Kapitel 14

»Wir müssen Inez aufhalten.«

Vorsichtig gehe ich die eingeschneiten Stufen des Klosters hoch. »Ich weiß.«

Tess’ Nase ist von der Kälte und vom Weinen ganz rot. »Die letzten hundert Jahre konnten die Menschen vergessen, was die Töchter von Persephone getan haben, und jetzt will Inez uns wieder zum Schreckgespenst machen. Das wird jede Möglichkeit der Machtbeteiligung für uns zunichtemachen.«

»Vielleicht ist es ja genau das, was sie will – es so anstellen, dass wir einen Krieg führen müssen.« Ich zittere trotz meines warmen Umhangs. »Weiß Gott, was die Brüder im Gegenzug unternehmen.«

Tess seufzt. »Wenigstens haben wir die Häftlinge befreit. Wir haben die Dinge verändert, Cate! Ich habe gesehen, wie sie im Schneetreiben aufs Gefängnisschiff gebracht werden, und jetzt sind sie frei. Das bedeutet …«

»Wir können die Prophezeiung ändern«, begreife ich, und ich muss so sehr grinsen, dass mein Gesicht beinah in zwei Hälften zerspringt.

»Maura ist vielleicht wütend auf uns, aber sie wird darüber hinwegkommen. Wer weiß? Vielleicht bin ich in der Vorhersehung der Seherin ja heute in den Fluss gefallen und ertrunken«, sagt Tess und tritt sich den Schnee von den Stiefeln. »Aber du hast mich gerettet. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Wenn ich die Dinge ändern kann, die ich sehe – wenn nicht alles in Stein gemeißelt ist –, das ändert alles.«

Sie zieht die schwere Eingangstür auf, und wir hängen unsere nassen Umhänge auf und schlüpfen aus den Stiefeln. Die Tür des Salons ist angelehnt, und Licht dringt durch den Spalt, aber ich kann keine Stimmen hören. Mit einem Blick auf Tess lege ich einen Finger an die Lippen, schleiche auf Strümpfen zur Tür und spähe hinein.

»Finn?«, stoße ich hervor. Er steht in grauer Weste und weißem Hemd, die Hände auf den Rücken gelegt, vor dem Feuer. »Was machst du hier?«

Finn wirbelt herum und lächelt mich an. »Da bist du ja! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil du nicht bei der Verhandlung warst. Rory sagte, es wäre etwas passiert.«

Sachis Verhandlung! Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Rory sitzt auf dem Sofa und tupft sich mit ihrem rosafarbenen Spitzentaschentuch die Augen.

»Harwood?«, frage ich.

Rory nickt und trocknet eine weitere Träne. »Es war furchtbar. Was sie über Sachi gesagt haben – und sie hat so verängstigt ausgesehen.«

»Wir werden sie da rausholen, das verspreche ich dir.« Beunruhigt wende ich mich Finn zu. »Du kannst mich hier nicht besuchen kommen. Es ist zu gefährlich.«

Er geht einen Schritt zur Seite, damit Tess sich direkt vor den Kamin stellen kann. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Und außerdem habe ich die Information erhalten, die Inez haben wollte. Die nächste Sitzung des Rats wird …«

»Pst!« Ich ziehe die Tür hinter mir zu, dann durchquere ich das Zimmer und schließe sicherheitshalber auch noch das Lüftungsgitter am Kamin. Ich will nicht, dass uns irgendjemand belauscht. Finn sieht mich überrascht an. »Was auch immer du herausgefunden hast, du darfst es niemandem sagen. Noch nicht einmal mir. Ich will nicht, dass sie mich mit Gedankenmagie zwingt, es ihr zu sagen. Ich weiß nicht, ob sie es könnte, aber ich würde ihr den Versuch zutrauen.«

Finn wird unter seinen Sommersprossen ganz blass. »Wer?«

Ich nehme seine warmen Hände in meine eisigen. »Inez. Sie ist nicht das, wofür ich sie gehalten habe. Wir können ihr nicht vertrauen.«

Finns Flüche würden sogar die Hafenarbeiter rot werden lassen. »Es ist zu spät. Ich habe es ihr bereits gesagt.«

»Nein.« Ich sehe Tess an, die sich gegen den Kaminsims lehnt und schockiert die grauen Augen schließt. Dann lasse ich mich auf den braunen Seidensessel sinken.

