseherin entdeckt.«

Ich darf jetzt keinerlei Gefühlsregung zeigen. Brenna Elliott. Es muss Brenna sein.

»Eine Hellseherin?«, wiederholt Schwester Cora. »Sind Sie sicher?«

Er nickt. »Wir beobachten sie bereits seit einigen Wochen. Zuerst waren es bloß Kleinigkeiten. Der Sturm, den wir neulich hatten, der Name eines Mädchens, das die anderen beklaute, der Säugling einer Pflegerin, der am Fieber starb.« Ich kann mir kaum vorstellen, dass das für die Pflegerin eine Kleinigkeit war. »Die Pflegerin hat sie beschuldigt, das Kind verflucht zu haben, und da sind wir auf sie aufmerksam geworden. Sie sagt, dass eine andere Hellseherin kommen wird – eine, die die Macht hat, die Herzen der Menschen wieder den Hexen zuzuwenden, denn sie soll zudem eine mächtige Hexe sein, eine, die mit Gedankenmagie verwünscht ist.«

»Meinen Sie etwa …?«, Cora führt die Frage nicht zu Ende.

Für einen Augenblick zeichnet sich Furcht auf O’Sheas schmalem Gesicht ab. Dann schluckt er, sein Adamsapfel bewegt sich auf und ab, und der Moment ist vorbei. »Ja. Diese neue Hellseherin, die kurz davor steht, ihre Kräfte zu entdecken, ist die Hexe aus der Prophezeiung. Die, die wir bereits seit hundert Jahren suchen.«

Oh. Ich werde ganz still. So still, dass ich das Blut durch meine Adern rauschen fühle und die Luft, die in meine Lunge gesogen und wieder ausgestoßen wird. Ich bin eine Statue aus Fleisch und Knochen und einem wild schlagenden Herzen.

Er redet von mir.

Aber ich hatte bisher keine Vorahnungen. Noch nicht. Kurz davor, ihre Kräfte zu entdecken, sagte er. Prophezeiungen sind immer frustrierend ungenau. Ich könnte bereits in zehn Minuten eine Vorhersehung haben, oder morgen oder nächste Woche oder nächstes Jahr.

Angst durchströmt mich. Ich will keine Vorhersehungen haben. Die Verantwortung für die Schwesternschaft übernehmen zu müssen reicht mir schon. Ich will die Last der Zukunft nicht auch noch auf meinen Schultern tragen.

»Wir müssen diese Kreatur natürlich aus ihrem Versteck aufscheuchen«, sagt O’Shea, woraufhin Helmsley seine Fingerknochen einen nach dem anderen knacken lässt, als würde er an den blutrünstigen Aussichten Gefallen finden. »Es gab noch nie eine Hellseherin, die außerdem auch eine Hexe war, geschweige denn eine, die fähig war, in den Geist der Leute einzudringen. Die Menschen sind immer mal wieder unzufrieden mit uns, aber sie könnte das Volk regelrecht gegen uns aufhetzen. Sie könnte ihre Gedankenmagie dazu nutzen, die Menschen gegen uns aufzubringen. Die Zukunft Neuenglands hängt davon ab, sie zu finden und unschädlich zu machen, Cora. In Ihrer Gegenwart und der Ihrer Novizinnen haben die Frauen vielleicht gelöstere Zungen. Wenn Ihnen etwas zu Ohren kommen sollte – und sei es auch nur die leiseste Ahnung von Gedankenmagie oder Vorhersehung –, müssen Sie es uns wissen lassen.«

»J-ja, selbstverständlich«, stottert Schwester Cora, und Schwester Gretchen hilft ihr auf die Beine, als Bruder O’Shea sich erhebt.

Mein Herz hämmert immer noch wie verrückt, während wir durch O’Shea den Segen empfangen.

Als Brenna von der Bruderschaft verhaftet wurde, hieß es noch, sie hätte Wahnvorstellungen. Dass es anmaßend sei zu denken, dass eine Frau die Arbeit des Herrn verrichten könne. Und jetzt glauben die Brüder auf einmal an ihre Vorhersehungen?

Aber vielleicht war ihre Prophezeiung ja auch verkehrt. Immerhin ist sie tatsächlich halb verrückt.

Werden alle Seherinnen irgendwann verrückt? Bei dem Gedanken wird mir angst und bange.

