15

Zu Mabels Überraschung saß Abigail bereits beim Frühstück, als sie am Samstagmorgen herunterkam, obwohl es noch nicht einmal acht Uhr war, und ihre Cousine sonst länger schlief. Abigails Teint war fahl, ihre Augen dunkel umschattet und sie aß nichts. Sie hatte nur eine Tasse mit schwarzem Kaffee vor sich stehen.

„Es ist furchtbar“, sagte sie zu Mabel anstatt eines Morgengrußes. „Er ist doch noch so jung, und erst vor ein paar Tagen haben wir über ihn gesprochen.“

Aus der Thermoskanne schenkt sich Mabel einen Tee ein und setzte sich Abigail gegenüber.

„Was ist geschehen?“

Abigail seufzte und sah Mabel traurig an.

„Michael Hampton, der Sohn von Clara und Richard … Du erinnerst dich, du hast beim Dinner über ihn gesprochen …“

„Ja?“ Eine kalte Hand schien nach Mabels Herz zu greifen. „Ich kenne Michael Hampton von der Theatergruppe.“

„Er hatte letzte Nacht einen Unfall.“ Abigail sprach so leise, dass Mabel Mühe hatte, sie zu verstehen. „Mit dem Motorrad, man fand ihn erst ein paar Stunden später, weil auf der Straße kaum Verkehr ist.“

Der Boden unter Mabels Füßen begann zu schwanken. „Ist er …“, sie schluckte, unfähig das Wort auszusprechen. Zu ihrer Erleichterung schüttelte Abigail den Kopf.

„Er lebt … noch, ist aber sehr schwer verletzt. Er liegt im Koma, und die Ärzte wissen nicht, ob er es schaffen wird.“

Mabels Finger krampften sich um die Tasse. Es war gerade einmal zwölf Stunden her, dass sie mit Michael gesprochen und seine Einladung, mit in den Pub zu kommen, abgelehnt hatte. Da war er so sorglos gewesen und hatte unbeschwert gelacht.

„Woher weißt du von dem Unfall?“, fragte sie leise.

Abigail seufzte. „Eine Bekannte von Emma Penrose arbeitet bei den Hamptons. Sie hat heute Morgen angerufen.“

Mabel schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein. Hunger hatte sie keinen, der Appetit war ihr gründlich vergangen.

„Was sind die Hamptons eigentlich für Menschen?“, fragte sie. „Woher kennst du sie?“

„Richard Hampton und Arthur hatten früher geschäftlich miteinander zu tun“, antwortete Abigail. „Richard ist der größte Hersteller von Landmaschinen in Ost-Cornwall und er ist ein leidenschaftlicher Jäger, wie Arthur es war. Die beiden gingen oft vor Sonnenaufgang zusammen in den Wald. Die Hamptons sind zwar nicht von Adel, zählen aber zu den Reichsten der Gegend.“

„Und Michael? Hat er in der Firma seines Vaters gearbeitet?“

Abigail lächelte bitter. „Bisher nicht, wenngleich Richard die Hoffnung nicht aufgab, seinen Sohn eines Tages für das Unternehmen zu interessieren. Soviel ich weiß, wurde Michael zwar in Eton ausgebildet, brach sein Studium der Betriebswissenschaft jedoch ab und lebt seitdem in den Tag hinein. Da er der einzige Sohn ist, und, wie du vielleicht herausgehört hast, besonders von Clara sehr verwöhnt wird, ließen sie ihn gewähren. Hörner abstoßen, nannte Clara es. Sie erwähnte einmal, Michael wolle versuchen, im Modelgewerbe Fuß zu fassen.“

„Tja, das Aussehen dazu hat er“, bemerkte Mabel. „Wo genau ist der Unfall passiert?“

„Auf der Straße zwischen Pelynt und Trenawan, die Hamptons bewohnen dort ein Landhaus. Idyllisch, aber auch einsam. Oh, es ist furchtbar! Ich kann mir vorstellen, was die arme Clara jetzt durchmacht.“

