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Obwohl körperlich völlig erschöpft – schließlich hatte sie in der vergangenen Nacht in ihrem Wagen nur notdürftig ein paar Stunden geschlafen – wälzte Mabel sich unruhig im Bett. Sie hatte Higher Barton nun doch nicht gleich wieder verlassen, denn zu viel war in den letzten Stunden auf sie eingestürmt: Der liegengebliebene Wagen, die tote Frau in der Bibliothek, die abweisende Haltung des Inspektors, der Mabel wie eine verrückte Alte behandelt hatte, und auch die Beleidigungen des unfreundlichen alten Mannes mit der Schildkröte konnte sie nicht aus ihren Gedanken bannen. Dann schließlich Abigails Mitteilung, sie, Mabel, solle die Erbin von Higher Barton werden. Das alles zusammen war mehr, als Mabel verkraftete. Nach dieser ungeheuerlichen Eröffnung hatte Abigail gemeint, sie wolle noch ein wenig ruhen, und Mabel geraten, sich ebenfalls zwei, drei Stunden hinzulegen, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen.

Abigail … In Mabels Erinnerung entstand das Bild des großen, schlanken Mädchens mit goldblondem Haar, das sie seit deren Geburt kannte. Mabels Familie hatte im Londoner Stadtteil Holland Park gelebt, während Abigails Vater, Mabels Onkel mütterlicherseits, eine gut gehende Farm in Sussex führte. Die beiden Familien trafen sich regelmäßig. Mabel erinnerte sich noch gut daran, wie sie selbst vierzehn war und die zwei Jahre jüngere Abigail die Weihnachtsferien in ihrem Londoner Haus verbrachte. Die Schönheit ihrer Cousine war damals bereits im Aufblühen, und sie wirkte, obwohl jünger an Jahren, reifer als Mabel. Während Mabels Körper noch kindliche Züge trug, begann sich Abigails bereits an den richtigen Stellen zu runden. Die beiden Mädchen konnten Stunden auf dem Bett liegend verbringen, ins Betrachten von Hochglanzmagazinen vertieft. Abigail schwärmte für zahlreiche Hollywoodschönheiten – Stars wie Marilyn Monroe und Doris Day waren ihre Vorbilder, und sie wollte selbst Schauspielerin und Sängerin werden. Manchmal stolzierte sie wie eine Diva in Mabels Zimmer auf und ab, und Mabel klatschte begeistert Beifall, wenn ihre Cousine Szenen aus Filmen ihrer Idole nachspielte oder deren Monologe rezitierte. Als Abigail dann später mit Ach und Krach die Schule beendete, tat sie alles, ihren Eltern die Erlaubnis abzuringen, eine Schauspielschule besuchen zu dürfen, während Mabel eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Doch es kam alles anders, denn Abigail lernte bei einer Gesellschaft den texanischen Ölmillionär Bill kennen und vergessen waren ihre Pläne, Schauspielerin zu werden. Abigail war gerade achtzehn geworden, als sie nach nur drei Monaten Bekanntschaft heirateten. Bill war zwar zwanzig Jahre älter und bereits dreimal geschieden, das störte Abigail jedoch nicht. Die Hochzeit wurde in London im kleinen Kreis gefeiert, dann verließ Abigail an der Seite ihres Mannes England.

