11 In den gelben Bergen

Unter der Herrschaft Maos waren die Chinesen fast dreißig Jahre lang überaus sesshaft. Seitdem sie aber Geld wie Reis haben, reisen sie im Ausland und im eigenen Land herum. Was sie eigentlich an der Fremde reizt, weiß niemand so genau. Um diese Frage zu untersuchen, fuhr ich vor einiger Zeit zusammen mit meiner reizenden Dolmetscherin nach Huangshan, zu einem der beliebtesten innerchinesischen Reiseziele, zugleich den berühmtesten Bergen der Welt. So steht es jedenfalls im Prospekt, sogar in englischer Übersetzung: «Huangshan Mountain is the No. 1 famous mountain in the world.» Huangshan heißt Gelber Berg, aber eigentlich sind es mehrere Berge, und die sind so wenig gelb wie die Chinesen selber. Da haben wir gleich das nächste Rätsel.

Aber schon das erste ist schwer zu lösen. In Huangshan angekommen, stellten wir schnell fest, dass es nicht die Natur sein kann, die die Chinesen hierherzieht. Die macht ihnen Angst. Wohl deshalb waren die Berge eingezäunt und wurden von Wachleuten streng bewacht. Das kostet natürlich, weshalb man auch am Fuß des Bergensembles gleich zweihundert Yuan Eintritt verlangte. Das ist etwa der halbe Monatslohn einer Kellnerin in Peking.

Weil die Natur so furchteinflößend ist, sind die Chinesen darauf bedacht, dass sie nicht zu natürlich aussieht. Ein großer Flughafenterminal, mitten in ein Tal geflanscht, hilft sehr, den brutalen Natureindruck zu korrigieren. Hier werden die Touristenmassen abgefertigt. Der Glaskasten ist Teil eines großen Plans, den ungeschliffenen Bergen Manieren beizubringen. «Carry out the Scientific Approach of Development in the Campaign of Building National Civilized Scenic Area» hat die Civilization Work Commission of Mount Huangshan an das Eingangstor zum Gebirge geschrieben. Zum Zivilisierungsplan gehört auch die Beschriftung jedes Felsens mit Sinnsprüchen in roten und blauen Schriftzeichen. Nackte und ungewaschene Felsen, erklärte mir meine Dolmetscherin, fänden Chinesen ungehörig.

Nur vor einer Sache haben die Chinesen offenbar noch mehr Angst als vor der Natur selber: alleine in ihr rumzulaufen. Darum wurden die Berge gründlich vertreppt und verseilbahnt. So kann selbst der untrainierteste Mensch jeden noch so hohen Berg erklimmen. Und tatsächlich: Ob Greis oder Kind, Fettsack oder Magersüchtiger, ob gehbehindert oder vom Schlagfluss schwer gezeichnet, ob in Stöckelschuhen oder Slippern, alles stürmte den Gipfel. Nur Kellnerinnen sahen wir selten.

 

Die Menschenmassen machten deutlich, dass also auch die Chinesen dem Ruf der Berge folgen müssen, auch wenn er ihnen offenbar nicht besonders gut gefällt. Viel lieber hören sie sich selbst, weshalb man beim Klettern so viel Krach erzeugt, wie man nur kann. Umsonst mahnen die Schilder der Huangshaner Zivilisierungsbehörde: «Please listen respectfully to the birds in the forest without disturbance.» Wieso den Vögeln zuhören, dachten sich Herr Li und Frau Wang und spielten dem ungehobelten Federvieh lieber aus dem Transistorradio die neuesten Wirtschaftswachstumsmeldungen vor, sich dabei noch das eine oder andere zuschreiend.

Und auch dieser Hinweis, selbst wenn ihn die Reiseführer den Leuten per Megaphon in die abgehärteten Ohren hämmerten, scherte die Gipfelstürmer wenig: «A relaxed and happy feeling comes from the harmonious coexistence between human and nature.» Harmonische Koexistenz? Ist an so was nicht die Sowjetunion zugrunde gegangen? Chinesische Menschen fühlen sich auf einem Berg erst glücklich, wenn sie ein Vorhängeschloss an die Absperrketten der Wanderwege schließen können, auf das zuvor der eigene Name eingraviert wurde. Warum? Vielleicht einfach nur, damit die Graviermaschine, die gleich neben der Schlucht steht, ordentlich gegen das Panorama ankreischen kann, das blödsinnige.

Der Höhepunkt eines jeden Huangshan-Ausflugs ist jedoch der Sonnenaufgang. Um dieses seltene Naturschauspiel zu erleben, versammeln sich jeden Morgen in aller Buddhasfrühe ein paar tausend Menschen auf einer Terrasse neben dem Wetterobservatorium auf dem Bright Summit Peak. Wir versammelten uns mit, doch die Sonne ließ sich an diesem Tag nicht blicken. Sie versteckte sich vor den lärmenden Massen hinter dichten Wolken. Der Menge war das piepe. Aufgeregt plappernd starrte sie in die weiße Wolkensuppe. Die Hauptsache war, man drängte sich hier oben aneinander wie zu Stoßzeiten in der Pekinger U-Bahn. Noch besser gefiel es den Bergsteigern nur auf dem Lotus Flower Peak, dem mit 1873 Meter höchsten Gipfel in der Gegend – denn da war es noch ein Ideechen voller. Die meisten harrten extra lange aus, um sich noch etwas an ihren Mitmenschen zu reiben oder kurz zu telefonieren: «Ja, kaufen. Bergaktien. Sofort!»

Dann lief alles im Eiltempo die Treppen wieder runter. Auf halbem Weg wurde in die Seilbahn umgestiegen, weil man so schneller wieder aus der Natur kommt. Wir ließen es langsamer angehen und stiegen die fünfzehn Kilometer langen Treppen ganz hinab. So hatte ich endlich Ruhe, um noch einmal darüber nachzudenken, weshalb sich die Chinesen eigentlich auf die Reise machen? Hm, wahrscheinlich glauben sie einfach nur, dass es wichtig ist, die Drecksnatur hin und wieder mit massenhafter Präsenz richtig einzuschüchtern. Sonst kommt sie eines Tages doch noch in die Stadt und macht den Menschen hier den Krawall und das Gedränge streitig.

Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs
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