Als die Brüder gegangen sind und die Haustür hinter ihnen ins Schloss fällt, dreht sich Schwester Cora zu mir um und legt mir die Hände auf die Schultern. Ihr ohnehin schon runzliges Gesicht ist von zusätzlichen Sorgenfalten durchzogen. »Hast du irgendwelche Vorhersehungen? Vorahnungen der Zukunft?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein.«

»Kein Gefühl, dass etwas passieren könnte, keine Träume, die sich hinterher als wahr herausstellen?«, bohrt sie nach. »Ich weiß, dass muss beängstigend für dich sein, Catherine, aber du musst mir die Wahrheit sagen, damit wir dich beschützen können.«

Ich sehe sie ernst an. Sie ist ebenso groß wie ich – für eine Frau ziemlich groß. »Nein, nichts Dergleichen. Ich schwöre es.«

Da kommt Gretchen, die die Brüder hinausbegleitet hat, zurück ins Zimmer. »Hat eine deiner Schwestern Vorhersehungen?«, fragt Cora.

»Nicht dass ich wüsste.« Das hätten sie mir doch gesagt, oder nicht?

»Sie könnten auch erst aufgetreten sein, nachdem du Chatham verlassen hast«, überlegt Cora. »Das bringt alles durcheinander. Wenn wir doch nur den genauen Wortlaut der Prophezeiung wüssten. Du kennst die Seherin, von der sie redeten, oder? Sie kommt aus Chatham.«

»Brenna«, sage ich nickend. Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, lag sie in der Gosse, ihr gelbes Kleid war mit Dreck bespritzt, und sie schrie, bis die Wachen der Bruderschaft sie mit Prügeln ruhiggestellt hatten.

»Weiß Brenna, wer du bist?«, fragt jetzt Schwester Gretchen.

»Das ist schwer zu sagen. Ich habe es ihr jedenfalls nicht verraten. Aber sie weiß über viele Dinge Bescheid, ohne dass irgendjemand sie ihr erzählt hätte.« Ich drehe mich zum Kaminfeuer, um meine Hände zu wärmen.

»Eine Seherin, die nicht ganz bei Verstand ist, ist das Letzte, was wir jetzt brauchen«, murrt Schwester Cora und blickt aus dem Fenster auf die von Eis überzogenen Bäume.

Da betritt Schwester Inez, unsere Lehrerin für Illusionszauber, den Raum. Im Schutz der Klostermauern tragen die meisten Lehrerinnen bunte Farben, doch Schwester Inez kleidet sich ausnahmslos schwarz wie bei einer Beerdigung. »Es wäre ein Leichtes, eine Bedrohung wie Brenna loszuwerden«, sagt sie.

Schwester Sophia, die etwas mollige und sehr hübsche Heilkundelehrerin, folgt ihr. »Sie ist doch noch ein Kind, Inez, und krank dazu. Ich glaube kaum, dass hier ein Mord angebracht wäre.«

Mord? Entsetzt starre ich Inez an. Brenna kann doch nicht einfach umgebracht werden!

Inez zuckt bloß mit den Schultern. Wie immer trägt sie die Haare zu einem Nackenknoten geschlungen, und zusammen mit ihren hervortretenden Wangenknochen sieht ihr Gesicht ständig verhärmt aus. »Sie werden sie Tag und Nacht beobachten. Es wäre einfacher, als sie da rauszuholen. Und eine Seherin dazu zu bringen, den Mund zu halten, wird wahrscheinlich sowieso nicht funktionieren.«

»Hast du mal wieder am Lüftungsschlitz gelauscht, Inez?« Schwester Gretchen funkelt sie wütend an.

»Ich wusste sofort, dass es Probleme geben würde, als ich die Neuigkeiten aus Frankreich hörte«, fährt Inez unbeeindruckt fort. »Wer weiß, was diese verrückte Kreatur den Brüdern als Nächstes erzählen wird? Sie stellt eine Bedrohung für uns alle dar, und ganz besonders für Miss Cahill. Die neue Seherin unter Kontrolle zu haben, durch sie in die Zukunft blicken zu können, das könnte es sein, was uns wieder an die Macht bringt. Wir dürfen diese Gelegenheit nicht wegen kindlicher Skrupel aufs Spiel setzen.«

Die neue Seherin unter Kontrolle zu haben. Ihre Wortwahl stimmt mich nachdenklich. Die Schwesternschaft wird mich nicht kontrollieren. Ich bin niemandes Marionette, ob ich nun in die Zukunft sehen kann oder nicht.

