24

Pünktlich zur Aufführung von „Verrat in Lower Barton“ konnte Mabel das Krankenhaus verlassen. Das Theaterstück bildete den Abschluss der Festwoche, von der Mabel nichts mitbekommen hatte, ebenso, wie sie den Basar auf Higher Barton verpasst hatte. Von Victor erfuhr sie, dass der kleine Markt wie geplant im Garten des Herrenhauses stattgefunden hatte, Abigail war allerdings nicht in Erscheinung getreten. Die Pfarrersfrau war mit dem Erlös sehr zufrieden, denn der Basar war von doppelt so vielen Menschen besucht worden wie in den Vorjahren.

„Jeder hoffte natürlich, einen Blick auf den Ort des Verbrechens werfen zu können“, erklärte Victor. „Die Polizei hat den See jedoch weiträumig abgesperrt, und auch die Bibliothek wurde endlich auf Spuren untersucht, von denen aber keine mehr zu finden waren. Einige Besucher waren enttäuscht, hatten wohl erwartet, dem Mörder von Higher Barton höchstpersönlich zu begegnen. Die meisten waren aber vor allem regelrecht geschockt über die schrecklichen Ereignisse.“

„Manche Menschen sind einfach über alle Maßen sensationslustig.“ Mabel nickte grimmig. „Mir tut Abigail schrecklich leid, sie muss unter dem Gerede furchtbar leiden.“

„Ich habe sie seit Donnerstag nicht mehr gesehen“, entgegnete Victor, „hab’ aber gehört, sie wäre wieder zu Hause.“

Victor reichte Mabel galant seinen Arm, als er sie aus dem Krankenhaus führte, öffnete die Tür des Jeeps und war ihr beim Einsteigen behilflich. Mabel war über seine Manieren erstaunt. Offenbar konnte der alte Griesgram höflich und freundlich sein, wenn er wollte. Sie nahm Victors Hilfe gern an, wenngleich sie sich keinesfalls krank oder gar gebrechlich fühlte. Sie litt zwar noch unter leichten Kopfschmerzen, der Arzt hatte ihr aber versichert, diese würden in den nächsten Tagen zurückgehen und es seien keine Spätfolgen zu erwarten. Während der Fahrt nach Higher Barton teilte Victor ihr eine gute Nachricht mit: Michael Hampton war aus dem Koma erwacht und hatte keine Lähmungen erlitten. Vor ihm lag zwar noch ein langer Weg der Genesung, er würde aber wieder vollständig gesund werden.

„So hat Parker wenigstens nur einen Mord auf dem Gewissen“, stellte Mabel fest. „Ich bezweifle allerdings, dass er überhaupt ein Gewissen hat.“

Sie lehnte Victors Angebot, sie ins Haus zu begleiten, ab, denn Mabel wusste, Abigail würde keine Fremden sehen wollen, auch wenn Victor kein Fremder im eigentlichen Sinne war. Als sie die Halle betrat, traten ihr George und Emma Penrose entgegen. Beide waren verlegen, Emma Penrose konnte Mabel nicht ins Gesicht sehen, als sie murmelte: „Es tut uns leid, Miss Clarence. Ich meine, dass … wir … nun, wir glaubten wirklich, dass da keine Tote war … und dann Justin … Ich hatte keine Ahnung, denn dann hätte ich doch niemals …“

Mabel nickte ihr beruhigend zu.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Penrose, die Polizei ist von Ihrer Unschuld weitgehend überzeugt. Ich trage Ihnen nicht nach, dass Sie nicht wollten, dass meine Cousine von der Affäre ihres Neffen mit Miss Thompson erfährt, wenngleich Ihr Verhalten nicht richtig war.“

Emma Penrose senkte verschämt den Kopf, ihre Wangen färbten sich rot.