»Ich habe das Mädchen, das die Tür geöffnet hat, nach dir gefragt, und stattdessen kam Inez. Sie wusste sofort, wer ich bin. Sie sagte, du seist für eine Weile außer Haus, aber dass ich gerne hier drinnen auf dich warten könne. Und dann hat sie mich gefragt, ob ich schon etwas herausfinden konnte. Also habe ich es ihr erzählt. Verdammt!« Finn legt eine Hand auf meine bloße Schulter. »Ich dachte, du wolltest es so! Was hat sich denn geändert?«

»Ich habe mich geirrt«, flüstere ich. Ich war dumm und leichtgläubig und habe mich geirrt. »Sie will sie zerstören. In ihre Gedanken eindringen und ihre Erinnerungen löschen, so wie es die Hexen früher gemacht haben. Beim gesamten Höchsten Rat.«

Finns Finger krallen sich in mein Schlüsselbein. »Das darf sie nicht.«

»Warum nicht?« Rory steht auf und zerknüllt das Taschentuch in ihrer Faust. Zum ersten Mal sehe ich sie im Schwarz der Schwesternschaft. »Wenn du heute bei Sachis Verhandlung gewesen wärst, Cate, wenn du gesehen hättest, wie verängstigt sie war – wir müssen uns wehren. Wir müssen etwas tun.«

»Aber nicht so. Es ist falsch. Es ist Mord, jedenfalls so gut wie«, fährt Tess sie an und steckt sich das feuchte blonde Haar hinter die Ohren. »Und es wird alles nur noch schlimmer machen!«

»Es ist absolut gewissenlos«, stimmt Finn ihr zu, und seine Augen blitzen vor Zorn. »Und sie hat mich dafür benutzt.«

»Uns beide.« Ich stehe auf und schmiege mich in seine Arme. »Es tut mir so leid, dass ich dich da mit reingezogen habe.«

»Ich will dich nicht anlügen, die Arbeit für meinen neuen Vorgesetzter ist kein Zuckerschlecken. Die meisten Mitglieder des Höchsten Rats sind machthungrige Mistkerle. Aber sieh dir Sean Brennan an; er ist ein guter Mann. Und auch diejenigen, die nicht gut sind – Tess hat recht; es ähnelt einem Mord. Und die Brüder werden doppelt so hart zurückschlagen, um zu beweisen, dass sie immer noch die Kontrolle haben. Für so etwas …« Finn schluckt schwer. »Dafür könnten sie die Hexenverbrennungen wieder einführen. Es gibt genug Männer, die dafür stimmen würden. Sie warten nur noch auf einen guten Grund, und das würde ihnen einen liefern. Was zum Teufel denkt sich Inez nur dabei?«

Tess schlägt die Hand vor den Mund, als müsste sie sich gleich übergeben. »Es wird eine zweite Schreckensherrschaft geben. Sie werden nicht wissen, dass es Inez und Maura waren, aber dafür werden sie andere finden, denen sie die Schuld geben können. Genau wie diese Mädchen, die sie gefangen genommen haben, weil sie Seherinnen sein könnten.« Tess sieht mich an. »Wir dürfen das nicht zulassen, Cate!«

»Harwood!«, ruft Rory. Wir starren sie alle an. »Niemand wird die Schwesternschaft verdächtigen. Aber es wird klar sein, dass es sich um Hexerei handelt. Und wenn sie Hexen bestrafen wollen oder Frauen im Allgemeinen …«

»Sind die Mädchen in Harwood das leichteste Ziel«, führe ich ihren Gedanken zu Ende.

Rorys Atem geht schneller. »Wir müssen sie da rausholen. Sachi und Brenna. Auf der Stelle.«

Ich löse mich von Finn. »Wann ist die Sitzung?«

»Mittwochabend«, sagt er.

Heute ist Samstag. Das sind nur noch vier Tage. Nicht besonders viel Zeit, um eine Befreiungsaktion zu organisieren.

Ich darf jetzt nicht panisch werden. Wir haben keine Zeit zu verlieren.

