4 Chinesisch mit Chuck

Nach mehr als zwei Jahren, die ich in Singapur unter Chinesen verbracht habe, lerne ich jetzt endlich ihre Sprache. Meine Schule ist sehr gut. Im Aufenthaltsraum stehen eine Zweiliterflasche Scotch (drei viertel leer), eine Flasche Wodka (noch nicht angebrochen), ein guter Rémy Martin (fast ausgetrunken). Auch unsere kleine chinesische Lehrerin gibt sich große Mühe. Trotzdem habe ich noch nicht viel gelernt. Ich habe bisher eigentlich nur behalten, dass «mian» Nudel heißt – und Gesicht. Ziemlich ulkig, aber auch vertrackt.

Statt Chinesisch lerne ich täglich etwas Neues über meine Mitschüler. Das liegt an der Lehrerin, die uns geschickt ausfragt. Wie heißt du, wie alt bist du, wo kommst du her, was ist dein Lieblingsbuch, warst du schon mal im Gefängnis? Chinesen sind grundsätzlich neugierig. Sie fragen einem so große Löcher in den Bauch, dass Grizzlybären darin Winterschlaf halten könnten.

 

Über Anna, die aussieht wie eine etwas zu stabil geratene Flamencotänzerin, weiß ich mittlerweile, dass sie zweiundzwanzig ist und bisher in New York gewohnt hat. Sie liebt indisches Essen, hat einen Cousin mit gepiercter Unterlippe und zwei Freundinnen, die Susan und Carey heißen. Ihre Eltern leben in Washington, aber sie hat einen südamerikanischen Pass. Irgendwann will sie ein Buch über China schreiben.

Der dicke Roger ist dreiundfünfzig und kommt ursprünglich aus Iowa, wo er als Jugendlicher Umgang mit Kriminellen hatte. Die letzten Jahre lebte er in Santa Barbara, Kalifornien. Da war es ihm allerdings zu langweilig. Also ging er nach China. Sein Lieblingsautor ist Mark Twain, sein Lieblingsfilm «A Clockwork Orange», sein Lieblingsdrink warmer Campari ohne alles. Das größte Erlebnis, das er je hatte, war ein Anruf von Steve Jobs persönlich. Leider war Roger gerade nicht zu Hause, und seine chinesische Frau hatte von diesem Jobs noch nie gehört. Roger wohnt schon ein Jahr in Peking und sagt: «Chinesisch ist eine verdammt harte Sprache. Der einzige Satz, den ich bisher gelernt habe, lautet: ‹Cao ni ma bi.›» Fragen Sie bitte einen Chinesen, was das heißt. Oder nein: Fragen Sie besser nicht.

Dann ist da noch Penelope in unserer Gruppe, eine schöne, blasse Englischlehrerin. Sie kauft ihre Regale bei IKEA und kann Mark Twain nicht leiden. Sie hat weißlackierte Fingernägel und trägt jeden Tag eine andere, sehr offene Bluse mit einem zum Wochentag passenden BH (montags schwarz; mittwochs hellgrüne Spitze; freitags blaue Halbschale). Penelopes Hobby: sich wundern, und zwar darüber, dass sie täglich von Chinesen angebaggert wird, die geschickt ihre Handynummer erfragen und sie dann während des Unterrichts achtmal anrufen.

Natürlich muss auch ich Auskunft geben. Ich habe der Lehrerin erzählt, dass ich ein deutschstämmiger Staatsbürger des Pazifikinselstaates Naurubin, dort mit fünf bildschönen Frauen verheiratet war, später ein bekannter Atomwissenschaftler wurde, haarscharf an der Verleihung des Nobelpreises (Frieden) vorbeischrammte und aus politischen Gründen (Liebe zu Mark Twain) mein Heimatland verlassen musste.