Mabel griff nach einer Scheibe Toast, die sie unter ihren Finger zerbröckelte, damit Abigail nicht merkte, wie sehr ihre Hände zitterten. Der Unfall war kein Zufall, dessen war Mabel sich sicher. Für einen Moment hatte sie Michael verdächtig, Sarah Miller ermordet zu haben, weil die junge Frau ihn abgewiesen hatte und damit Jennifer Crown ihre Rolle wieder bekam, doch diese Theorie musste Mabel jetzt über den Haufen werfen. Wiederum schien es wahrscheinlich, dass Michael über den Mord etwas wusste, wenn nicht sogar den Täter kannte. Deswegen hatte jemand seinen Tod gewollt.

Mabel schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

„Ich bin gegen Mittag zurück“, sagte sie und war froh, dass Abigail zu erschüttern war, um zu fragen, was sie vorhatte.

Die Straße, die von der kleinen Stadt Pelynt in das Dorf Trenewan, das eigentlich nur aus drei Farmen bestand, führte, war typisch für die Gegend: einspurig schmal, mit Ausweichmöglichkeiten in regelmäßigen Abständen und an beiden Seiten von etwa drei Meter hohen Hecken gesäumt. Langsam fuhr Mabel mit ihrem Vauxhall Corsa, der für diese Verhältnisse die optimale Größe hatte, die Straße ab, bis sie die Spuren fand. In der vergangenen Nacht hatte es nicht geregnet, so waren die polizeilichen Kreidemarkierungen des Unfalls auf dem Asphalt noch deutlich zu erkennen. An der Unfallstelle war die Straße schnurgerade, erst etwa dreihundert Meter weiter kam eine leichte Linkskurve, und an der Stelle, wo das Motorrad offenbar in die Hecke geschleudert sein musste, war das Gebüsch niedergedrückt. Mabel hielt in einer Ausweichbucht und stieg aus. Mit Beklemmung registrierte sie den rotbraunen großen Fleck auf der Straße, bei dem es sich um Michaels Blut handeln musste. Aufmerksam sah Mabel sich um. In dieser Gegend gab es keine Bäume, am linken Straßenrand standen lediglich hölzerne Strommasten. Als Mabel von dem Unfall gehört hatte, war ihr sofort der Gedanke durch den Kopf geschossen, jemand habe ein Seil über die Straße gespannt, auf das Michael in vollem Tempo geprallt war. Jetzt, an Ort und Stelle, musste Mabel einsehen, dass die Umsetzung ihrer Theorie hier nicht möglich gewesen wäre.

„Außer jemand befestigt das Seil an einem Masten und hält es auf der anderen Seite fest“, sagte sie laut und begann, die beiden Masten, die sich in der Nähe der Unfallstelle befanden, auf Spuren zu untersuchen – leider ohne Erfolg. Es gab keine Einkerbungen oder Absplitterungen, was unweigerlich zu sehen gewesen wäre, wenn jemand ein Tau um einen der Masten geschlungen hätte, und auf der gegenüberliegenden Seite hätte die Hecke niedergetrampelt sein müssen, wenn sich darin jemand versteckt hätte. Warum aber hatte jemand einen Unfall auf schnurgerader Strecke? Das Wetter war trocken gewesen, soviel Mabel wusste, hatte es auch keinen Nebel gegeben, und Michael beherrschte bestimmt sein Motorrad.

Vielleicht war er betrunken, überlegte Mabel, oder ein Tier ist über die Straße gelaufen, dem Michael ausweichen wollte. Das wären plausible Erklärungen für den Unfall, wenn es nicht die Verbindung zu Sarah Miller geben würde und wenn Mabel nicht beobachtet hätte, wie sich Victor Daniels mit dem jungen Mann stritt.