»Ich werde zuerst mit Inez reden, um zu sehen, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, dass sie ihre Meinung ändert. Mit oder ohne Magie.« Ich wende mich an Finn. Ich will nicht, dass er auch nur in der Nähe von Inez ist, aus Furcht, sie könnte ihn als Druckmittel gegen mich verwenden. »Du musst gehen. Jetzt sofort.«

»Warte«, sagt Finn und fährt sich mit den Händen durch seine bereits unordentlichen Haare. »Was ist das für ein Gerede, dass ihr Sachi und Brenna befreien wollt?«

»Nicht nur die beiden.« Ich streiche meinen pfirsichfarbenen Rock glatt. »Alle Mädchen in Harwood. Wir haben noch vier Tage, um uns einen Plan zu überlegen, wie wir sie dort herausbekommen.«

Er versucht gar nicht erst, mit mir zu diskutieren. Mir zu sagen, dass es verrückt oder unmöglich ist. Er nimmt einfach nur meine Hand. »Wie kann ich euch helfen?«

Meine Gedanken rasen. »Du sagtest doch, im Nationalarchiv befänden sich alle möglichen Akten. Meinst du, es gibt dort auch Akten über die Mädchen, die in Harwood sind?« Es wäre hilfreich zu wissen, welche von den Patientinnen dort Hexen sind, und besonders, welche von ihnen der Gedankenmagie bezichtigt wurden. Wenn Inez einen Krieg anzetteln will, müssen wir auch in der Lage sein, zurückzuschlagen.

»Ich werde es herausfinden. Morgen bin ich den ganzen Tag im Dienst, aber Montag werde ich Bruder Szymborska einen Besuch abstatten und ein bisschen herumschnüffeln.«

»Das wäre großartig. Dann treffen wir uns Montagabend an der üblichen Stelle?«, frage ich. Finn nickt, sein Blick fällt auf meinen Mund, und ich würde ihn unheimlich gerne küssen, aber nicht vor Rory und Tess. Ich drücke stattdessen seine Hand. »Sei vorsichtig.«

Er runzelt die Stirn, während er sich den Umhang der Bruderschaft umlegt. »Du auch.«

Ein paar Minuten später stürme ich in Schwester Inez’ Klassenzimmer. Sie ist gerade dabei, im trüben Nachmittagslicht Aufsätze zu benoten. Als sie mich hört, sieht sie auf, und ein wölfisches Lächeln spielt um ihre Lippen. »Ihre Schwester kann einfach den Mund nicht halten, oder? Das Mädchen muss wirklich lernen, besser die Kontrolle zu bewahren.«

Ich bleibe vor ihrem schweren Eichentisch stehen. »Ich hätte es auch so herausgefunden.«

»Zum Glück habe ich die Information von Bruder Belastra vorher erhalten.« Sie betont das Wort Bruder ein kleines bisschen, was mich noch wütender macht, und ich spüre, wie die Magie in mir aufsteigt. Vielleicht sollte ich mich gar nicht erst mit ihr herumstreiten, sondern gleich die Erinnerung an Ort und Zeit der Sitzung des Höchsten Rats aus ihrem Gedächtnis löschen. Überhaupt hätte ich neulich schon ihre Erinnerung daran, wie ich mich nachts aus dem Haus geschlichen habe, um Finn zu treffen, auslöschen sollen. Es war ein Fehler, es nicht getan zu haben.

Ich weiß nicht, ob meine Gedankenmagie stark genug ist, aber ich bin gewillt, es herauszufinden. Ich lehne mich auf das Pult und sehe sie mit zusammengekniffenen Augen an.

»Bevor Sie sich die Mühe machen, meine Erinnerung auszulöschen, sollte ich Ihnen vielleicht sagen, dass ich bereits Vorkehrungen getroffen habe.« Inez schnalzt tadelnd mit der Zunge. »Wie wollen Sie jemals jemandem eine Lüge auftischen, Kind? Sie sind so durchschaubar wie Glas.«

Ich bin kein Kind. Ich balle die Hände zu Fäusten, so sehr erzürnt mich ihre herablassende Art. »Was für Vorkehrungen? Woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht schon wieder anlügen?«

»Ich habe Sie nie angelogen, was meine Absichten angeht«, erklärt sie. Sie macht mich noch wahnsinnig.