Die ersten Monate schrieben sich die Cousinen regelmäßig, dann jedoch blieben Abigails Briefe aus, und es kamen nur noch nichtssagende Karten zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Abigail war aus Mabels Umfeld verschwunden, aber Mabel war nicht sehr traurig darüber, denn inzwischen gab es jemanden, der den Mittelpunkt ihres Lebens bildete. Arthur Tremaine war der einzige Sohn einer alten adligen kornischen Familie, sein Vater, Lord Tremaine, hatte beruflich mit dem Bankhaus von Mabels Vater zu tun. Arthur besuchte die Militärakademie in Sandhurst vor den Toren Londons. Als die beiden jungen Leute einander vorgestellt wurden, verband sie sofort eine innige Freundschaft. Der zwei Jahre ältere Arthur sah nicht nur gut aus, er verfügte auch über vollendete Umgangsformen und war sich der Verantwortung bewusst, eines Tages den Titel und Familienbesitz zu erben. Den kommenden Sommer verbrachten Mabel und ihre Eltern auf Higher Barton in Cornwall. Für Mabel wurde die Zeit zu den schönsten vier Wochen ihres Lebens. Sie und Arthur hatten genügend Zeit, um sich besser kennenzulernen. Sie stellten fest, dass sie die gleiche Literatur bevorzugten, die gleiche Musik mochten, von ähnlichen Theaterstücken fasziniert waren und sich nichts aus Partys und durchfeierten Nächten machten. Beide liebten die Natur und machten lange Spaziergänge an der wildromantischen Küste Cornwalls. Es war, als wären sie eins, aber Mabel gab sich keinen Illusionen hin – Arthur würde noch drei Jahre die Akademie besuchen, bevor er daran denken konnte, eine eigene Familie zu gründen. Selbstverständlich verhielt sich Arthur wie ein Gentleman und tat und sagte nichts, das Mabel hätte kompromittieren können. Solange seine Ausbildung nicht abgeschlossen war, durfte er keine Hoffnungen in ihr wecken. Es folgte die Einladung, das Weihnachtsfest auf Higher Barton zu verbringen, und Mabels Eltern ließen keinen Zweifel daran, dass sie in Arthur Tremaine ihren künftigen Schwiegersohn sahen. Den Tremaines waren verstaubte Standesdünkel fremd, es schien keine Rolle zu spielen, dass Mabel bürgerlicher Herkunft war. Immerhin war ihr Vater der Direktor eines gut gehenden Bankhauses, und Mabel würde eine großzügige Mitgift in die Ehe einbringen.

An einem kalten und stürmischen Tag Ende November stand Abigail plötzlich vor der Tür. Bill, ihr Mann, war zwei Monate zuvor einem Schlaganfall erlegen, aber so freundlich gewesen, vorher noch ein Testament aufzusetzen, durch das Abigail sein gesamtes Vermögen erbte, das sich auf mehrere Millionen US-Dollar erstreckte. Ihre Trauer über Bills Tod hielt sich in Grenzen, und ihre grünen Augen strahlten vor Unternehmungslust. Sie war zu einem Besuch nach England gekommen und quartierte sich sofort bei Mabel ein.

„Was soll ich mit dem ganzen Geld mitten auf dem Land in Texas?“, sagte sie und lachte. „Ich will London mit allen Sinnen erleben! Es fühlen, riechen und schmecken, obwohl es in England natürlich viel spießiger zugeht als in Amerika.“

Mabel konnte ihr stundenlang zuhören, wenn sie von Texas erzählte und den unvorstellbaren Strecken, die man zurücklegen musste, um den nächsten Nachbarn zu besuchen. Die Städte Dallas und Houston hatte Abigail mindestens einmal im Monat besucht und zweimal im Jahr New York. Natürlich hatte Bill über ein eigenes Flugzeug verfügt. Abigail trauerte der vergangenen Zeit jedoch nicht nach, sondern stürzte sich ins Londoner Nachtleben, wo sie bald Mittelpunkt einer erlesenen Gesellschaft wurde. Manchmal begleitete Mabel sie, aber sie konnte den wilden Partys, auf denen der Champagner in Strömen floss, und den ausgelassenen Tänzen zu lauten Beats nichts abgewinnen. Abigail hingegen verstand nicht, warum Mabel Tag für Tag in das muffige Krankenhaus ging, anstatt das Leben zu genießen. Die Arbeit als Krankenschwester war für Mabel jedoch längst mehr als ein Beruf – es war wie eine Berufung, Menschen zu helfen und ihre Leiden zu lindern.

Es war selbstverständlich, dass Abigail Mabel und ihre Eltern über Weihnachten zu den Tremaines nach Cornwall begleitete. Zuerst hatte Mabel Bedenken gehabt, ob sich ihre lebenslustige Cousine mit den eher konservativen und ruhigen Tremaines verstehen würde. Abigail jedoch nahm Arthurs Eltern mit ihrem angeborenen Charme bereits am ersten Abend völlig für sich ein. Auch Arthur verstand sich gut mit ihr, obwohl Abigail das genaue Gegenteil von Mabel war. Mabel dachte daran, dass dies wohl das letzte Weihnachtsfest auf Higher Barton als Gast war, denn im kommenden Sommer würde Arthur Sandhurst verlassen und auf den Familiensitz zurückkehren. Dann stand ihrer gemeinsamen Zukunft nichts mehr im Wege.