Langsam fuhr Mabel die Straße wieder zurück. Dabei fiel ihr ihre gestrige Vermutung, was die Beziehung zwischen Rachel und Sarah betraf, wieder ein. Aufgrund des Unfalls hatte sie seit dem Morgen nicht mehr daran gedacht. Kurz entschlossen lenkte Mabel ihren Wagen nach Lower Barton. Es war jetzt zehn Uhr, wenn sie Glück hatte, würde sie Rachels Vater zu Hause antreffen.

Im Unkraut überwucherten Vorgarten spielten die Zwillinge mit Plastikgewehren, mit denen sie aufeinander zielten. Der eine sah Mabel skeptisch an und blaffte: „Was wollen Sie?“

„Ich würde gerne deinen Vater sprechen“, sagte Mabel und schaute sich um. „Ist deine Schwester Rachel zu Hause?“

„Nee, die ist einkaufen“, antwortete der andere Junge. „Paps ist in der Küche.“

Da die Haustür offen stand, klopfte Mabel an und rief: „Mr Wilmington? Sind Sie da?“ Da niemand antwortete, trat Mabel in die Diele, in der nach wie vor ein heilloses Durcheinander herrschte. Die Küchentür war einen Spalt breit geöffnet, und Mabel drückte sie weiter auf. „Mr Wilmington?“

Denzil Wilmington war ein großer, bulliger Mann. Scheinbar ohne Hals saß sein kantiger Schädel auf einem massigen Körper, und eine Hand, deren Rücken dunkel beharrt war, umklammerte eine Bierflasche.

„Was woll’n Sie? Wir kaufen und spenden nichts. Haben selbst kaum genug zum Leben.“

Er nuschelte stark und seine Augen waren gerötet.

„Guten Morgen, Mr Wilmington.“ Mabel versuchte, so freundlich wie möglich zu lächeln. „Ich bin eine Bekannte von Rachel und würde gerne mit ihnen über das Mädchen sprechen.“

Aus zusammengekniffenen Augen musterte er sie von oben bis unten und machte keine Anstalten, Mabel einen Platz anzubieten, daher blieb sie abwartend an der Tür stehen.

„Hat sie was ausgefressen?“ Sein Lachen war gackernd und unangenehm. „Oder Ihnen die Ohren vollgejammert, wie schlecht es ihr geht? Würd’ mich nicht wundern, das Mädchen ist eine Memme. Flennt bei jeder Gelegenheit, anstatt ihre Arbeit zu tun.“

Unmerklich schlossen sich Mabels Hände zu Fäusten. Sie wunderte sich nicht, warum Rachel immer so still, schüchtern und verschreckt war. Denzil Wilmington war ein Mann, der einem Angst einflößen konnte – besonders wenn er getrunken hatte. Mabel vermutete, er gehörte zu der Sorte Alkoholiker, die je mehr sie getrunken hatten, umso gewalttätiger wurden. Rachels Verletzungen sprachen eine eindeutige Sprache. Mabel atmete tief ein und aus, dann sagte sie: „Ich möchte mit Ihnen über Rachels Freundschaft zu Sarah Miller sprechen.“

„Sarah, hä ... wer?“ Er winkte ab. „Rachel hat keine Freundinnen, hat dazu keine Zeit. Muss sich um ihre Geschwister kümmern, weil sie deren Mutter totgefahren hat.“

Für einen Moment überlegte Mabel, ob sie versuchen sollte, Denzil Wilmington zu überzeugen, dass der Tod seiner Frau ein tragischer Unfall gewesen war, an dem Rachel keine Schuld trug. Sie befürchtete jedoch, sie würde zu diesem hartherzigen, betrunkenen Mann nicht durchdringen können.