Doch sie hat recht. Sie sagte, dass sie Krieg will, und ich habe nicht weiter nachgefragt. Ich wollte, dass Finn in New London bleibt, und ihn für die Schwesternschaft spionieren zu lassen, war ein edler Beweggrund dafür. Viel weniger selbstsüchtig, als ihn zu bitten, seine Arbeit und seine Familie aufzugeben, um bei mir bleiben zu können.

»Ich habe eben erst einen Brief an eine gute Freundin geschickt. Sie ist mit einem Mitglied der Bruderschaft verheiratet, aber der Schwesternschaft weiterhin treu ergeben. Ich habe ihr geschrieben, dass ich mich in Gefahr befinde, und ihr sehr klare Anweisungen gegeben: Wenn sie nicht vom Erfolg meines Plans hört, wird sie einen weiteren Brief von mir abschicken. Einen, der erklärt, dass die Schwesternschaft aus einem Haufen Hexen besteht und dass Bruder Belastra es von jeher wusste. Ich vermute, Bruder Belastra würde eine Anklage wegen Verrats nicht besonders gut bekommen.«

Ich würde sie für ihren selbstgefälligen Gesichtsausdruck am liebsten ohrfeigen. Ich beuge mich über den Tisch. »Das ist doch nur Gerede. Sie würden das niemals alles aufschreiben.«

»Vielleicht. Vielleicht habe ich das alles aber auch in Schlüsselschrift niedergeschrieben. Sie können es leider nicht sicher wissen.« Inez schlägt ihren Füllfederhalter in regelmäßigem, entnervendem Rhythmus auf die Tischplatte.

Ich sehe ihr in die Augen und bündle all meine Wut in meine Magie. Sag mir, wer sie ist.

»Ich kann das spüren, Miss Cahill.« Inez’ dunkle Augenbrauen fallen zur Mitte hin schräg nach unten ab und berühren sich beinah. »Ich bin selbst sehr gut in Gedankenmagie. Vermutlich sind wir beide gleich stark – aber es ist natürlich schwer zu sagen. Sie können es gerne weiter versuchen, aber Sie werden sich nur verausgaben. Ich habe jahrelang geübt, unempfindlich dagegen zu sein.«

»Ich werde nicht zulassen, dass Sie das tun«, fauche ich. Mein rechtes Auge beginnt zu zucken.

»Ich weiß nicht, wie Sie mich davon abhalten wollen.« Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. »Nicht, ohne jedes Mädchen im Kloster zu opfern – oder einen offenen Krieg zwischen der Bruderschaft und der Schwesternschaft zu riskieren.«

Die Magie kocht unter meiner Haut, reißt an meinen Fingerspitzen. Ich kämpfe den Frust nieder und verschränke die Arme über meinem gekräuselten pfirsichfarbenen Oberteil. »Was erhoffen Sie sich denn damit zu erreichen? Ihnen muss doch klar sein, dass Sie auf diese Weise eine neue Schreckensherrschaft herbeiführen.«

Inez befingert die Brosche an ihrem Hals. »Wir sind schon auf halbem Wege dorthin, Miss Cahill. Ich werde nicht dastehen und nichts tun, während wir verfolgt werden. Ich habe die letzten zwanzig Jahre damit verbracht, Cora dabei zuzusehen, wie sie sich duckt und den Brüdern dient. Sie ist zufrieden damit, wenn Veränderung im Schneckentempo stattfindet. Ich beschleunige die Dinge einfach nur.«

Mir fällt die Kinnlade herunter. »Sie wollen eine neue Schreckensherrschaft. Sie wollen, dass die Brüder zum Schlimmsten greifen, damit wir im Vergleich zu ihnen gut dastehen! Sind Ihnen die ganzen Mädchen, die in der Zwischenzeit leiden müssen, denn vollkommen egal? Was ist mit den Mädchen in Harwood?« Mir fällt das hübsche indisch aussehende Mädchen mit der Platzwunde und dem blauen Auge wieder ein und die kleine Sarah Mae, die Vögel auf dem Friedhof vergräbt, und das Mädchen, das denkt, es wäre mit einem Prinzen verheiratet. Sie werden diejenigen sein, die die Hauptlast hiervon tragen müssen.