Sicher, das ist alles erstunken und erlogen. Aber ich will wenigstens annähernd mit Klassenkamerad Nummer vier mithalten können. Er heißt Chuck und trägt seine blonden, langen Haare bis zum Hintern. Schon, wie alt er ist, kann er nicht sagen: «Ich bin in Alabama geboren, auf dem Land. Geburtsregister hat man da nie geführt. Wir stehen ja im Krieg mit dem Norden. Vielleicht bin ich dreiundfünfzig, vielleicht sechsundfünfzig. Meine Mutter zu fragen hat keinen Zweck. Die ist verrückt.» Chuck war schon überall auf der Welt. In den Siebzigern in Vietnam, später in Deutschland, für denselben Arbeitgeber, in der Nähe von Schwäbisch Gmünd. Da hat er auch ein bisschen Deutsch gelernt: «Stell dir vor, Christian. Gestern Nacht habe ich auf Deutsch geträumt. Einer sagte: ‹Lass uns rauchen einen Pfeife.› Keine Ahnung, was das bedeutet.»

Anfang der Achtziger ist Chuck dann in die USA zurück. In Seattle hat er als Barmann, Lehrer und Koch gearbeitet. Gleichzeitig. «Geschlafen habe ich praktisch nie. Dafür habe ich eine Sushi-Rolle kreiert. Ich habe Wels statt Lachs oder Thunfisch genommen und selbstgemixte Soßen. Die Japaner waren verrückt danach.» Als der Dotcom-Boom die gewachsenen Sozialstrukturen Seattles zerstörte, begann Chuck wieder, durch die Welt zu reisen, das Sushirezept immer im Gepäck. Vor ein paar Jahren kam er nach China und heiratete eine junge Chinesin, nachdem er vorher seinen Schwiegervater mit einer Kiste Porno-DVDs bestochen hatte: «Mein alter Herr ist mir heute noch dankbar. Er sagt, ich hätte sein Sexualleben gerettet.»

Chucks Interesse an Mark Twain ist eher gering. «Laoshi-Baby», sagt er zur Laoshi (Lehrerin), «ich fahre lieber Motorrad. Und wenn ich mal lese, dann nur chinesische Motorradbücher, auch wenn ich gar nicht verstehe, was da drinsteht. Ich will aber rauskriegen, weshalb in meiner ‹Chang Jiang› von 1975 japanische Originalteile sind. Das hieße ja, dass China schon zur Zeit der Kulturrevolution mit den Japanern zusammengearbeitet hat, was bekanntlich immer bestritten wird. Weißt du zufällig Näheres darüber?»

Die Lehrerin kann da nur mit den Schultern zucken, selbst wenn Chuck als Bonus ausplaudert, dass er in Deutschland schon mal im Gefängnis saß: «Ziemlich blöd da. Für sein Frühstück muss man selbst bezahlen.» Auch Roger ist in Iowa mal eingefahren, wenigstens fast. Diese Geschichten ärgern mich natürlich ungemein. Wohl oder übel werde ich nachziehen müssen, spätestens nächste Woche: mit einem spektakulären Knastaufenthalt in Nordkorea, Elektroschockfolter, langwierigen Auslieferungsverhandlungen. Langsam frage ich mich, ob ich wirklich jemals zum Chinesischlernen komme.

Chang Jiang heißt Langer Fluss und ist der chinesische Name für den längsten Fluss des Landes, den sechstausenddreihundert Kilometer langen Jangtse. Gleichzeitig ist das aber auch die Typenbezeichnung eines Motorrades, das seit 1957 hergestellt wird. Berühmt ist die Chang Jiang 750, die hauptsächlich für die Volksbefreiungsarmee gebaut und mit einem Beiwagen ausgeliefert wird. Dieses Motorrad ist eine Kopie des bekannten sowjetischen Kriegsmotorrads M72, das lustigerweise selbst eine Kopie ist, nämlich der R71, eines deutschen Vorkriegsmotorrads von BMW. Alte, aus Armeebeständen ausgemusterte Chang Jiangs werden übrigens in Peking bevorzugt von ausländischen Diplomaten in der Midlife-Crisis gefahren, die dabei zum Zeichen ihrer Wild- und Ungebundenheit statt eines Helms schwarze Bandanas tragen.
Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs
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