„Es tut mir leid. Ach, Sie glauben gar nicht, wie leid mir das tut. Ich war so froh, dass Justin endlich eine gute Stellung hat. Mylady hätte ihn bestimmt entlassen – natürlich. Wenn ich geahnt hätte, dass …“

„Vergessen wir es, Mrs Penrose.“ Mabel wusste, dass sie sich äußerst großzügig verhielt, die Haushälterin wirkte aber derart verstört und zeigte aufrichtige Reue, dass Mabel ihr nicht länger zürnen konnte.

George Penrose hielt ihr einen weißen Umschlag hin und räusperte sich.

„Unsere Kündigung, Miss Clarence.“

„Kündigung?“ Mabel runzelte die Stirn. „Ich verstehe, wie schwer es für Sie sein muss. Meine Cousine wird aber bestimmt nicht wollen, dass Sie …“

„Sie sind jetzt die Herrin, Miss Clarence.“ Emma Penroses Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Mein Neffe hat versucht, Sie zu töten, da kann ich unmöglich bleiben.“

„Herrin?“ Ungläubig sah Mabel von George zu Emma. „Meiner Cousine geht es doch gut, oder?“

„Nun ja, soweit es einem in dieser Situation gut gehen kann“, bemerkte George Penrose. „Eine Tote auf Higher Barton und dann die Sache mit Parker …“ Seine Wangen röteten sich, als er fortfuhr: „Die Geschichte hat natürlich ihre Runde gemacht. Nicht nur in Lower Barton, sondern in der halben Grafschaft. Darum will Mylady ja auch …“

„Ich glaube, das muss Miss Clarence mit Mylady besprechen“, unterbrach Emma Penrose ihren Mann. „Wir sollten beginnen, unsere Sachen zu packen.“

„Warten Sie!“ Mabel legte eine Hand auf Mrs Penrose’ Arm. „Bitte, bleiben Sie, wenigstens noch ein paar Tage. Ich möchte erst mit meiner Cousine sprechen.“

Mabel fand Abigail in ihren Räumen. Erstaunt sah sie, wie überall halb gepackte Koffer, Reisetaschen und Kleidungsstücke herumlagen. Inmitten des Durcheinanders saß Abigail in einem Sessel und nippte an einem Glas Brandy, obwohl es erst Vormittag war.

„Mabel, schön, dass es dir wieder gut geht.“ Abigails Stimme war leise und klang wie die einer sehr alten Frau. Einer Frau, deren Herz gebrochen war und die kaum noch einen Funken Lebenswillen in sich hatte.

„Was hat das zu bedeuten?“ Mabel deutete auf das Chaos um sie herum.

„Abigail seufzte. „Ich werde Higher Barton verlassen.“

„Du willst verreisen?“, fragte Mabel und wusste die Antwort, bevor Abigail sie ihr gab.

„Ich werde in mein Haus nach Südfrankreich fahren. Wahrscheinlich komme ich nie wieder zurück.“ Sie hob den Kopf und sah Mabel direkt in die Augen. „Hier kann ich nicht bleiben, das verstehst du doch, nicht wahr? Nicht hier, wo mich alles an … an ihn erinnert, und wo jeder sich den Mund über die liebestolle Alte zerreißt, die meinte, einen jugendlichen Liebhaber halten zu können.“

Einer spontanen Eingebung folgend beugte sich Mabel zu Abigail hinunter und schloss sie fest in die Arme. Sie spürte, wie Abigails Schultern unter ihrer Berührung zuckten, und murmelte: „Weine ruhig, meine Liebe. Tränen erleichtern.“

Abigails Körper versteifte sich. Mit einem Ruck machte sie sich aus der Umarmung frei und stand auf, das Gesicht wie aus Stein gemeißelt.

„Eine Tremaine weint nicht, Mabel. Und schon gar nicht um einen Menschen, der keine einzige Tränen wert ist.“ Sie nahm eine Bluse in die Hand, betrachtete sie längere Zeit, bevor sie sagte: „Soll ich sie mitnehmen? Ich glaube eher nicht, für das sommerliche Klima am Mittelmeer ist sie wenig geeignet. Im Herbst können die Abende jedoch etwas kühl werden …“

„Abigail …“ Mabel machte einen Schritt auf ihre Cousine zu, wich vor ihrem abweisenden Blick jedoch zurück.