»Jeder Krieg fordert seine Opfer.«

Ich drücke mir die Fingerknöchel in die brennenden Augen. Wie kann sie nur so gefühllos daherreden? »Es müssen auch einige Hexen unter ihnen sein. Wollen Sie die alle aufgeben?«

»Cora hat diese Mädchen bereits aufgegeben.« Inez zuckt mit den Schultern. »Ihre Schwester hat mir von Ihrem unbesonnenen Plan, sie zu befreien, berichtet. Ich glaube nicht, dass die Mädchen den Aufwand wert sind. Ich habe Wichtigeres zu tun.«

Ich nicht. Diese Mädchen sind nicht entbehrlich. Jedenfalls nicht für mich.

Frustriert werfe ich die Hände in die Luft und gehe zur Tür.

»Machen Sie nichts Dummes, Miss Cahill«, warnt mich Inez. »Oder jemand, den Sie lieben, wird darunter zu leiden haben.«

Ich gehe zu Cora. Bestehe darauf, sie zu sehen. Nachdem Gretchen mich einen Moment betrachtet hat, gibt sie nach. Wahrscheinlich sieht sie, wie verzweifelt ich bin. Ich kann es wohl nicht besonders gut verbergen.

»Aber nur ein paar Minuten«, stimmt sie schließlich zu, öffnet die Tür zu Coras Schlafzimmer und nimmt wieder ihren Posten vor der Tür ein.

Cora liegt auf Kissen gestützt in ihrem Himmelbett, dunkle Ringe umschatten ihre Augen. Sie sieht um eine Dekade älter aus als gestern noch. Mehr Zeit hat ihr meine Heilkraft nicht schenken können?

Ich habe den Tod im Gesicht meiner Mutter gesehen, und als ich ihn jetzt in Coras Gesicht erblicke, bin ich plötzlich wieder zwölf und vollkommen verängstigt. Ich wäre bereit, alle möglichen Dinge zu versprechen, wenn sie nur bliebe. Ich werde zuhören und eine anständige junge Dame sein, und ich werde nicht mit Maura streiten. Ich werde alles tun. Jetzt bin ich älter und weiß es besser, aber der kindliche Drang, einen Handel mit dem Tod einzugehen, sitzt tief und trifft mich mit voller Wucht. Ich ziehe die Schultern hoch und erde die Füße in dem mit Kettenstich bestickten braunen Teppich an der Türschwelle.

»Catherine«, sagt Cora mit aufgesprungenen, blutleeren Lippen. Das glänzende weiße Haar fällt ihr über die Schultern. Die grüne Überdecke ist bis zur Brust hochgezogen. »Was gibt es?«

»Ich … ich wollte Sie bloß sehen«, lüge ich.

»Zeit, uns zu verabschieden«, sagt Cora.

Ich ziehe den grün und weiß geblümten Sessel näher an ihr Bett. Alles in mir will protestieren, dass sie sich wieder erholen kann, dass dies noch nicht das Ende sein muss. Aber das ist ein egoistischer Wunsch und noch dazu eine Lüge. Ich schlucke die Worte hinunter. Sie hat Schmerzen, und sie hat ihren Frieden damit gemacht zu gehen, und ich muss sie ziehen lassen.

»Inez wird nicht warten. Mein Körper wird kaum erkaltet sein, ehe sie die Schwesternschaft übernimmt, Cate.«

Das ist das erste Mal, dass sie mich bei meinem Kosenamen nennt.