»Ich habe meine Quellen in Harwood. Ich werde ihnen sagen, dass sie ein Auge auf Brenna haben sollen.« Als Schwester Cora das Wort ergreift, verstummen alle. »Ich denke, es ist noch zu früh, solche fatalen Methoden zu diskutieren. Brenna könnte uns vielleicht noch nützlich sein.«

Ich zupfe Schwester Cora am grauen Ärmel, wobei ich sehr darauf achte, nicht ihre nackte Haut zu berühren. »Wenn die Situation schlimmer wird, dann sollten auch Maura und Tess hier bei uns sein.«

Ich beiße mir auf die Lippe. Hoffentlich ist das auch die richtige Entscheidung. Mache ich damit gerade einen Fehler, oder korrigiere ich einen?

Cora weist die anderen an, den Raum zu verlassen. »Ich würde gerne einen Moment mit Catherine allein sprechen.«

Inez zieht die Stirn in Falten, aber sie gehorcht und folgt Gretchen und Sophia aus dem Salon. Cora schließt die Tür hinter ihnen. Dieses Mal zieht sie an der Kette neben dem Lüftungsschlitz oben in der Wand. Sie zieht eine Grimasse, als sich die Lamellen quietschend schließen, und dann sieht sie mich aufmerksam mit ihren hellblauen Augen an.

»Ich werde Elena sofort schreiben und sie und deine Schwestern hierherbeordern, aber da ist noch etwas, was wir so schnell wie möglich tun müssen.« Ich hole tief Luft – was kann sie denn noch von mir wollen? –, aber Cora redet schon weiter. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass du deine Patentante kennenlernst.«

Meine Patentante, Zara Roth, befindet sich ebenfalls in der Irrenanstalt von Harwood. Ich erinnere mich nicht an sie, denn als sie wegen des Besitzes verbotener Bücher verhaftet wurde, war ich noch ein Kind. Zara war eine Gelehrte, die die Orakel studierte, und ich vermute, dass sie mehr über sie weiß als jeder andere Sterbliche.

»Aber sie ist doch in Harwood«, entgegne ich. Und zwar, weil Schwester Cora bei ihrer Verhandlung nicht eingegriffen hat. Das hat meine Mutter der Schwesternschaft nie vergeben.

Schwester Cora lässt sich seufzend aufs Sofa sinken. »Ja, das ist sie. Ich möchte, dass du sie besuchst und mit ihr redest. Ich möchte, dass du so viel wie möglich über die bisherigen Seherinnen herausfindest – wie alt sie waren, als ihre Vorhersehungen anfingen, und wie sie sich zuerst bemerkbar machten. Es gab vor Brenna zwei Seherinnen, nachdem der Große Tempel niederbrannte, und die Bruderschaft hat sie beide vor uns entdeckt. Zara wird darüber Bescheid wissen. Wir werden nicht zulassen, dass mit dir das Gleiche passiert. Wir werden dich beschützen, Catherine.«

»Sie schicken mich nach Harwood? Absichtlich?« Ich kann es noch immer nicht fassen. Die Irrenanstalt ist der Stoff, aus dem meine Albträume gewoben sind. Schon mein ganzes Leben schwebt dieses Damoklesschwert über meinem Haupt.

»Natürlich nicht allein«, versichert Schwester Cora mir schnell. »Sophia ist dort jede Woche auf Heilmission. Wenn es irgendeinen anderen Weg gäbe – ich bin auch nicht gerade begeistert davon. Aber Zara ist sehr dickköpfig. Sie wird mit keiner anderen als dir sprechen; sie hat es uns noch nicht verziehen, dass wir nichts gegen ihre Inhaftierung unternommen haben.«

Inzwischen sitze ich auf dem glatten Seidenstuhl. Ich befürchte, jeden Moment herunterzurutschen und auf den Boden zu fallen. »Woher wollen Sie wissen, dass sie mit mir reden wird?«

Schwester Cora lächelt. »Du bist ihr Patenkind. Sie ist es dir schuldig.«

»Und ich nehme an, ich bin es Ihnen schuldig, weil Sie dafür sorgen, dass Maura und Tess hier bei uns in Sicherheit sind.«

»Ich hätte auch ganz davon abgesehen nach Maura und Tess geschickt. Diese neue Prophezeiung, sie lässt Zweifel daran aufkommen, welche von euch die Verkündete ist. Deine magischen Kräfte scheinen die stärksten zu sein, aber falls – wenn – eine von euch zum ersten Mal eine Vorhersehung hat … Nun, dann sollte die Frage sicherlich geklärt sein.« Cora sieht mich mit ihren blauen Augen an. »Es ist deine Entscheidung, Cate, aber ich denke, es wäre gut, Zaras Rat einzuholen. Sie könnte dir möglicherweise helfen.«

Ich recke das Kinn vor und schiebe meine Angst beiseite. »Sie haben recht. Es ist höchste Zeit, dass ich meine Patentante kennenlerne.«