„Du wärst die bessere Frau für Arthur gewesen“, sagte Abigail plötzlich. „Dir wäre es gelungen, ihn so glücklich zu machen, dass er sich nicht einer anderen Frau hätte zuwenden müssen.“ Mabel öffnete den Mund, um dies zu dementieren, spürte jedoch, dass sie Abigail jetzt nicht unterbrechen durfte. Als wäre Mabel nicht anwesend, fuhr Abigail fort: „Die ersten Jahre unserer Ehe waren wirklich gut. Ja, ich glaube, wir waren sehr glücklich. Wir reisten viel, kauften das Haus in Südfrankreich, verbrachten die Winter dort und hatten einen großen Bekanntenkreis. Dann aber wollte Arthur Kinder, am besten gleich mehrere, doch ich konnte ihm keine schenken. Nach der Fehlgeburt fühlte ich mich sehr schlecht, denn zuerst hatte ich das Kind ja gar nicht gewollt, und nun war es zu spät. Arthur machte mir zwar nie Vorwürfe, jedenfalls nicht mit Worten, seine Blicke sprachen jedoch Bände. Bald war er des ständigen Reisens müde, ebenso der Partys und Empfänge, während ich das Leben in vollen Zügen genießen wollte. Somit verbrachten wir immer mehr Zeit getrennt voneinander, und ich habe nicht bemerkt, dass er eine Geliebte hatte. Wahrscheinlich war die Frau in Bristol … Sarahs Mutter … nicht die Einzige, vielleicht wollte ich es auch gar nicht wissen.“ Abigail schien aus ihren Erinnerungen aufzuwachen, denn sie sah Mabel wieder an. „Mabel, ab sofort gehört Higher Barton dir, ich kann es nicht mehr gebrauchen.“

„Auf keinen Fall …“

„Nein, unterbrich mich nicht!“ Abigail hob die Hand. „Du kannst mit dem Haus und dem Besitz machen, was du willst. Das Land wird von einem fähigen Mann verwaltet, und um das Haus kümmern sich die Penroses, wenn du es für richtig hältst, sie zu überzeugen, auf Higher Barton zu bleiben. Ich glaube, Emma Penrose, dass sie nicht wusste, was für ein verachtungswürdiger Mensch Justin ist. Sie hat sich unter Tränen bei mir entschuldigt. Die beiden sind nicht mehr die Jüngsten, es würde schwer für sie werden, eine neue Stellung zu finden, in der sie zusammenbleiben können.“

„Ich möchte das Haus nicht“, wandte Mabel ein, als Abigail an ihrem Brandy nippte. „Fahre einige Zeit fort, verbringe den Sommer in Frankreich, wie du es ohnehin vorgehabt hast, komm zur Ruhe und denke nach. Ich bin sicher, in ein paar Monaten wirst du alles … vergessen haben.“

„Vergessen?“ Abigail lachte bitter. „Vergessen, dass in meinem Haus ein Mord geschehen ist? Immer wenn ich die Bibliothek betrete, werde ich daran erinnert. Soll ich etwa auch vergessen, dass der Mann, dem ich vertraute und dem ich meine ganze Liebe schenkte, nicht nur ein unschuldiges Mädchen tötete, sondern es auch auf dein Leben abgesehen hatte? Nein, meine Liebe, vielleicht werden diese Wunden irgendwann heilen und nicht mehr so sehr schmerzen, Narben werden jedoch immer bleiben, insbesondere wenn ich hierbliebe. Und das Wort ›vergessen‹ streiche ich aus meinem Vokabular.“ Den letzten Satz hatte Abigail so leise gesagt, dass Mabel sie kaum verstehen konnte. Lauter und gefasst fuhr sie fort: „Am Montag werden wir alles Notwendige mit meinem Anwalt und dem Notar regeln. Am Dienstag fliege ich dann nach Nizza, der Flug ist bereits gebucht.“

Mabel wusste, jedes weitere Wort zwar sinnlos. Abigail hatte ihre Entscheidung getroffen, und niemand, auch nicht sie, würde ihre Meinung ändern.