Wenn das hier unser Abschied ist, dann schulde ich es Cora, ihr Frieden zu schenken, und nicht umgekehrt. »Ich werde mit ihr um die Führung kämpfen.«

»Braves Mädchen.« Cora lächelt. »Gretchen weiß, wo meine Papiere versteckt sind und wie sie Brennan und unsere Spione erreicht. Seit meiner Kindheit kennt sie alle meine Geheimnisse. Ich vertraue ihr bedingungslos. Sie wird dir eine große Hilfe sein, so wie sie mir eine war.«

Meine Gedanken rasen. »Brennan – das ist unser Mann beim Höchsten Rat?«

Cora nickt. »Er ist einer von den Guten. Er hat eigene Töchter und unterrichtet sie heimlich. Du kannst ihm vertrauen.«

Aber ich kann nicht zu ihm gehen und ihn davor warnen, an der Sitzung teilzunehmen. Er würde wissen wollen, warum, und wenn er ein guter Mann ist – und ich glaube Finn und Cora, dass er es ist –, würde er versuchen, es zu verhindern. Auch ein anonymer Brief würde seinen Verdacht erregen und könnte dazu führen, dass die Sitzung abgesagt würde, und unsere Preisgabe riskieren.

»Wer noch von den Lehrerinnen?«, frage ich.

»Sophia, aber sie hat nicht immer den Mut zu tun, was notwendig ist. Der Rest hat sich mit Inez verbündet, bis auf Elena«, überlegt Cora und dreht ihren Amtsring um den Finger. Er sitzt ziemlich locker aufgrund des vielen Gewichts, das sie verloren hat, und ist mit einem Band umwickelt, damit er ihr nicht ganz verloren geht. Es ist der einzige Ring, den sie noch trägt, und ohne das viele Silber sehen ihre Hände seltsam aus. »Du solltest sie vielleicht um Rat fragen. Sie ist ein sehr schlaues Mädchen, weißt du, und ich hätte sie nicht nach Chatham geschickt, wenn ich ihr nicht vertrauen würde.«

Ich frage mich, wie viel Cora wohl über das weiß, was zwischen Elena und Maura passiert ist. Ich verziehe das Gesicht. Der Gedanke, Elena gegenüber höflich zu sein, gefällt mir gar nicht, und erst recht nicht, sie um einen Gefallen zu bitten.

Cora gibt plötzlich ein heiseres, ersticktes Geräusch von sich, und besorgt, dass es das gewesen sein könnte, springe ich auf – besorgt, dass Cora jetzt stirbt, hier, direkt vor meinen Augen –, bis ich begreife, dass sie lacht.

»Du guckst, als hättest du in eine Zitrone gebissen«, keucht sie. »Als hätte ich dich gebeten, einen Wurm zu essen.«

»Ist alles … Kann ich irgendetwas tun?«, frage ich, als sie nach Luft ringt. Ihre Hand ist weiß wie Papier und von blauen Adern durchzogen. Sie sieht klein und nackt aus ohne all die Ringe. Ohne nachzudenken, lege ich meine Hand auf ihre.

Ihr Schmerz ist unerträglich, die rasiermesserscharfen Zähne schnappen und reißen, und schnell ziehe ich die Hand wieder zurück. »Wie halten Sie das aus?«

Sie schafft es, ein paar tiefe, volle Atemzüge zu nehmen, und sinkt zurück in die Kissen. »Du kannst mich nicht heilen, und ich werde es nicht zulassen, dass du deine Energie verschwendest«, sagt sie und faltet die Hände über der Brust. Sie schließt die Augen für einen Moment, und ohne das sprühende Blau ihrer Iris sieht sie bereits tot aus.

Ich werde sie vermissen.

»Es tut mir leid, dass wir keine Gelegenheit hatten, uns besser kennenzulernen, Cate«, sagt sie. »Ich bin jetzt müde. Schwester Sophia besteht darauf, mir Medikamente in den Tee zu geben, obwohl ich ihr gesagt habe, dass ich es nicht will. Würdest du Gretchen zu mir schicken? Und zieh die Vorhänge bitte zu. Das Licht bereitet mir Kopfschmerzen.«

»Natürlich.« Ich binde die Goldschnüre auf, die die smaragdgrünen Vorhänge zurückhalten.

»Möge Persephone mit dir sein.« Schwester Coras Stimme ist jetzt leiser und durch ihre Müdigkeit leicht undeutlich. Ich drehe mich wieder zu ihr um und versuche, mich an die Dunkelheit im Raum zu gewöhnen. »Ich vertraue darauf, dass du das Nötige tun wirst, wenn es so weit ist.«

»Danke.« So wie ich Cora kenne, ist es das größte Kompliment, das sie machen kann. Ihr ganzes Leben drehte sich nur darum.