Das neue Jahr begann für Mabel jedoch mit einer Enttäuschung. Arthur kam nur noch selten nach London, sicher hatte er so kurz vor seinem Abschluss der Akademie wenig Freizeit, auch seine Briefe wurden seltener. Abigail ging nach wie vor regelmäßig aus, sie bat Mabel aber nicht mehr um ihre Begleitung. Oft war sie ganze Sonntage unterwegs und Mabel saß, wenn sie keinen Dienst hatte, zu Hause, denn Arthur konnte es nicht möglich machen, sich mit ihr zu treffen. Mabel sagte sich, dass es ja nur noch wenige Monate wären, dann würde sie jeden Tag, und auch die Nächte, an Arthurs Seite verbringen.

Der Tag von Arthurs Entlassung aus der Akademie rückte näher, aber weder Mabel noch ihre Eltern hatten bisher eine Einladung zum Abschlussfest in Sandhurst erhalten. Dann, eine Woche vor dem Termin, besuchten Lord und Lady Tremaine Mabels Eltern. Sie kamen unangemeldet, was für sie unüblich war, und Mabel, die an diesem Nachmittag frei hatte und ihnen die Tür öffnete, erkannte sofort, dass etwas geschehen sein musste.

„Geht es Arthur gut?“, fragte sie hastig. „Es ist ihm doch nichts passiert?“

„Nein, nein, aber bitte lassen Sie uns mit Ihren Eltern allein, Miss Mabel“, sagte Lord Tremaine, und man sah ihm an, wie unangenehm ihm der Besuch war.

Angespannt saß Mabel auf ihrem Bett und wartete, dass man sie nach unten rufen würde. Tausend Gedanken schossen durch ihren Kopf. Vielleicht war Lord Tremaine gekommen, um in Arthurs Namen die Eltern um ihre Hand zu bitten? Sie lebten doch nicht mehr im Mittelalter – warum war Arthur nicht selbst gekommen und hatte zuerst sie gefragt? Natürlich wusste Arthur, dass sie ihn liebte und sich nichts sehnlicher wünschte, als seine Frau zu werden. Gesprochen hatten sie jedoch nie über ihre Gefühle, und Arthur hatte niemals etwas geäußert, das einem Heiratsantrag gleichkam. Schneller als erwartet, es war nur eine knappe halbe Stunde vergangen, kam das Hausmädchen und bat Mabel in den Salon hinunter. Als sie die Tür öffnete fand sie die Eltern allein vor, die Tremaines waren gegangen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Eine böse Vorahnung durchzog Mabel, als sie ihre Mutter mit feuchten Augen im Sessel sitzen sah und ihr Vater sie mit aschfahlem Gesicht bat, sich ebenfalls zu setzen. Er schenkte zwei Gläser Brandy ein, eines drückte er Mabel in die Hand, obwohl er wusste, dass sie sonst keine scharfen Getränke zu sich nahm.

„Nimm es, du wirst es brauchen.“

Er kam gleich zur Sache, ohne lange Einleitung und Beschönigungen. Lord Tremaine hatte mitgeteilt, dass Arthur Abigail gebeten hatte, seine Frau zu werden, und sie hatte zugestimmt. Die Hochzeit würde bereits in vier Wochen auf Higher Barton stattfinden.

Mabel saß wie erstarrt, die Finger um das unberührte Glas gekrümmt. In diesem Moment empfand sie nichts. Kein Gefühl von Enttäuschung, Trauer, Schmerz oder Verletztheit. Gar nichts war da in ihrem Körper, außer einer großen, schwarzen Leere. Ihre Mutter kam weinend auf sie zu, streckte die Hände aus und flüsterte: „Mein armes, armes Mädchen! Wir alle dachten doch, dass du und Arthur …“

„Sei still, Mutter“, unterbrach Mabel ungewohnt heftig. „Es gab nie ein Abkommen zwischen uns.“ Sie stand auf und wunderte sich, dass die Beine ihr gehorchten. „Ich muss jetzt zur Arbeit.“

„Aber Kind, so lass dich doch trösten.“

Mitleid konnte Mabel jetzt am wenigsten vertragen, darum ging sie wenige Minuten später in die Klinik. Das Kind einer Kollegin, die zum Nachtdienst eingeteilt war, war erkrankt, und Mabel übernahm ihren Dienst, obwohl es ihr freier Nachmittag war. Die Kollegin war überglücklich, gehen zu können, und für Mabel war alles besser, als zu Hause herumzusitzen, zu grübeln und die mitleidigen Blicke ihrer Familie ertragen zu müssen.