„Und Higher Barton gehört wirklich Ihnen?“ Victor Daniels war bass erstaunt, als ihm Mabel von dem Gespräch mit Abigail erzählte. Er hatte Mabel abgeholt, um nach Lower Barton zu fahren und sich gemeinsam das Theaterstück anzusehen. Abigail begleitete sie nicht, wofür Mabel Verständnis hatte, denn jeder hätte hinter ihrem Rücken getuschelt oder sie mit mitleidigen Blicken bedacht.

„Tja, es sieht alles danach aus“, antwortete Mabel.

„Werden Sie dort leben?“

Mabel schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Vorerst werde ich das Haus der Obhut der Penroses überlassen und mir in Ruhe überlegen, was geschehen soll.“

„Emma Penrose bleibt hier?“ Victor sah sie erstaunt an, und Mabel nickte.

„Zumindest für die nächsten Wochen. Mrs Penrose darf die Gegend derzeit sowieso nicht verlassen, solange die polizeilichen Ermittlungen nicht abgeschlossen sind. Wenn ihre Unschuld erwiesen ist, werden wir sehen, wie es weitergeht.“

„Sie sind eine bemerkenswerte Frau, Mabel.“ Victor nickte anerkennend. „Es ist schwer zu verstehen, dass Sie Emma Penrose verzeihen wollen. Immerhin war sie zumindest daran beteiligt, wie Parker Ihre Cousine ausnahm.“

„Ich halte sie für etwas naiv“, sagte Mabel. „Das sollte jedoch unter uns bleiben, Victor. Emma Penrose dachte an das Wohl ihres Neffen, wenngleich sie damit Abigail Schaden zufügte. Blut war in diesem Fall eben doch dicker als Wasser.“

„Wenn Sie nicht im Herrenhaus leben möchten … werden Sie nach London zurückkehren?“ Mabel hörte Enttäuschung in Victors Stimme, und diese Erkenntnis wärmte sie von innen.

„Das habe ich nicht vor“, sagte sie und schmunzelte. „Ich hätte da eine Idee, wobei ich nicht weiß, was Sie davon halten werden.“

„Ich?“ Er sah sie erstaunt an. „Wie kann ich Ihnen bei Ihrer Entscheidung helfen?“

Mabels Schmunzeln intensivierte sich. „Nun, Sie brauchen eine Haushältern und ich eine Aufgabe. Ich bin zwar in Rente und muss, finanziell gesehen, nicht unbedingt arbeiten, Untätigkeit war jedoch noch nie meine Stärke. Ich versichere Ihnen, ich kann recht gut kochen.“

„Sie?“ Victors Pupillen schienen aus zwei Fragezeichen zu bestehen.

„Wäre die Vorstellung so schrecklich für sie?“, fragte Mabel. „Selbstverständlich würde ich nicht in Ihrem Haus wohnen, aber irgendwo in Lower Barton wird es wohl ein Cottage zum Mieten oder Kaufen geben.“

Victor drehte den Kopf zu Seite, sodass Mabel seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Gespannt erwartete sie seine Antwort.

„Ich gebe zu, es ist eine gute Idee“, sagte er schließlich leise. „Eine hervorragende sogar, wenn ich richtig darüber nachdenke. Wenn ich schon eine Frau in mein Haus lassen muss, dann nur Sie, Mabel.“

Sie streckte ihm die Hand entgegen.

