21

„Mylady …“ Mit wachsbleichem Gesicht stürmte Emma Penrose ohne anzuklopfen in Abigails Salon.

„Mrs Penrose, ich muss doch sehr bitten“, wollte Abigail die Haushälterin über ihr ungebührliches Verhalten zurechtweisen, erschrak jedoch bei deren Anblick. „Ist etwas passiert?“

„Ihre Cousine, Mylady … Miss Clarence … Eben rief die Polizei an … sie hatte einen Unfall …“

„Einen Unfall!“ Abigail packte Emma Penrose am Arm. „Wo? Wie? Ist sie …?“ Sie wagte nicht, den Satz zu Ende zu führen.

Mrs Penrose schüttelte hastig den Kopf. „Sie lebt, man hat sie ins Hospital nach Liskeard gebracht. Sie ist mit ihrem Auto verunglückt.“

Abigail griff nach ihrem Mantel und Hut. Im Hinausstürmen rief sie Mrs Penrose zu: „Rufen Sie sofort Justin, er soll unverzüglich den Wagen vorfahren.“

Zehn Minuten später saß Abigail im Fond des Rolls Royce. Ihre Hände zitterten und ihr Puls schlug ungewöhnlich schnell. In knappen Worten informierte sie Justin über Mabels Unfall, und der Chauffeur sagte über die Schulter hinweg: „Reg dich nicht auf, mein Liebes, es ist sicher halb so schlimm.“

Abigail war über seine tröstenden Worte dankbar, doch noch etwas anderes lastete ihr auf der Seele: „Du warst heute Nachmittag nicht bei mir.“

Justin Parker hielt seinen Blick starr auf die Straße gerichtet, obwohl diese lang und gerade war und kaum Verkehr herrschte.

„Ich war beschäftigt“, antwortete er ausweichend.

Abigail lehnte sich so weit vor, dass sie mit einer Hand seine Schultern berühren konnte.

„Ich habe dich vermisst“, sagte sie leise. „Die Stunden, in denen wir nicht zusammen sein können, sind verlorene Stunden für mich.“

Sie meinte, einen leisen Seufzer zu hören, Justin Stimme klang jedoch wie immer liebevoll, als er antwortete: „Mein Liebes, du weißt, ich stehe dir jederzeit zur Verfügung. Für alle Dienste, die du benötigst, doch manchmal muss ich mich auch um andere Dinge kümmern.“

Abigail lag die Frage auf der Zunge, wie Justin den Nachmittag verbracht hatte, sie beherrschte sich jedoch, da sie ohnehin keine befriedigende Antwort erhalten würde. Justin Parker war ein Mann, der seine Freiheit liebte. In den fünf Monaten ihrer Beziehung hatte sie häufig festgestellt, dass sich Justin zu nichts drängen oder gar zwingen ließ. Sie wusste kaum etwas über seine Vergangenheit, nur, dass seine Eltern tot waren und er keine Verwandten hatte. Bevor er im letzten Herbst nach Higher Barton gekommen war, hatte sich Justin mit Gelegenheitsjob über Wasser gehalten. Qualifikationen über eine vergleichbare Tätigkeit konnte Justin nicht vorweisen, trotzdem hatte Abigail ihn eingestellt. Nun, es waren wohl seine blauen Augen gewesen, die sie über fehlende Zeugnisse hinwegsehen ließen. Außerdem war Emma Penrose von Justin ebenso hingerissen gewesen und hatte Abigail zugeraten, den jungen Mann einzustellen. Rückblickend erschien es Abigail, als hätte sie bereits an dem Tag, als Justin sich um die Stelle auf Higher Barton bewarb, gewusst, sie würden früher oder später zusammen im Bett landen. Ab der ersten Sekunde an hatte eine seltsame und zugleich prickelnde Spannung zwischen ihnen geherrscht, und Abigail verdrängte mit aller Gewalt den Gedanken, Justin könne sie eines Tages verlassen. Sie lebte heute und jetzt – was morgen sein würde, daran wollte sie nicht denken. Abigail würde Mabel gegenüber niemals ihre geheimen Ängste eingestehen, sie wusste, wie ihre Cousine zu dem Verhältnis mit Justin stand. Vor ein paar Wochen hatte Abigail begonnen, ihre Gedanken in Worte zu fassen und diese zu Papier zu bringen. Es war eine Art Tagebuch, das sie führte, und das Schreiben half ihr, ihre Beziehung zu Justin realistisch zu sehen. Einmal hatte Mabel sie beim Schreiben überrascht, aber Abigail hoffte, ihre Cousine nahm an, sie hätte nur einen Brief verfasst. Mabel gegenüber einzugestehen, dass ihre Beziehung zu Justin nicht so unbeschwert war, wie sie es ihr glauben machte, war Abigail viel zu peinlich, als dass sie ein Wort darüber verloren hätte.