Obwohl sie eine Einladung erhalten hatte, fuhr sie nicht zur Hochzeit nach Higher Barton. Zwei Wochen später zog Mabel unter dem Protest ihrer Eltern ins Schwesternwohnheim. Sie konnte den enttäuschten Blick ihrer Mutter und deren ständige Fürsorge nicht mehr ertragen. Jetzt wusste sie, warum Arthur so wenig Zeit für sie gehabt hatte und warum Abigail immer wieder allein ausgegangen war. Nicht nur der Schmerz über ihre verlorene Liebe machte Mabel so bitter, auch die Enttäuschung, von den zwei Menschen, die sie geliebt hatte, schändlich hintergangen und enttäuscht worden zu sein, nagten an ihr. Und dann hatten weder Arthur noch Abigail den Mut besessen, es ihr selbst zu sagen. Nein, der Feigling hatte seinen Vater geschickt. Aus diesem Grund verbrannte Mabel alle Briefe Abigails ungeöffnet, von Arthur kam ohnehin keine Nachricht. Warum auch? Sie hatten sich nichts mehr zu sagen.

Das Leben ging weiter. Ein Jahr später nahm Mabel sich eine kleine Wohnung und wurde zur Stationsschwester befördert. Irgendwann gab es auch wieder Männer in Mabels Leben. Sie ging mit ihnen aus, fand den einen oder anderen auch recht sympathisch, keiner berührte jedoch ihr Herz. Dreimal erhielt Mabel einen ernstzunehmenden Heiratsantrag, einen sogar von einem Arzt, der an derselben Klinik tätig war, aber sie wollte nicht heiraten, nur um verheiratet zu sein. Ein Kind wäre zwar schön gewesen, und bis Mabel vierzig war, hegte sie die geheime Hoffnung, sich noch einmal richtig verlieben zu können. Dann gab sie die Hoffnung auf und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Längst war Arthurs Bild in ihrem Kopf verblasst, und Mabel erkannte, dass er ihr damals nicht das Herz gebrochen hatte. Wahrscheinlich war Mabel mehr in das Verliebtsein als in Arthur selbst verliebt gewesen. Trotzdem konnte und wollte sie nicht den ersten Schritt einer Annäherung machen. Ein Jahrzehnt nach dem anderen verrann, schließlich war es zu spät, um den alten Kontakt wieder aufzunehmen. Dann war Arthur gestorben, und eben hatte sie sich mit Abigail unterhalten, als wären sie sich nicht vor vier Jahrzehnten, sondern erst vor einem Monat das letzte Mal begegnet …

Mabel wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, als könne sie damit die Vergangenheit verscheuchen. Sie schmerzte schon lange nicht mehr, erfüllte sie aber mit Wehmut. Die Erinnerungen hatten Mabel für einige Zeit von den Gedanken an die Tote abgelenkt. Ihr Blick fiel auf den Stofffetzen, den sie auf die Frisierkommode gelegt hatte. Hatten ihr die Nerven wirklich einen Streich gespielt und das Stück Stoff stammte von etwas völlig anderem? Sie war tatsächlich nicht mehr die Jüngste. Vielleicht hatten die Aufregung, nach so langer Zeit wieder auf Higher Barton zu sein, und die im Auto verbrachte Nacht tatsächlich Spuren hinterlassen, und sie war einer Sinnestäuschung erlegen?

„Ich sollte so schnell wie möglich nach Hause fahren“, murmelte Mabel, was jedoch durch Abigails Eröffnung vorerst zunichte gemacht war. Mabel lehnte es zwar vehement ab, als Erbin von Higher Barton benannt zu werden, allerdings gebot es der Anstand, noch eine Weile in Cornwall zu bleiben. Zumindest bis Ende der Woche.

Das Klopfen von Emma Penrose unterbrach Mabels Überlegungen.