„Rachel wollte mit Sarah fortgehen“, vermutete sie ins Blaue hinein und seine Augenbrauen schossen nach oben. „Stimmt’s, Mr Wilmington? Das konnten Sie nicht zulassen. Wer sollte Ihnen dann den Haushalt führen und Sie mit Alkohol versorgen, wenn Rachel Sie verlassen hätte?“

Schneller als es Mabel seiner massigen Gestalt zugetraut hätte, schoss Wilmington hoch. Sein Stuhl flog polternd um, und mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch, sodass die Flasche umkippte und ein Rest Bier sich auf das schmuddelige Tischtuch ergoss.

„Raus hier!“ Sein Blick richtete sich drohend auf Mabel. „In meinem eigenen Haus muss ich mir eine solche Unverschämtheit nicht gefallen lassen.“

Unmerklich wich Mabel einen Schritt zurück, bis sie den Türpfosten in ihrem Rücken spürte, dennoch bemühte sie sich, keine Angst zu zeigen, als sie sagte: „Wann haben Sie herausgefunden, dass Rachel Sarah Miller liebt und ihre Liebe erwidert wurde? Rachel wollte mit Sarah fortgehen, um ein neues Leben zu beginnen. Das mussten Sie unter allen Umständen verhindern, nicht wahr? Haben Sie deswegen Sarah Miller ermordet?“

Wilmington war zwar betrunken, aber nicht derart besoffen, um den Inhalt von Mabels Worten nicht zu verstehen. Wütend schrie er: „Sind Sie völlig verrückt? Wo hat man Sie rausgelassen? Aus der Irrenanstalt?“

Obwohl Mabel Angst hatte, wurde sie plötzlich ganz ruhig. Die Lösung des Mordes an Sarah Miller lag greifbar vor ihr. Pat Cooks hatte gesagt, dass Sarah nicht auf Männer stand, sondern Frauen bevorzugte. Und Rachel war ein Typ, der bisher sicher keine guten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht hatte. Eine Liebesbeziehung der beiden jungen Frauen lag damit auf der Hand, und Rachels Vater hatte davon erfahren.

„Geben Sie es zu, Mr Wilmington.“ Mabel sprach im gleichen Tonfall, mit dem sie früher besorgte Angehörige von Schwerstkranken beruhigt hatte. „Sie wollten Ihre Tochter nicht verlieren, gleichgültig aus welchen Gründen. Vielleicht hatten Sie gar nicht beabsichtigt, Sarah zu töten. Vielleicht wollten Sie nur mit ihr sprechen, und dann sind die Nerven mit Ihnen durchgegangen. Warum aber auf Higher Barton? Warum waren Sie und Sarah in diesem Haus?“

Für einen Moment schwankte Denzil Wilmington, hatte sich aber gleich wieder im Griff.

„Verschwinden Sie!“ Seine Stimme wurde gefährlich leise. „Meine Tochter ist nicht so eine …“

Mabel griff in ihre Jackentasche und sie zog ihr Handy hervor.

„Ich werde jetzt die Polizei rufen, Mr Wilmington. Wenn Sie ein Geständnis ablegen, wird sich das auf Ihr Urteil positiv auswirken.“

Sie wusste zwar nicht, ob das stimmte, hatte es aber schon oft in Fernsehkrimis gesehen und hoffte, Wilmington dadurch zur Räson zu bringen.

Mit einem Schritt war er bei ihr und schlug das Handy aus ihrer Hand. Das Telefon flog quer durch die Küche, schlitterte über den Boden und knallte gegen die Wand. Dann riss Wilmington einen schmalen, hohen Schrank auf und Mabel keuchte entsetzt, als er plötzlich ein Gewehr in den Händen hielt. Ein unheilvolles Klicken sagte ihr, dass er die Waffe entsichert hatte, und er zielte mit dem Lauf direkt auf Mabels Gesicht.