Ihr Kopf brummte, als würden Straßenarbeiter mit Presslufthammern jede einzelne Zelle ihres Gehirns auseinandernehmen, und ihr Mund war völlig ausgetrocknet.

„Durst“, flüsterte Mabel und versuchte, die Augen zu öffnen, aber erst nach mehrmaligem Blinzeln konnte sie verschwommene Konturen erkennen. Eine weißgekleidete Gestalt mit einem Becher in der Hand beugte sich über sie.

„Schön, dass Sie wieder da sind.“ Die Stimme der Dame war angenehm leise, denn jedes laute Geräusch verursachte Mabel Kopfschmerzen. „Ich helfe Ihnen, damit Sie trinken können.“

Sie stützte Mabels Oberkörper, damit sie den Becher mit lauwarmem Pfefferminztee leeren konnte. Nach und nach nahmen die verschwommenen Konturen vor Mabels Augen Gestalt an, und sie erkannte, dass sie in einem Krankenzimmer lag.

„Was ist passiert?“, flüsterte sie.

„Sie hatten einen Autounfall, Miss Clarence, und sind im Hospital im Liskeard.“

Langsam hob Mabel eine Hand und tastete nach ihrem Kopf. Sie konnte keinen Verband fühlen, allerdings klebte auf ihrer rechten Schläfe eine Mullkompresse. Als sie versuchte, ihre Glieder zu bewegen, stöhnte sie vor Schmerzen.

„Bleiben Sie ruhig liegen, Miss“, sagte die Schwester sanft. „Sie haben großes Glück gehabt, es ist nichts gebrochen und Sie haben keine inneren Verletzungen. Nur eine Platzwunde an der Stirn, die genäht werden musste, und ein paar Prellungen.“ Die junge Schwester lächelte. „In ein paar Tagen wird Ihr Körper in allen Farbschattierungen leuchten. Nun ja, ich denke nicht, Sie wollen demnächst im Bikini über einen Laufsteg spazieren, oder?“

Mühsam erwiderte Mabel ihr Lächeln. Das Verhalten der Krankenschwestern hatte sich in den letzten Jahren erheblich geändert. Mabel hätte sich eine solch flapsige Bemerkung gegenüber einer älteren Patientin niemals erlaubt.

Es klopfte, und ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte Abigail in den Raum.

„Mabel! Oh, mein Gott, wie geht es dir? Der Arzt sagt, du hättest eine ganze Armee von Schutzengeln gehabt …“

„Nicht so laut, bitte.“ Mahnend sah die Schwester Abigail an. „Die Patientin braucht Ruhe, wir können eine Gehirnerschütterung nicht ausschließen.“

Abigail warf der jungen Frau einen hochmütigen Blick zu. In ihrer Stimme lag die ganze Arroganz des Adels, als sie sagte: „Lassen Sie mich mit meiner Cousine allein. Ich werde klingeln, wenn wir etwas benötigen.“

Die Schwester nahm ihr Tablett und verließ wortlos das Zimmer. Natürlich wusste sie, wer Abigail Tremaine war, und auch, dass es besser war, sich mit dieser Frau nicht anzulegen.

Abigail zog einen Stuhl heran, setzte sich und nahm vorsichtig Mabels Hand, in deren Rücken eine Verweilkanüle steckte, durch die die Flüssigkeit einer Infusion rann.