„Miss Clarence, es ist gleich sieben Uhr. Mylady bat mich, Sie zu wecken. Kann ich Ihnen beim Ankleiden für das Dinner behilflich sein?“

Mabel schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das ist sehr freundlich, aber nicht nötig, Mrs Penrose. Ist mein Wagen inzwischen eingetroffen?“

„Natürlich, ich werde Ihr Gepäck gleich heraufbringen“, antwortete Mrs Penrose. „Justin hat das Auto in die Garage gefahren, den Schlüssel bewahre ich in der Küche auf. Wenn Sie den Wagen brauchen, sagen Sie es mir bitte. Wenn Sie jedoch in den Ort möchten oder sonst wohin, brauchen Sie nicht selbst zu fahren. Mylady meinte, Justin, der Chauffeur, stünde Ihnen jederzeit zur Verfügung.“

Die Haushälterin war so freundlich, als hätte es den Vorfall am Morgen nicht gegeben. Offenbar war sie von Abigail angewiesen worden, ihrer Cousine den ihr zustehenden Respekt zu zollen.

„Mrs Penrose, wären Sie so nett, mir eine Frage zu beantworten?“

„Wenn ich kann, gerne.“ Emma Penrose blieb abwartend stehen.

„Unter den gestrigen Gästen … war da eine junge Frau? Mittelgroß, blond und sehr hübsch?“

Emma Penroses Blick verdunkelte sich, sie wusste sofort, dass Mabel von der vermeintlichen Toten sprach.

„Nein, Miss Clarence, es waren nur ältere Gäste geladen.“ Sie wandte sich um und fragte in einem deutlich unterkühlten Ton: „Ist sonst noch etwas?“

Mabel verneinte dankend. Sie hätte sich denken können, dass die Haushälterin nicht bereit war, mit ihr über den Mord zu sprechen. Mabel ging ins Bad, nahm eine heiße Dusche und kleidete sich an. Gemeinsam mit Abigail würde sie zu Abend essen und dabei das Thema des Erbes erneut ansprechen. Ihre Cousine war verrückt! Sie, Mabel, hatte ihr Leben in London, was sollte sie hier in Cornwall tun? Außerdem war Abigail gesund und agil und würde noch lange leben. Nein, nein, sie würde ihr die Sache ganz schnell ausreden und Abigail sollte ihr Testament am besten zu Gunsten des National Trust ändern.

Als sie kurz vor acht Uhr das Esszimmer betrat, wurde sie von Abigail bereits erwartet. Überrascht sah Mabels, dass der ovale Tisch für drei Personen gedeckt war. Abigail bemerkte ihren Blick und sagte: „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich Doktor Daniels gebeten habe, zum Essen zu bleiben.“

„Einen Arzt? Fühlst du dich nicht gut, Abigail?“

Abigail winkte schnell ab und lachte laut.

„Du meine Güte, nein! Der Doktor kommt nicht meinetwegen. Victor Daniels ist der Tierarzt von Lower Barton. Er ist vorhin vorbeigekommen, um nach meiner Stute zu sehen. Sie scheint eine Hufentzündung zu haben. Ich hänge sehr an dem Tier, wenn ich auch seit Jahren nicht mehr selbst reite. Zwei-, dreimal die Woche kommt eine Schülerin her, damit die gute Buttercup in Bewegung bleibt.“ Abigail sah Mabel beinahe entschuldigend an. „Victor Daniels und Arthur waren eng befreundet, obwohl der Tierarzt manchmal etwas … sonderlich ist. Die beiden spielten regelmäßig Schach miteinander. Ich selbst kann mit Daniels nicht viel anfangen, zu Arthurs Lebzeiten war es jedoch üblich, dass der Doktor immer zum Essen eingeladen wurde, wenn er auf Higher Barton zu tun hatte. Das habe ich aufrechterhalten. Nun, wir werden den Abend überstehen.“

Abigail wandte sich der Anrichte zu und schenkte zwei Gläser mit goldgelbem Sherry ein, als die Tür geöffnet wurde und ein älterer Herr eintrat.

„Ah, Doktor Daniels, wie geht es Buttercup?“, rief Abigail freundlich. „Aber das können Sie mir später berichten, zuerst möchte ich Ihnen meine Cousine Mabel Clarence aus London vorstellen.“ Und zu Mabel gewandt fuhr sie fort: „Mabel, das ist Victor Daniels, Tierarzt und ein alter Freund der Familie.“

Der Arzt trat vor Mabel und sie ergriff seine ausgestreckte Hand, dabei murmelten beide gleichzeitig: „Wir kennen uns bereits.“

Peinlich berührt zog Mabel ihre Hand zurück und griff dankbar zu dem Sherryglas, das Abigail ihr anbot.