Nach dem Abendessen entfacht sich ein ziemlicher Aufruhr auf dem Flur. Als ich aus meiner Zimmer blicke, sehe ich Maura, die ihren Koffer den Gang hinunterzieht. Steppdecke und Kissen liegen ordentlich darauf gestapelt.

Tess folgt ihr. »Maura, das ist wirklich nicht nötig.«

Drei Türen von meinem Zimmer entfernt kommt Vi aus dem Zimmer, das sie sich mit Alice teilt. Sie trägt eine braune Reisetasche und eine Handvoll Kleider über dem Arm.

Alice lehnt sich aus der Tür. »Vergiss dein Häschen nicht«, spottet sie und wirft Vi ein zerlumptes Stofftier hinterher. »Ich weiß doch, das du ohne es nicht einschlafen kannst.«

Vi wird rot und fängt es auf. »Halt den Mund, Alice.«

Ich sehe wieder in die andere Richtung zu Tess. »Was ist denn hier los?«

Als Vi mich hört, wirbelt sie zu mir herum. »Ich ertrage es nicht länger, mit dieser Xanthippe zusammenzuleben, und da Maura sich offenbar an ihrer Gesellschaft erfreut …«

Maura richtet sich mit einem eisigen Lächeln auf den Lippen auf. »Es wird eine Erleichterung sein, endlich mit einem Mädchen meines Alters das Zimmer zu teilen.«

Tess bleibt wie angewurzelt stehen, ihre entschuldigende Haltung verwandelt sich in Zorn. »Nun, vielleicht wird es für mich ja auch eine Erleichterung sein, mit einem Mädchen zusammenzuwohnen, das nicht vor Kurzem noch versucht hat, mich zu ertränken

»Das war keine Absicht, und das weißt du!«, fährt Maura sie an und schubst ihren Koffer einen weiteren Schritt vor.

Tess stemmt sich die Hände in die Hüften. »Tja, vielleicht solltest du dann lernen, dich besser unter Kontrolle zu halten. Und du wunderst dich, dass die Leute dir nicht vertrauen!«

Alice erscheint wieder in der Tür. Dieses Mal wirft sie einen lavendelfarbenen Spitzenunterrock auf den Flur. »Nun, ich werde froh sein, endlich das Zimmer mit einem Mädchen von meinem Rang zu teilen. Stellt euch nur vor, ich war mit der Tochter des Kutschers befreundet! Denk nur an all die schönen Geschenke, die ich dir gemacht habe. All meine Wohltätigkeit war für die Katz.«

»Wohltätigkeit!«, schreit Vi. Als sie sich hinunterbeugt, um den Unterrock aufzuheben, fallen all ihre Kleider auf den grünen Teppich. Tess läuft an Maura vorbei und hilft ihr, sie wieder aufzusammeln. Vi greift in ihre Reisetasche und zieht ein Paar schwarzer Satinhandschuhe mit lilafarbenen Knöpfen hervor. Sie bewirft Alice damit, die sich schnell gegen die Wand drückt. »Hier! Nimm sie zurück. Ich will sie nicht mehr. Ich würde es nicht einen Tag länger mit dir aushalten – nicht für alle Diamanten auf der Welt!«

»Mädchen!« Schwester Johanna, die uns in Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet, kommt den Flur heruntergestürmt. »Was um alles in der Welt ist hier los? Schwester Cora ist schwer krank. Sie kann dieses Geschrei wirklich nicht gebrauchen.«

Maura schubst ihren Koffer an Vi und Tess vorbei. »Entschuldigung, Schwester«, sagt sie süßlich. »Vi und ich tauschen Zimmer. Wir sind in einer Minute fertig.«

»Tu nichts, was du hinterher bereust, Maura, bitte«, sagt Tess, und ich habe den Eindruck, dass sie damit mehr meint als nur den Zimmertausch.

Maura richtet sich auf und schnippt sich eine rote Locke aus dem Gesicht. »Du brauchst dir um mich keine Sorgen mehr zu machen, Tess. Halt dich einfach aus meinen Angelegenheiten raus.«