„Dann ist es abgemacht? Ich verlange auch nur ein geringes Gehalt.“

Er schlug ein und grinste. „Nun, als künftige Besitzerin von Higher Barton sind Sie jetzt eine vermögende Frau. Wir setzen einen ganz normalen Arbeitsvertrag auf, und selbstverständlich werden Sie für Ihre Dienste entlohnt. Ich muss Sie jedoch warnen, Mabel, es ist nicht einfach, mit mir auszukommen. Vielleicht bereuen Sie Ihre Entscheidung schon bald.“

„Das Risiko gehe ich ein“, antwortete Mabel bestimmt, „und versichere Ihnen, wenn Sie mich meine Arbeit nicht selbstständig machen lassen, bin ich ganz schnell wieder weg.“

Während des Gesprächs hatten sie ihre Plätze in der ersten Reihe eingenommen, jetzt erklang eine Klingel und Mabel rutschte aufgeregt auf dem Stuhl herum.

„Es geht los!“

In der folgenden Stunde vergaß Mabel die schrecklichen Ereignisse der letzten Wochen, denn sie war von dem Schauspiel fasziniert. Obwohl sie die Handlung und den Ablauf des Stücks kannte und die einzelnen Szenen mehrmals bei den Proben gesehen hatte, war es etwas anderes, das fertige Stück auf der Bühne zu erleben. Jennifer Crown, die inzwischen wusste, dass Michael wieder gesund werden würde, spielte voller Enthusiasmus, nur an ganz wenigen Stellen wirkte sie übertrieben oder affektiert. Tim, der binnen weniger Tage die Rolle des Prinzen gelernt hatte, machte seine Sache ebenfalls wunderbar. Da er recht klein war, trug er Schnallenschuhe mit hohen Absätzen, was jedoch nicht störte, da die Mode zu Zeiten der Stuarts eben solche Schuhe vorschrieb. Vergeblich suchte Mabel nach Rachel Wilmington, das Mädchen war weder auf der Bühne noch im Saal zu finden. Da Rachel ohnehin nur eine Statistenrolle gehabt hatte, fiel ihr Fehlen nicht auf, Mabel machte sich jedoch Sorgen um sie. Als der letzte Vorhang fiel und die Schauspieler mit tosendem Applaus und Standing Ovations belohnt worden waren, bat Mabel Victor, sie zu dem Haus der Wilmingtons zu bringen.

„Oder möchten Sie lieber auf die Party gehen?“

„Ich mache mir nichts aus Partys“, erwiderte Victor. „Sie sollten sich dort aber sehen lassen. Die gelungene Aufführung wird gebührend gefeiert, und Sie haben einen nicht unwesentlichen Teil zum Erfolg beigetragen.“

„Ich verzichte gerne.“ Mabel hängte sich bei Victor ein.

Er legte eine Hand auf ihren Arm, räusperte sich und sagte: „Nachdem wir soviel erlebt haben … es ist an der Zeit, Ihnen die Wahrheit über Alan Trengove und mich zu erzählen.“

„Die Wahrheit, Victor?“ Mabel runzelte die Stirn. „Haben Sie etwa erneut geschwindelt.“

