10 Im freien Osten
Von Deutschen werde ich immer wieder gefragt, ob ich denn hier in China auch ordentlich unter der Zensur zu leiden habe? Ich frage dann zurück: Welche Zensur? Was die schönen Künste betrifft, ist China wohl das freieste Land der Welt. Viel freier jedenfalls als Deutschland.
Das gilt besonders für den Film. Auf DVD gibt es hier alles: das Neueste aus Hollywood, aus Japan oder Indien, aber auch entlegenes, altes Zeug; bis hin zu Charles-Manson-Dokus, Pasolinis «Salò», dem monumentalen sowjetischen Kriegsfilm «Der Fall von Berlin» – mit Stalin als Gärtner im Kreml; unendlich viel besser als «Der Untergang» – oder dem ausgezeichneten Frühwerk des Österreichers Michael Haneke. Inzwischen habe ich mehr Filme geschaut als in meinem ganzen europäischen Leben, und meine DVD-Sammlung wächst von Tag zu Tag. Damit stehe ich nicht alleine. Ob Ausländer oder Chinese: Jeder, der in China lebt, guckt und sammelt. Ein guter Bekannter besitzt mehr als zehntausend Filme, die er in einem Extra-Zimmer in eigens angefertigten Glasvitrinen hortet: «Die sehe ich mir alle nacheinander an, wenn ich alt bin.»
Natürlich sind das alles Raubkopien, wie nach Schätzungen von Experten rund fünfundneunzig Prozent der DVDs im Lande. Doch man verkauft die Filme ganz offen im Laden, das Stück für achtzig Cent bis zu einem Euro fünfzig, je nachdem, ob es sich um eine DVD-5 oder um eine DVD-9 handelt. Da kann sich jeder nach seinen Bedürfnissen mit Filmen versorgen und sie dann nach seinen Fähigkeiten weggucken. Das gilt auch für Filme, von denen die westliche Presse meldet, sie seien von der chinesischen Regierung verboten worden, wie beispielsweise den von Steven Spielberg produzierten Film «Die Geisha». Korrekt formuliert müssten die Meldungen lauten: «Die chinesische Regierung hat diesen Film ausdrücklich empfohlen.» Kaum ist nämlich ein Verbot ausgesprochen, legen die Raubkopierer Sonderschichten ein, und die DVD-Händler stellen die Filme ganz nach vorne ins Regal. Daran gehindert werden sie nur in den seltensten Fällen. Natürlich gehen die Filme dann weg wie …, na, verbotene Filme in China eben.
Dass das DVD-Schauen niemals langweilig wird, liegt nicht nur an der Qualität der Filme. Zwar fehlt den geripten Fassungen meistens das im Westen übliche Bonusmaterial, dafür aber haben sie ganz eigene Extras. Und die sind viel lustiger als ein langatmiges Porträt des Regisseurs oder anderer Volkshochschulkrempel. Der Spaß fängt schon auf dem Cover an, bei den Inhaltsangaben. Verfasst sind sie meist im besten Chinglish (siehe «Buddna has not Mach the Valparaiso» im Mittelstufenwissen, Seite 129). Das klingt dann so: «Spartacus is athink with a story as impressivewe as itswidescreen ction and Ocarwinning ets.» Sehr gut gefällt mir auch die Kurzbeschreibung von «Johnny English», weil sie irgendwie so klingt, wie sich Ausländer Chinesisch vorstellen: «He kmows no feal, he knows no dangel, he kmows nothing.» Auch dass man versucht, Kinder mit dem Bonusversprechen «Including: A trip through the Walt Disney Studios and How Disney Cartoons are made» zu ködern, Liliana Cavanis Nazi-Schocker «Nachtportier» zu kaufen, finde ich sehr nett und antipädagogisch.
Noch besser aber sind die abgedruckten Credits. Hier gilt: Hauptsache, es sind große Namen drauf, ziemlich egal, welche. Die Raubtiteler behaupten beispielsweise, «Vom Winde verweht» – laut Cover übrigens ein Boxerfilm, der im Norden Englands spielt, bzw. auch: «One of the sexiest movies out this year» – sei mit Jane Fonda und dem Country-Star Willie Nelson (als Rhett Butler?). Im deutschen Katastrophenfilm «7 Zwerge» treten angeblich die Spice Girls «Victoria, Emma, Mel C., Geri, Mel B.» auf (schön wär’s). «Full Metal Jacket» ist laut Information auf dem Cover ein »Therlm by Luisbunuel», und zwar mit «Catherine Deneve», «Michel Piccoliin». Außerdem hat Oliver Stone seinen Film »Oliver Stones Nixon» offenbar von Guy Ritchie drehen lassen.
Andererseits versuchen einem die Raubkopier auch nicht um jeden Preis jeden Film aufzuschwatzen. Im Gegenteil. Vor wirklich miserablen Filmen wird sogar ausdrücklich gewarnt, wie zum Beispiel vor dem deutschen Film «Liebesleben» von Maria Schrader: «This movie», liest man auf dem DVD-Cover, «is certainly not worth watching. A pointless story about sex … While the scenery is very nice, the lack of skillful narration and superficial acting leave the movie goer empty.» Natürlich wurde auch diese Kritik geklaut – aus dem Blog sukip.com nämlich –, und der Raubkopierer hat den Inhalt wahrscheinlich auch gar nicht verstanden. Am Ende hat aber auch sie ihren mutmaßlichen Zweck erreicht: Ich habe mir die DVD jedenfalls gekauft. Nicht wegen des Films, sondern wegen des Covers mit der treffenden Besprechung.