„Raus hier!“ Schritt für Schritt wich Mabel zurück, Wilmington folgte ihr langsam, in seinen geröteten Augen stand pure Mordlust. „Keiner wird solche Lügen über meine Tochter verbreiten. Hören Sie, keiner!“

Von Mabels vorheriger Sicherheit war nichts mehr zu bemerken. Sie zitterte wie Espenlaub am ganzen Körper, ihre Kehle war ausgedörrt, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Wie hatte sie nur so dumm sein können, Sarahs Mörder selbst stellen zu wollen, anstatt die Polizei zu benachrichtigen?

„Vater!“ Rachels Schrei ertönte hinter Mabel. „Vater, was machst du da? Leg sofort das Gewehr weg!“

Für einen Augenblick blickte Wilmington zu seiner Tochter, die im Flur stand und vor Entsetzen die Einkaufstüten fallen ließ. Der Karton mit den Eiern zerbrach, und Toastbrot, Butter, Wurst und Äpfel vermischten sich mit der gelben, schmierigen Masse.

„Geh weg“, herrschte Wilmington Rachel an. „Diese Frau verbreitet Lügen über dich. Gemeine, schmutzige Lügen. Sie sagt, du hättest was mit … einem Weibsstück.“

Aus den Augenwinkeln sah Mabel, wie Rachel erst erbleichte, dann feuerrot wurde. Sie hatte also Recht gehabt – sie und Sarah Miller waren ein Paar gewesen.

„Gehen Sie“, raunte Rachel ihr zu. „Schnell, gehen Sie, bevor ein Unglück passiert!“ Rachel packte Mabels Arm und zog sie in den Flur. „Kommen Sie niemals wieder her, verstehen Sie? Niemals wieder!“

Mabel hastete zur Tür hinaus. Wilmington folgte ihr und schrie: „Sie alte Hexe! Sie werden meine Familie nicht zerstören. Sie nicht!“

Dann knallte ein Schuss und Mabel stockte im Schritt, wartete auf den Schmerz, denn sie war überzeugt, Wilmington habe ihr in den Rücken geschossen. Das alles dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann registrierte Mabel, dass sie unverletzt war, und Rachel rief: „Vater, mach dich nicht unglücklich!“ Ein zweiter Schuss knallte, die Kugel pfiff haarscharf an Mabels Kopf vorbei. Die Schüsse hatten die Nachbarn alarmiert, und aus den Häusern liefen Menschen, die sich aber schnell wieder in die Sicherheit ihrer Wände zurückzogen, als sie den aufgebrachten Wilmington mit dem Gewehr in den Händen sahen. So schnell sie konnte, hastete Mabel zu ihrem Auto. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ihre zitternden Finger den Schlüssel ins Zündschloss bekamen und sie den Wagen starten konnte. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn, als sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Straße hinunter schoss. Sie musste sofort zur Polizei! Nun konnte Chefinspektor Warden nicht länger ihre Aussage ignorieren. Für Mabel bestand kein Zweifel – Denzil Wilmington hatte Sarah Miller getötet, weil er verhindern wollte, dass Rachel mit ihr fortging und ihr trostloses in Lower Barton hinter sich ließ.

„Wir werden dem Angriff selbstverständlich nachgehen.“ Mit unbewegter Miene saß Warden hinter seinem Schreibtisch und sah Mabel an. „Gibt es Zeugen, dass der Mann Sie bedroht und auf Sie geschossen hat?“

„Die Tochter … Rachel …“ Mabel war immer noch derart aufgeregt, dass sie nur mit Mühe sprechen konnte. „Dann waren da noch zwei Jungen, die müssten im Garten gewesen sein, und ein paar Nachbarn haben es ebenfalls gesehen.“

