18 Kleine chinesische Fotolehre
Seit ewigen Zeiten konkurrieren Chinesen und Japaner darum, wer der tollste Ostasiat ist. Im Moment haben die Chinesen Oberwasser, während die Japaner am Boden liegen, ökonomisch und auch sonst. Galten Letztere beispielsweise früher auf dem Gebiet der Vielfotografie als Weltmeister, sind das seit der Einführung der Digitalkameras die Chinesen. Die fotografieren auf Reisen ohne Unterlass, aber nur sich gegenseitig. Eine Landschaft an sich, Vulkanausbrüche oder Tsunamis interessieren in China kaum mehr als der Untergang der europäischen Schuhindustrie. Dasselbe gilt für Gebäude, mögen diese sich auch noch so spektakulär verhalten. So hat gewiss nicht ein Chinese den Kollaps des World Trade Centers fotografiert. «Gähn», hätte ein zufällig am Ground Zero vorbeilaufender Tourist aus Peking gesagt. «Wieso soll ich das denn knipsen? Mutti, Vater oder Tochter sind ja nicht drauf.»
Für Chinesen haben nämlich Bilder nur dann einen Wert, wenn darauf Verwandte oder Bekannte abgebildet sind. Und so nehmen die denn überall im Lande Aufstellung. Vorm Mao-Porträt auf dem Tian An Men, an Abgründen und Schlünden, in Wüsten, neben ausbrechenden Vulkanen oder vor Tsunamis. Die zu Fotografierenden müssen sich dabei an bestimmte, wahrscheinlich uralte Regeln halten. Grundsatz Nummer eins: Stehe niemals natürlich da! Männer legen die Hände an die Hosennaht, ältere Frauen auch. Jüngere Frauen sollten sich in eine möglichst neckische Pose werfen und mit dem Zeige- und Mittelfinger das V-Zeichen machen, ebenso kleine Mädchen. Da können die für Urlaubsfotografie zuständigen Behörden noch so viele Vorschläge zur Dynamisierung des chinesischen Urlaubsfotos machen («Nutze den ‹Moment›, damit das Foto lebendig wirkt»): Halten tut sich niemand dran.
Wahrscheinlich stammen die alten Fotografierregeln bereits von Konfuzius (551 – 479 v. Chr.), dessen Ideen hier in den letzten Jahren angeblich mehr und mehr an Einfluss gewinnen. Konfuzius hat wohl auch gesagt: «Sorge dafür, dass dein Foto den Eindruck erweckt, Mutti, Vati und Tochter seien die einzigen Menschen auf der Welt.» Das zu realisieren ist in China allerdings so schwer, wie einen Mann zu fotografieren, der seinen eigenen Kopf verspeist (sorry, Matt Stone und Trey Parker), weil es eben fast überall im Land so brechend voll ist. So wundert es auch nicht, dass die Chinesen für ihre Fotos ganz besonders lange brauchen. Erst muss der Blutsverwandte die richtige unentspannte Haltung einnehmen, dann müssen auch noch Tausende von Mitmenschen vertrieben werden. Sollte also tatsächlich ein Chinese vor den brennenden Zwillingstürmen ein Foto gemacht haben, hat er den aus den Fenstern Springenden zugeschrien: «Los, schneller fallen. Ihr stört im Bild!»
Trotzdem wäre aus der Aufnahme nichts geworden. Für ein chinesisches Kunstfoto muss sich nämlich nicht nur der Fotografierte kreativ hinstellen, sondern auch der Fotograf. Dafür geht er meistens in die Hocke oder in einen weiten, federnden Spagat: So braucht man in China für einen Schnappschuss, alle Vorbereitungen zusammengerechnet, eine gute Viertelstunde. Bis dahin ist aber längst der Nordturm kollabiert oder die Riesenwelle über der Verwandtschaft zusammengebrochen. Das ist auch der Grund, weshalb es so wenig Fotos von Chinesen vor Tsunamis gibt, obwohl solche Bilder mit Sicherheit versucht wurden.
Ganz zum Schluss des Fotografiervorgangs hat der Fotograf dann sehr laut zu zählen: «Yi, Er, San», eins, zwei, drei; ein Mantra, das man an jedem chinesischen Urlaubsort ein paar tausendmal am Tag hört. Bei «San» sagt Mutti oder Vati dann: «Qiezi!» Das heißt Aubergine und ist das chinesische Pendant zu «Cheese». Zumindest wird diese Anekdote immer wieder von in China lebenden Westlern erzählt. Wahr ist sie nur mit Einschränkungen. Es sagt ja auch im Westen praktisch niemand «Cheese», außer vielleicht ein paar überkandidelte Mädchen, die die falschen Fernsehserien gucken.
Natürlich gibt es auch Ausnahmen von den hier erklärten Regeln. So nehmen Chinesen manchmal eben doch unbekannte Menschen mit ins Bild, zum Beispiel, wenn es sich dabei um Angehörige von den im Land ansässigen Minderheiten handelt (Dong, Daur, Dai, Bai, Miao, Tu). Die sind immer so lustig angezogen. Auch dicke Ausländer werden gern zu den Blutsverwandten gestellt, vorzugsweise Frauen mit großen Brüsten. Das verspricht Wohlstand im nächsten Leben. Deshalb gibt es vielleicht doch chinesische Fotos von der Flugzeug-trifft-Haus-Geschichte aus dem Jahr 2001. Da sind dann sehr dicke Feuerwehrmänner drauf oder mit Körbchengröße F gesegnete Krankenschwestern.
Vor einem völlig neuen Problem stehen die Chinesen, seitdem sie von der Fotografie zum Videodreh gewechselt sind. Wer dabei nur einmal schwenkt, zumal in China, dem geraten unweigerlich unzählige fremde Menschen ins Bild. Wohl deshalb fallen einem in letzter Zeit immer mehr chinesische Hobbyfilmer auf, die ihre Kamera ausschließlich in den Himmel halten. Andere dagegen richten die Kamera auf den Boden und filmen nur den eigenen Hund. Aber vielleicht hofft man ja auch auf einen Japaner, der dort liegt und winselt. Auch das wäre gewiss ein herrliches Motiv.
Aushang im Kanas-See-Nationalpark
Fünf Punkte muss man beim Fotografieren beachten:
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Fotografieren Sie nicht nur Sehenswürdigkeiten. Man kann auch das Reisen selbst, das Essen und die Pausen fotografieren. Dann hat man eine schöne und wertvolle Erinnerung.
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Menschen und Sehenswürdigkeiten sollen sich ergänzen.
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Achten Sie auf den Bildausschnitt. Vor dem Fotografieren kann man sich diesbezüglich zum Beispiel in einem professionellen Fotoladen informieren. Das ist ein schneller Weg zum Ziel.
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Die Haltung der Personen sollte entspannt sein. Personen können stehen, hocken, auf der Wiese liegen. Hauptsache, es sieht natürlich aus.
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Der Blick der fotografierten Person sollte lebendig sein. Sie sollte entweder in die Kamera sehen oder Sehenswürdigkeiten betrachten. Für Fotos mit mehreren Personen gilt: Entweder wählt man vorher einen Punkt, den die Leute fixieren, oder sie sollen eine Sehenswürdigkeit betrachten. Nutze den «Moment», damit das Foto lebendig wirkt.