„Ich sagte dir immer wieder, du mögest Justin bitten, dich zu fahren, wenn du irgendwohin willst. Mit deinem alten Auto musste früher oder später ja mal was passieren.“

„Bevor ich nach Cornwall kam, habe ich den Corsa in der Werkstatt durchsehen lassen“, warf Mabel ein und hielt ihren schmerzenden Kopf. „Das ist keine vier Wochen her, und ich bin sicher, wenn mit den Bremsen etwas nicht in Ordnung gewesen wäre, hätte man es bemerkt.“

„Bremsen?“ Alles Blut wich aus Abigails Wangen. „Du meinst, die Bremsen haben versagt?“

Mabel nickte, und plötzlich erinnerte sie sich wieder an alles. Das Treffen mit Alan Trengove, seine Bestätigung, dass Sarah Miller Arthurs uneheliche Tochter und Erbin war, und ihre eigene, nervöse Anspannung, da sich die Fäden um Abigail herum immer enger zogen. Sie hatte zu Victor fahren und ihm davon erzählen wollen. Vor Mabels Augen stand nun deutlich die abschüssige, kurvige Straße, sie wurde immer schneller, wollte bremsen, doch ihr Fuß trat ins Leere. Dann war da der Traktor, ihr Auto überschlug sich und schließlich die Schwärze, die sich über und unter ihr breitmachte.

Während ihrer nächsten Worte ließ sie Abigail nicht aus den Augen. „Ich glaube nicht, dass es ein Zufall war.“

„Das ist Unsinn!“ Aufgeregt sprang Abigail auf und lief im Zimmer auf und ab. „Du leidest wirklich unter Verfolgungswahn, liebe Cousine. Gut, dass du jetzt im Krankenhaus bist, die Ärzte werden dir bestimmt helfen können. In jeder Beziehung …“

Obwohl Abigail den Satz nicht beendete, verstand Mabel, was sie meinte, darum sagte sie kühl: „Wieso bin ich eigentlich in einem Einzelzimmer? Ich habe keine Zusatzversicherung.“

„Du bist auf der Privatstation“, unterbrach Abigail. „Offenbar wusste man bei deiner Einlieferung von der verwandtschaftlichen Beziehung zu mir, schließlich bin ich in der Gegend keine Unbekannte, und man ging davon aus, ich würde für die Kosten aufkommen.“

Mabel setzte sich auf. Sofort wurde ihr schwindlig, und durch ihren Kopf schossen Wellen des Schmerzes, als sie rief: „Das möchte ich auf keinen Fall!“

Abigail winkte ab. „Es ist selbstverständlich, dass ich die Rechnung bezahle. Ich werde Mrs Penrose anweisen, ein paar Sachen zusammenzupacken. Du brauchst Nachthemden und Kosmetikartikel, sie kann es dir morgen vorbeibringen.“

„Das ist nicht nötig.“ Entschlossen sah Mabel Abigail an. „Ich werde heute wieder gehen, eine stationäre Behandlung ist überflüssig.“

„Sollte das nicht der Arzt entscheiden?“ Abigail kehrte unwillig zu ihrem Stuhl zurück. „Du hast die Schwester gehört – wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung. Dir als Krankenschwester muss ich nun wirklich nicht sagen, dass …“

„Du hast recht“, erneut unterbrach Mabel ihre Cousine, „eben weil ich von dem Metier eine Ahnung habe, bestimme ich selbst, wie lange ich hier bleibe.“

„Mabel, das ist mehr als unvernünftig“, mahnte Abigail, doch Mabel wollte nichts davon hören.

„Heute beginnt die Festwoche in Lower Barton“, sagte sie. „Die möchte ich nicht versäumen, außerdem wartet Eric Cardell auf die Kostüme.“

Abigail seufzte und erhob sich.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du furchtbar stur bist, Mabel Clarence?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Mach, was du für richtig hältst, selbstverständlich wirst du auf Higher Barton jede Pflege erhalten, die du benötigst.“

Mabel hob zum Abschied ihre freie Hand und wartete, bis Abigail die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann schob sie das Rädchen an der Infusionsflasche nach oben, damit der Zufluss der Elektrolytlösung gestoppt wurde, entfernte das Pflaster auf ihrem Handrücken und zog mit einem Ruck die Nadel heraus. Mit zwei Fingern drückte sie auf den Einstich und hielt die Hand hoch, bis die Blutung aufhörte, dann klingelte sie nach der Schwester. Die junge Frau erschien binnen einer Minute – ein Vorteil, wenn man Privatpatientin war.

„Was machen Sie da?“, rief die Schwester, als sie sah, dass sich Mabel die Infusion entfernt hatte.

„Wo sind meine Sachen?“, fragte Mabel. „Sind meine Handtasche und die Geldbörse da?“

Die Schwester nickte verdutzt und deutete auf den Schrank.