„Nein, nein“, beeilte er sich zu antworten. „Alles, was ich Ihnen bisher sagte, entspricht der Wahrheit. Ich denke, Sie haben das Recht zu erfahren, warum Alan den Kontakt zu mir abgebrochen hat.“ Es fiel ihm sichtlich schwer weiterzusprechen, und Mabel sah ihn auffordernd an. „Also, wie Sie wissen, waren Alans Vater und ich die besten Freunde, ich wurde sein Trauzeuge und übernahm die Patenschaft von Alan. Die Ehe war allerdings nicht glücklich, Alans Mutter fühlte sich von ihrem Mann, meinem Freund, vernachlässigt – er lebte nur für seine Arbeit. Da sie sehr scheu und zurückhaltend ist … war, brauchte sie einen Freund. Nun, ich mochte Clara, aber nur so, wie man eben eine Schwester gern hat. Als Frau meines Freundes war sie ohnehin tabu. Ich stand Clara jedoch jederzeit zur Verfügung, wenn sie eine starke Schulter brauchte, um sich auszuweinen. Ein Fehler, wie ich bald feststellen musste, denn ich geriet in den Verdacht, mich an die Frau meines besten Freundes mit niederen Absichten heranzumachen. Obwohl Clara und ich mit Engelszungen auf ihn einredeten und schworen, nur Freunde zu sein, reichte er die Scheidung ein. Clara wurde schuldig geschieden, damals waren die Gesetze noch so geregelt, und verlor das Sorgerecht für Alan. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war, dass sie nach Schottland gegangen war, und ein Jahr später ertrank sie im Meer. Es wurde nie geklärt, warum sie an diesem Tag schwimmen gegangen war – man sprach von Selbstmord, obwohl es keinen Abschiedsbrief gab. Alan gab mir die Schuld am Zerwürfnis seiner Eltern und schlussendlich auch am Tod seiner Mutter. Ich konnte es ihm nicht verdenken und so …“

Victor brach ab, und Mabel drückte seine Hand.

„Ich verstehe. Danke, dass Sie es mir erzählt haben. Vielleicht ist jetzt jedoch die Zeit gekommen, um die Vergangenheit ruhen zu lassen?“

„Wir werden sehen“, antwortete Victor ausweichend. „Ich kann versuchen, mit Alan zu sprechen, doch solange er nicht bereit ist, die Wahrheit zu sehen …“ Seufzend fuhr sich Victor über die Stirn. „Wollen wir noch etwas trinken gehen, Mabel? Wobei ich glaube, im ganzen Ort wird heute kein ruhiges Plätzchen zu finden sein.“

Mabel schüttelte den Kopf.

„Es interessiert mich mehr, wie es Rachel geht. Wenn Sie mich zu ihr fahren würden, wäre ich sehr dankbar.“

Das Haus der Wilmingtons lag still in der Dunkelheit, im Erdgeschoss brannte jedoch Licht.

„Ich warte im Wagen“, bot Victor an. „Ist wohl besser, wenn Sie von Frau zu Frau mit dem Mädchen sprechen.“

Rachel musste den Wagen gehört haben, denn als Mabel das Gartentor öffnete, kam sie ihr aus dem Haus entgegen.

„Ich hab’ gewusst, dass du kommst. Wie war die Aufführung?“

„Sehr gut, Rachel“, antwortete Mabel. „Es tut mir so leid …“, fuhr sie fort, wurde von Rachel aber sogleich unterbrochen.

„Du hast es gewusst.“ Die Stimme des Mädchens klang bitter. „Du hast die ganze Zeit gewusst, dass Sarah … tot ist.“

Mabel nickte, es hatte keinen Sinn zu leugnen.

„Niemand wollte mir glauben“, sagte sie. „Es gab Momente, da dachte ich sogar selbst, ich hätte mir alles eingebildet. Oh, Rachel, ich wünschte, es wäre so gewesen.“

Rachel zuckte die Schultern und schlang fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper.

„Komm rein, ich glaube, Vater hat dir etwas zu sagen.“

Obwohl Mabel auf eine Begegnung mit Denzil Wilmington liebend gern verzichtet hätte, folgte sie Rachel ins Haus. Es herrschte eine noch größere Unordnung als sonst, im Flur standen Kisten und Kartons, und instinktiv wusste Mabel, was das Chaos zu bedeuten hatte.

