8 Ohne eingebauten Kompass
Manchmal ist es wirklich zum Mäusemelken. Da berichtet man schon etliche Jahre direkt und detailliert aus der chinesischen Hauptstadt, und noch immer haben die Deutschen keine Ahnung von China. So wie der Bekannte, der mich neulich hier in Peking besuchte. Er wollte eigentlich nur nach Guangzhou, um dort ein paar Geschäfte zu machen. Nun liegt Guangzhou im Süden des Landes, in unmittelbarer Nachbarschaft Hongkongs, von Peking ist es zweitausend Kilometer entfernt. Früher nannte man die Stadt Kanton. «Hätte ich das gewusst», sagte da der Mann, «wäre ich doch gleich nach Hongkong geflogen und den Rest mit dem Zug gefahren.» Der Rest, das wären schlappe hundertvierundsiebzig Kilometer gewesen. Guangzhou hat aber auch einen brandneuen internationalen Flughafen. Siebenmal in der Woche fliegt die Lufthansa von Frankfurt aus direkt dorthin. Das habe ich meinem Bekannten nicht gesagt. Ich wollte ihn nicht zusätzlich deprimieren.
Allerdings: Sowenig sich Ausländer in der chinesischen Geographie auskennen, so wenig tun das die Chinesen. Rund fünfzigtausend Wachmänner stehen in Peking herum, die nichts anderes machen, als in dieser extrem sicheren Stadt Parkplätze, Hotels, Supermärkte und die Eingänge von Wohnanlagen zu bewachen. Sie hätten eigentlich den lieben langen Tag Zeit, sich darüber klar zu werden, wo sie sich befinden. Sie wissen es trotzdem nicht. Fragt man einen von ihnen nach einem Restaurant, einer Straße oder einer berühmten Sehenswürdigkeit in Steinwurfnähe, zucken sie nur mit den Schultern und murmeln: «Bu zhi dao», keine Ahnung.
Den Chinesen, so scheint es, fehlt der Orientierungssinn. Das ist mir schon zu meinen Singapurer Zeiten aufgefallen. Damals lernte ich einen chinesischstämmigen Mann kennen, der den lustigen Namen Jasper trug und der Offizier in der Singapurer Armee war. Eines Tages wollte mich Jasper zum Bowling abholen; der Abwechslung halber gab ich mich im öden Singapur bisweilen dieser auch nicht gerade schillernden Vergnügung hin. Jasper brauchte eine geschlagene Stunde, um mich zu finden. Anschließend wollten wir noch eine junge Frau einsammeln. Sie stand, so hatte sie per Handy durchgegeben, am Clifford Pier, einer der wenigen historischen Sehenswürdigkeiten in der Innenstadt, die die Kahlschlagsanierung der letzten fünfzig Jahre auf wundersame Weise überstanden hat. Jasper hatte trotzdem keine Ahnung, wo es zu finden war. Nachdem er sich x-mal verfahren hatte, gelang es ihm nur mit meiner Hilfe, die Dame schließlich ausfindig zu machen. Dazu muss man wissen: Die gesamte Insel Singapur ist wirklich winzig. Von Ost nach West misst sie maximal zweiundvierzig Kilometer, von Nord nach Süd sind es ungefähr fünfundzwanzig. Und die eigentliche Innenstadt ist so überschaubar wie beispielsweise Bielefeld. Trotzdem kannte sich hier ein Armeeoffizier nicht aus, zu dessen vornehmlichen Aufgaben es doch gehört, sich in einem beliebigen Gelände zu orientieren. Da stellt sich allerdings die Frage, wie man mit einer Armee, die aus solchen Leuten besteht, überhaupt ein Land verteidigen will?
Glücklicherweise hat sich Singapur in den wenigen Jahren seiner Selbständigkeit noch nie im Krieg befunden. Anders ist das mit China, das vor 1949 eine lange Phase der kriegerischen Auseinandersetzungen erlebte. In dieser Zeit konnte man sehr schön beobachten, wie sich chinesisches Militär verhält, wenn es sich in einer unbekannten Umgebung befindet. Der Lange Marsch von 1935 bis 1936, auf dem die Rote Armee unter Mao Tse-tung den nationalistischen Truppen Chiang Kai-sheks entkam, gilt bis heute zu Recht als eine der großartigsten strategischen Leistungen der Militärgeschichte. Doch sieht man sich die Marschroute der Roten Armee auf der Karte einmal genauer an, wird man schnell entdecken, dass Maos Truppen immer wieder in Spiralen oder gar im Kreis marschierten. Viele Militärhistoriker meinen, man habe so die Truppen der Nationalisten in die Irre führen wollen. Die jüngste, ziemlich schlechte Mao-Biographie von Jung Chang und Jon Halliday unterstellt sogar, Mao hätte seine Truppen absichtlich einen Umweg von zweitausend Kilometern machen lassen, um sich unterwegs seiner innerparteilichen Widersacher besser entledigen zu können. Was aber wäre, wenn sich die Rote Armee einfach in den unübersichtlichen Bergen Guizhous oder Sichuans verlaufen hätte?
Bleibt die Frage: Wer ist schuld, dass die Chinesen nie so genau wissen, wo sie sind? Ein fehlendes Gen, der schlimme Smog oder – im Westen immer wieder gern genommen – die kommunistische Partei? Ich glaube: Es liegt an der unendlich großen Menge an chinesischen Schriftzeichen, von denen man bis heute noch nicht einmal weiß, wie viele es überhaupt gibt. Das Kangxi-Wörterbuch von 1716 verzeichnet zwar genau 46 964, doch aktuelle Internetseiten wie chineseculture.about. com meinen, man müsse inzwischen von achtzigtausend ausgehen. Allgemein wird zwar behauptet, man käme mit nur dreitausendfünfhundert Zeichen aus, um eine Zeitung zu lesen. Aber selbst wenn man immerhin ein Zeichen pro Tag behält, braucht man zehn Jahre seines Lebens, um die dreitausendfünfhundert Zeitungszeichen zu speichern. Chinesische Kinder büffeln jedoch täglich viel mehr dieser komplizierten Hieroglyphen. Da bleibt im Kopf kein Platz für Kartographie, Geographie und Wissen, wo es langgeht.
Letztlich kann sich also in China nur jemand orientieren, der hier zu Hause ist, aber keine oder kaum Zeichen lesen kann. Und wer wäre das? Ich natürlich. Darum bin ich auch einer der wenigen, die Ihnen in Peking ganz präzise Ortsauskünfte geben können. Von meiner Wohnung zum Sommerpalast? Nichts einfacher als das! Erst mal ganz lange nach links, dann nach rechts oben, zwischendurch wieder nach links, aber das Abbiegen nicht vergessen. Und dann immer der langen Nase nach.