„Ihre Kleidung ist allerdings etwas in Mitleidenschaft gezogen.“

Mabel winkte ab. „Das macht nicht. Bitte, helfen Sie mir, mich anzuziehen.“

Abwehrend hob die Schwester die Hände. „Sie können nicht einfach gehen, Miss Clarence. Das kann ich nicht zulassen, der Arzt …“

„Dann rufen Sie unverzüglich den Arzt, ich möchte ihn sprechen.“ Mabel war sonst eher eine ruhige, ausgeglichene Person und ein weiteres Mal über sich selbst erstaunt, wie bestimmend sie klingen konnte. „Er soll den Wisch, auf dem ich unterschreibe, dass ich auf eigene Verantwortung gehe, gleich mitbringen. Aber beeilen Sie sich, ich habe es eilig.“

Die Krankenschwester zögerte, deutlich war ihr anzumerken, dass sie etwas sagen wollte, dann zuckte sie mit den Schultern und verließ das Zimmer.

Eine Stunde später stand Mabel auf der Straße. Natürlich hatte der behandelnde Arzt sie zuerst nicht gehen lassen wollen, Mabel hatte sich schlussendlich aber durchgesetzt. Die Schwester hatte recht gehabt – ihre Hose und der Baumwollpullover, den sie bei dem Unfall getragen hatte, waren verschmutzt und mit dem Blut aus ihrer Platzwunde am Kopf befleckt, der Mantel am Ärmel eingerissen. Darauf konnte Mabel jedoch keine Rücksicht nehmen, als sie in das Taxi stieg, das sie von einer Telefonzelle aus gerufen hatte, denn ihr Handy, ohnehin mit leerem Akku, war bei dem Unfall zerstört worden. Den erstaunten Blick des Taxifahrers ignorierend gab sie Victor Daniels Adresse an und lehnte sich dann mit geschlossenen Augen in den Polstern zurück. Mabel war sich sicher, niemand hatte ihr Gespräch mit Alan Trengove belauscht, ja, sie glaubte sogar, niemand habe überhaupt gesehen, wie sie sich mit dem Anwalt traf, dennoch musste jemand an ihren Bremsen herum gepfuscht haben. Ein Schauer lief Mabel über den Rücken, obwohl es im Taxi sehr warm war. Sie war überzeugt, der Unfall war bewusst herbeigeführt worden, jemand hatte gezielt ihren Wagen manipuliert, damit sie verunglückte, vielleicht sogar starb. Man wollte sie verstummen lassen. Es war ähnlich wie bei Michael Hampton und ganz sicher kein Zufall. Der einzige Mensch, mit dem Mabel jetzt sprechen wollte, war Victor Daniels. Sie hatte keine andere Wahl, als dem Tierarzt zu vertrauen, denn sie war am Ende ihrer Kräfte und wusste nicht, was sie noch tun konnte, um Sarah Millers Mörder zu überführen, ohne ihr eigenes Leben weiter zu gefährden.

Es dunkelte bereits, als sie Lower Barton erreichte. In den letzten Tagen war der Ort anlässlich der Festwoche aufwendig geschmückt worden – farbenfrohe Girlanden spannten sich von Haus zu Haus über die Straßen, bunte Lichter blinkten an allen Ecken, und eine Gruppe Jugendlicher, die offenbar das Fest auf ihre Weise feierte, zog laut grölend und mit Bierflaschen in den Händen über die Hauptstraße. Auf dem Dorfanger befand sich ein kleiner Vergnügungspark mit Karussells, Schießbuden und Verkaufsständen. Die Fahrgeschäfte blinkten ebenfalls mit ihren bunten Lichtern, und laute Popmusik drang selbst durch die geschlossenen Scheiben des Wagens.

„Ist schwer was los hier“, bemerkte der Taxifahrer und deutete auf den Rummelplatz. „Dorffest, oder?“

„Ja, so etwas Ähnliches“, antwortete Mabel und war froh, als sie zwei Minuten später Victors Haus erreichten. In der Praxis brannte kein Licht, im oberen Stockwerk waren die Fenster jedoch hell erleuchtet. Mabel bezahlte den Fahrpreis, der ebenso hoch war wie ihr früherer Wochenlohn, stieg aus und ging auf das Haus zu. Victors Jeep stand in der Einfahrt. Auf ihr Klingeln rührte sich nichts im Haus, und sie drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen.