Warden nickte und fügte eine Notiz dem Protokoll hinzu, das er aufgrund Mabels Bericht aufgesetzt hatte. Als Mabel vor einer halben Stunde ins Polizeirevier gestolpert kam, wäre er am liebsten durch die Hintertür verschwunden. Er bereute, heute ins Büro gekommen zu sein, obwohl Samstag war, aber der Motorradunfall der vergangenen Nacht bescherte ihm eine Menge zusätzlicher Arbeit. Lower Barton war zu klein, um für die einzelnen Delikte verschiedene Polizisten zu haben. Chefinspektor Warden war also für Unfälle, vermisste Katzen und Hunde sowie Verkehrsdelikte ebenso verantwortlich wie für Raub, Erpressung oder gar Mord. Nun, Letzteres war, solange er in Lower Barton tätig war – und das waren immerhin siebzehn Jahre – noch nie vorgekommen. Gleichgültig, was diese verwirrte Alte ihm erzählte, hier war niemand ermordet worden, und es würde auch niemand ermordet werden. Er seufzte verhalten. Gut, der Sache mit Denzil Wilmington und dem Gewehr musste er nachgehen. Warden befürchtete jedoch, auch diese Geschichte würde sich als Hirngespinst herausstellen, und er fragte sich, wie die nette und kultivierte Lady Abigail Tremaine zu einer solch verrückten Cousine kam.

Mabel lehnte sich vor und sah Warden eindringlich an.

„Inspektor, erkennen Sie denn nicht die Zusammenhänge?“ Sie sprach, als wäre er ein schwerkranker Patient, dem sie eine Therapie erklären müsste. „Denzil Wilmington hat Sarah Miller ermordet, weil Rachel, Wilmingtons Tochter, mit Sarah Lower Barton verlassen wollte. Als ich ihn damit konfrontierte, hat er versucht, auch mich zu töten.“

Chefinspektor Warden war eigentlich ein geduldiger Mann und nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Über zwanzig Jahre Berufserfahrung hatten ihn auch in schwierigen Situationen Gelassenheit gelehrt, jetzt stand er jedoch auf, stützte die Handflächen auf den Schreibtisch und musste sich beherrschen, einen ruhigen Ton zu behalten.

„Miss Clarence, es gibt keine Tote. Ich dachte, Sie haben Ihren Irrtum inzwischen eingesehen. Eine Sarah Miller ist mir nicht bekannt und es wurde auch keine Leiche gefunden.“

„Wilmington hat den Körper wahrscheinlich ins Meer geworfen“, unterbrach Mabel und straffte die Schultern. „Ich habe die Tote gesehen! Mit meinen eigenen Augen, und mit meinen Händen habe ich sie berührt.“

Warden seufzte nachhaltig und bemühte sich nicht länger, seinen Unwillen zu verbergen.

„Es gibt weder eine Leiche noch den kleinsten Beweis, Denzil Wilmington könnte irgendjemanden getötet haben. Ich kenne Wilmington, er ist ein Rüpel, besonders wenn er zu viel getrunken hat, aber einen Mord …“ Warden stockte, dann verzog er lächelnd die Lippen. Er setzte sich wieder und zog die Tastatur seines Computers näher zu sich. „Wann, behaupten Sie, soll dieser angebliche Mord auf Higher Barton geschehen sein?“

„Samstag vor einer Woche“, antwortete Mabel und nannte das Datum.

Warden tippte einige Daten in den Rechner, dann wurde aus seinem Lächeln ein befreiendes, lautes Lachen.

„Na also, Miss Clarence, da haben wir es. Selbst wenn, ich sage ausdrücklich wenn es diesen Mord gegeben haben sollte – Wilmington kann nichts damit zu tun haben.“

„Warum?“, fragte Mabel atemlos.