Rachel, die Mabels Blick richtig gedeutet hatte, sagte: „Wir gehen fort. Vater kann eine Stelle in Falmouth annehmen. Dort kennt niemand meine … unsere Vorgeschichte, und für Vater kann es einen neuen Anfang bedeuten.“

Mabel konnte Rachel verstehen. Ebenso wie Abigail hatte sie ihre große Liebe verloren, und die Menschen auf dem Land konnten grausam sein, wenn es um Klatsch ging. Im Prozess, den Justin Parker erwartete, würde Rachels und Sarahs Beziehung zur Sprache kommen, und Rachel war nicht stark genug, zu ihrer Neigung zu stehen. Lower Barton war nicht London, wo die Menschen aufgeschlossen und modern waren. Das hatte Mabel in der kurzen Zeit, in der sie hier war, bereits festgestellt.

Denzil Wilmington erhob sich schwerfällig, als Mabel die Küche betrat. Erleichtert sah Mabel nirgends eine Bierflasche, und Wilmington schien völlig nüchtern zu sein.

„Also, ähm … danke, dass Sie auf eine Anzeige verzichtet haben.“ Er sah Mabel nicht an, und für einen Moment schien es, als wolle er ihr die Hand geben, dann schwang sein Arm aber wieder zurück und er versteckte beide Hände hinter seinem breiten Rücken.

„Danken Sie nicht mir, sondern Ihrer Tochter“, sagte Mabel kühl. „Rachel hat in ihrem Leben schon genügend durchgemacht, es ist nicht nötig, einen Vater zu haben, der im Gefängnis sitzt.“

„Also … ja … es wird nicht wieder vorkommen.“ Kurz trafen sich Mabel und Wilmingtons Blicke, und Mabel sah die Verlegenheit in seinen Augen.

„Das hoffe ich. Seien Sie ihren Kindern künftig einfach ein besserer Vater und vergessen Sie nicht, dass Rachel erwachsen ist und ein Recht auf ein eigenes Leben hat.“

Ein unverständliches Brummen kam aus Wilmingtons Mund, dann stapfte er, ohne die beiden Frauen weiter zu beachten, aus der Küche.

„Danke“, flüsterte Rachel mit Tränen in den Augen.

Mabel sah sie aufmunternd an.

„Ich wünsche dir alles Glück der Welt, Mädchen. Es ist ehrenhaft, wie du dich um deine Geschwister kümmerst, denk aber auch mal an dich selbst. Irgendwann wirst du dich wieder verlieben, auch wenn dir das jetzt unmöglich erscheint. Steh dann zu deinen Gefühlen, denn sie sind nicht schlecht oder gar eine Schande.“

Rachel warf sich so unerwartet in Mabels Arme, dass sie beide taumelten. Das Mädchen drückte sie fest, wich dann schnell zurück und senkte verlegen den Blick.

„Ich werde Sarah niemals vergessen. Solange ich lebe nicht. Danke für deine Hilfe, ihren Mörder zu finden.“

Mabel nickte Rachel noch einmal zu, dann verließ sie das Haus. Nachdem sie in Victors Wagen gestiegen war, sagte sie: „Dann wollen wir mal zu Ihnen, Victor. Es wartet viel Arbeit auf mich.“

„Aber doch nicht mehr heute Nacht?“

Mabel straffte die Schultern und lachte.

„Nein, putzen und aufräumen werde ich heute ganz sicher nicht, wie wäre es aber mit einer Flasche Wein? Ich denke, wenn die anderen feiern, dann können wir uns auch ein Glas genehmigen.“

„Hm.“ Victor schmunzelte und startete den Wagen. „Wenn ich es mir so überlege … Sie haben manchmal schon ganz brauchbare Ideen.“ Von der Seite warf er Mabel einen Blick zu. „Auch wenn wir beide dem Tod nur knapp entronnen sind – eigentlich waren die letzten Tage recht aufregend, nicht wahr, Mabel? Sonst ist das Leben in Lower Barton nämlich ziemlich öde und langweilig.“

Mabel lachte. „Nun, auf solche Aufregungen kann ich getrost verzichten. Ich glaube, wir beide sind zu alt, um noch einmal auf Mörderjagd zu gehen.“

Mabel konnte nicht ahnen, wie Unrecht sie mit ihrer Bemerkung haben sollte …