Die schönsten Überraschungen aber erlebt, wer die DVD dann endlich einschiebt. Selten entspricht das, was man sieht, dem verbreiteten Raubkopieklischee (von der Leinwand abgefilmt, Zuschauerköpfe, Popcorntütenknistern). Öfter läuft da schon ein ganz anderer Film. Meistens ist der eine Enttäuschung: Statt des Tinto-Brass-Erotikkloppers flimmert plötzlich «Drei Farben Rot» über den Bildschirm, statt «Indochine» (mit C. Deneve) der totendoofe «Meet Joe Black». Gut beraten ist aber auch, wer etwas Kyrillisch gelernt hat, um Zwischentitel oder das Menü zu Thomas Vinterbergs Film «Dear Wendy» entziffern zu können.
Gute Frogspeak-Kenntnisse können auch von Nutzen sein, denn entgegen den Angaben auf dem Cover ist mancher Hollywoodfilm ausschließlich französisch synchronisiert. Wer das nicht kann, bleibt auf die englischen Untertitel angewiesen. Ein Hasardspiel. Entweder hat ein mongolischer Linguist die Dialoge aus dem Chinesischen zurückübersetzt; da versteht man dann nur Ulan-Bator. Oder man staunt darüber, dass Josh Hartnett in der Eröffnungssequenz von «Sin City» Jamie King zunächst küsst, sodann erschießt und dabei zu ihr sagt: «Right, lads, unbutton your muftis. Piss like a tom.» Intensive Recherchen ergaben: Das sind die Untertitel von «The Piano». Noch intensivere: Exakt dieselben Untertitel finden sich auch auf anderen Raubkopien. So erzählt ein anonymer Berichterstatter in dem Blog «Secretdubai» von ebendort, dass ihm ein chinesischer «Director’s Cut» von Bridget Jones 2 («The ekge of reason») verkauft wurde, ebenfalls auf Französisch und mit «Piano»-Untertiteln. Dem Blogger gefiel allerdings die «Pisst wie ein Engländer»-Version sehr viel besser als das Original, das er sich ein paar Wochen später im Flugzeug ansah.
Auch ich glaube an das Unterhaltungspotenzial der kreativ bearbeiteten Variante, weshalb ich sie selbst gern hätte. Ich habe mir jetzt schon mehrmals «Bridget Jones 2» gekauft, doch leider sind alle sechs Kopien in Ordnung. Da hilft nur abwarten und geduldig sein. Bzw. das tun, was auf dem chinesischen Cover des deutschen Versagerfilms «Liegen lernen» steht: «Still Haitern. Nichts Machen. Dann lauten einem die lingtoublichston Frauen aber den weg.» Oder in China die lingtoublichston DVDs.
PS: Was hier über Filme und DVDs gesagt wurde, gilt im Großen und Ganzen auch für Bücher. Es gibt letztlich auch keine verbotenen Bücher in China, denn das, was der Zensor nicht erlaubt, wird sofort in hohen Auflagen nachgedruckt. Das betrifft selbst Bücher, die die Verhältnisse in China stark kritisieren, wie z. B. «Die Wahrheit über den vierten Juni», ein Buch über das Geschehen auf dem Tian-An-Men-Platz am 4. Juni 1989, oder Publikationen der Falun-Gong-Sekte. Die Betreiber von illegalen Buchläden erklären stolz, sie könnten innerhalb von drei Tagen jedes gesuchte Buch besorgen. Nach Angaben des Hongkonger Magazins Open soll es in China rund hundert Untergrundverlage geben, die etwa viertausend Druckereien und Buchbindereien für sich arbeiten lassen und mehr als zweitausendsechshundert illegale Buchläden beliefern. So können diese Off-Verlage innerhalb weniger Tage bis zu hunderttausend Raubkopien eines Buches auf den Markt werfen. Die Untergrundverleger gefährden allerdings auch die legale Buchproduktion. Man geht davon aus, dass von jeder chinesischen Neuerscheinung vierzig Prozent regulär, sechzig Prozent aber als Raubkopie erscheinen. Zwar lässt die Qualität einer Raubkopie oft zu wünschen übrig, dafür ist das Buch aber auch viel billiger.
Sollten Sie also das Buch, das Sie gerade in der Hand halten, für lächerlich wenig Geld in China erstanden haben, dann handelt es sich mit Sicherheit um eine Raubkopie. Auch wenn es vor Fehlern wimmelt, hatten sicher chinesische Raubdrucker ihre Hand im Spiel. In diesem Fall fordere ich Sie jetzt ultimativ dazu auf, sich sofort ein zweites Exemplar zu kaufen, sobald Sie wieder in Deutschland sind. Ansonsten kann ich … hm, nun ja … sehr, sehr böse werden.
PPS: Übrigens ist auch das Internet in China nicht wirklich zensiert. Mehr dazu erfahren Sie im Kapitel «Ich rieche, rieche Menschenfleisch» (Oberstufenwissen, Seite 149).