„Ihr seid euch schon begegnet? Mein Güte, Mabel, du bist noch keine vierundzwanzig Stunden in Cornwall.“

„Ja, wir hatten bereits mehrmals das Vergnügen“, brummte Daniels mit unbewegtem Gesicht. „Heute Vormittag traf ich Ihre Cousine im Ort, sie war auf dem Weg zu einem Optiker.“

„Und Sie, Doktor, führten eine Schildkröte spazieren“, entfuhr es Mabel schlagfertig. „Ich hoffe, Joey geht es gut?“

Abigail sah verwundert von einem zum anderen, aber das Eintreten Emma Penroses, die den ersten Gang servierte, hinderte sie daran, Fragen zu stellen.

Während des Essens begann Mabel zu verstehen, warum Abigail nicht sonderlich erfreut über die Anwesenheit des Tierarztes war. Nachdem er in zwei knappen Sätzen erklärt hatte, die Stute müsse täglich Umschläge bekommen, dann sei sie in einer Woche wieder gesund, aß er schweigend und hob nie den Blick von seinem Teller. Abigail bemühte sich mit Mabel um eine höfliche Konversation, frage sie nach London und wie es ihr in Cornwall gefiele. Dabei versuchte sie, Daniels in das Gespräch mit einzubeziehen, aber außer einem kargen „Ja“ oder „Nein“ gab er keine Antwort. Kaum hatte er das Dessert, frische Erdbeeren mit Zucker und Clotted Cream, aufgegessen, stand er abrupt auf.

„Muss noch nach einer Kuh sehen. Danke für das Essen, Lady Abigail. Miss Clarence …“ Er tippte sich kurz an die nicht vorhandene Hutkrempe und verließ dann mit weit ausholenden Schritten den Raum.

Abigail warf die Serviette auf den Tisch.

„Kein Wunder, dass dem Mann alle Haushälterinnen davonlaufen, so wenig gesprächig wie er ist.“

„Dann ist er nicht verheiratet?“, mutmaßte Mabel.

„Der und eine Frau?“ Abigail lachte spöttisch. „Davon habe ich nie etwas mitbekommen, und er wohnt schließlich schon sein ganzes Leben in der Gegend. Immer wieder beschäftigt er eine Frau, die ihm das Essen kocht, wäscht und putzt, aber keine hält es lange aus. Erst vergangene Woche hat die Letzte wieder gekündigt, sie war kaum zwei Monate bei ihm.“

„Jetzt verstehe ich, warum er so viel gegessen hat“, sagte Mabel und schmunzelte. „Es war wahrscheinlich die erste warme Mahlzeit in dieser Woche.“

Abigail sah sie forschend an.

„Was wolltest du eigentlich beim Optiker? Und was sollte die Bemerkung mit der Schildkröte?“

Blitzschnell beschloss Mabel, der Cousine nicht die Wahrheit zu sagen, denn dann hätte sie ihr von ihrem Besuch bei dem Chefinspektor berichten müssen, und Abigail hatte ihr bereits deutlich klargemacht, was sie von Mabels Behauptung, eine Leiche gesehen zu haben, hielt.

„An meiner Lesebrille hatte sich die Schraube eines Bügels gelockert, darum bin ich nach Lower Barton gegangen. Der Doktor und ich haben uns ganz zufällig getroffen, er trug eine Schildkröte mit sich, die er gesund gepflegt hatte. Keine Ahnung, wohin er mit der wollte.“ Sie stand auf und gähnte verstohlen. „Bist du mir böse, wenn ich mich zurückziehe? Irgendwie spüre ich doch die letzte Nacht in den Knochen. Man ist halt nicht mehr die Jüngste.“

Abigail lächelte verständnisvoll und schenkte sich ein Glas Wein ein.

„Ich bitte Mrs Penrose, dich morgen nicht zu wecken. Schlaf dich ruhig aus, damit du wieder zu Kräften kommst. Ich möchte dir so bald wie möglich den Besitz zeigen, damit du weißt, was eines Tages dir gehören wird.“

Mabel lag eine Bemerkung auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. Heute Abend war sie zu müde für weitere Diskussionen.