„Nun, in dieser Nacht saß er hier in diesem Gebäude in einer Zelle. Laut Aktenlage geriet er gegen zehn Uhr am Abend in eine Schlägerei im Pub, die er offenbar angezettelt hatte. Daraufhin wurde er in Gewahrsam genommen und zur Ausnüchterung ins Präsidium gebracht, das er erst am späten Sonntagvormittag wieder verließ. Sie sehen also, meine Liebe, Denzil Wilmington scheidet als Täter aus, er hat das beste Alibi der Welt.“

Mabel schluckte trocken. Wenn es stimmte, was der Inspektor berichtete – und es gab keinen Grund, seinen Ausführungen nicht zu glauben –, dann konnte Wilmington Sarah Miller tatsächlich nicht umgebracht haben. Der Körper des Mädchens war noch nicht steif gewesen, als Mabel ihn gefunden hatte. Folglich musste der Mord zwischen zwei und fünf Uhr in der Früh begangen worden sein, und in dieser Zeit schlief Wilmington seinen Rausch in einer Zelle aus.

„Vielleicht hat er jemanden beauftragt.“ Mabel wusste, wie schwach diese Vermutung klang, und Warden schüttelte auch sogleich den Kopf.

„Dazu hat Wilmington gar nicht den Grips und noch weniger das Geld. Der Mann kann sich und seine Familie kaum über Wasser halten, wie sollte er da einen Mörder anheuern?“ Warden stand auf und machte einen Schritt zur Tür. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Miss Clarence, die Arbeit wartet.“ Er öffnete die Tür und gab Mabel das untrügliche Zeichen, dass er das Gespräch für beendet hielt. „Wegen der Schüsse werden Sie von uns hören. Sie halten sich nach wie vor bei Lady Tremaine auf Higher Barton auf?“

Mabel nickte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre Handtasche zu nehmen und den Raum zu verlassen. Im Korridor drehte sie sich noch einmal um und sah Warden fest in die Augen.

„Sie machen einen Fehler, Inspektor, einen großen Fehler.“

Er schloss die Tür, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, und Mabel presste sie Lippen zusammen. Nun gut, wenn die Polizei nichts unternehmen wollte – sie würde nicht lockerlassen, bis sie den Mörder von Sarah Miller gestellt hatte. Rachels Vater schied offenbar aus, trotzdem war Mabel überzeugt, dass er alles andere als begeistert gewesen sein musste, zu hören, dass seine Tochter nicht nur Frauen liebte, sondern auch plante, ihn und ihre Geschwister zu verlassen. Was jedoch, wenn Wilmington wirklich nichts von Rachels Beziehung zu Sarah gewusst hatte?

„Oje, oje!“ Mabel seufzte laut, denn in diesem Fall hätte sie Rachels Geheimnis verraten und das Mädchen damit in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Sicher würde er nicht lockerlassen, bis er die Wahrheit aus Rachel herausbekam, und Mabel zweifelte nicht daran, dass er dafür auch seine Fäuste einsetzen würde. Sie musste unbedingt mit Rachel sprechen, ihr Mut ging aber nicht so weit, sie erneut zu Hause aufzusuchen. Mabel wusste, wenn ihr unüberlegtes Verhalten Rachel in Gefahr brachte und dem Mädchen etwas geschah, würde sie sich das niemals verzeihen können. Sie konnte nur hoffen, Rachel würde zur nächsten Probe kommen, dann wollte sie sich bei ihr entschuldigen und versuchen, sie zu überzeugen, dass ihre Gefühle nicht falsch waren – gleichgültig, was andere Menschen, ganz besonders Denzil Wilmington, davon hielten.

„Mabel Clarence, das nächste Mal denkst du erst nach, bevor du handelst“, sagte sie laut, was ihr den erstaunten Blick eines vorbeilaufenden Passanten einbrachte.

Am liebsten wäre Mabel direkt zu Victor Daniels gefahren, etwas in ihr hielt sie jedoch noch immer zurück, diesem Wunsch nachzugeben. Sie konnte dem Tierarzt nicht mehr vertrauen. Nicht, seit seiner Leugnung, Michael Hampton zu kennen, und erst recht nicht, seit Michael diesen Unfall erlitten hatte. Einen Unfall, der – davon war Mabel überzeugt – ganz bestimmt keiner war.