„Victor?“, rief sie in dem schmalen Flur. „Ich bin es … Mabel. Wo sind Sie?“

Niemand antwortete, und langsam stieg sie die Treppe zu den Wohnräumen hinauf. Mabel war kein ängstlicher Mensch, doch jetzt versuchte sie, so leise wie möglich zu sein. Irgendwo da draußen lief ein irrer Mörder herum, der nicht nur Sarah Miller getötet, sondern auch Anschläge auf Michael Hampton und auf sie selbst unternommen hatte. Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich ein lautes Poltern hörte. Es kam vom Dachboden, folglich war jemand dort oben. Vorsichtig tastete sich Mabel die Treppe hinauf. Es polterte erneut, dann krachte etwas zu Boden und sie vernahm das Geräusch von splitterndem Glas.

„Verdammter Mist!“

Erleichtert atmete Mabel aus, denn die Stimme gehörte eindeutig Victor, der den Dachboden umzuräumen schien.

„Victor“, rief Mabel laut. „Ich bin es, Mabel.“

Als sie die letzte Treppenstufe erreicht hatte, tauchte Victor hinter einem Stapel Kisten auf. Spinnweben hingen in seinen Haaren, und sein Hemd war staubbedeckt.

„Ach, Mabel, hab’ Sie nicht erwartet.“ Sein Blick fiel auf Mabels Verband und seine Augen weiteten sich erschrocken. „Was ist passiert?“

„Das erzähle ich Ihnen gleich“, antwortete Mabel und sah sich um. „Was, in aller Welt, machen Sie hier?“

„Wollt’ sehen, ob in dem Gerümpel was Brauchbares für den Basar ist.“ Mit einer Hand wischte er sich über die Stirn und hinterließ dabei einen dunklen Schmutzstreifen. „Hier muss mal gründlich aufgeräumt werden, war seit Jahren nicht mehr hier oben.“

Der enge und niedrige Raum des Dachbodens war übersät mit Kartons, ramponierten und alten Möbel, Bergen von gebündelten Zeitschriften, dazwischen lagen alte Kleidungsstücke. Mabel erkannte, was eben geklirrt hatte – direkt zu Victors Füßen lagen Tausende von Glasscherben verstreut herum.

„Dafür kann ich nichts“, betonte er. „Der Spiegel stand hinter einem Karton. Als ich den vorzog, ist er umgekippt.“

„Ich denke, Sie können es verkraften“, antwortete Mabel mit einem Lächeln. „Oder hätten Sie den Spiegel noch gebraucht?“

„Nee, wusste gar nicht, dass der da ist. Muss noch von meinem Vater stammen.“

Langsam stieg Mabel über die Sachen. Es herrschte in der Tat ein heilloses Durcheinander von allen möglichen Dingen, sie bezweifelte jedoch, dass irgendetwas Brauchbares darunter war. In der rechten hinteren Ecke, halb verborgen hinter einem deckenhohen, eintürigen Schrank, dessen Kanten abgestoßen und das Schloss herausgebrochen war, erregte ein dunkler Anzug Mabels Aufmerksamkeit. Mabels Augen weiteten sich, als sie einen Taucheranzug erkannte, und sie fragte: „Wem gehört der Taucheranzug?“

Victor grinste. „Mir, hab’ früher mal getaucht, ist aber schon Jahre her. Ab einem bestimmten Alter sollte man nicht mehr unter Wasser gehen.“

„Sie können tauchen?“ Mabel konnte ihr Glück kaum fassen, schnell sah sie sich auf dem Dachboden um. „Haben Sie auch noch funktionierende Sauerstofflaschen?“

„Ich verstehe nicht …“

Mabel nahm Victors Arm.

„Ich schlage vor, ich mache uns jetzt eine Kanne Tee, und ich erzähle Ihnen alles, dann werden Sie verstehen.“ Eindringlich sah sie ihn an. „Victor, ich glaube, wir stehen kurz vor der Aufklärung des Mordes an Sarah Miller.“

Eine Stunde, zwei Kannen Tee und mehrere Gläser besten Single Malts später saß Victor Daniels wie erschlagen in einem Sessel, schüttelte fassungslos den Kopf und murmelte immer wieder: „Ich glaube es nicht … ich kann es einfach nicht glauben … man wollte Sie töten …“

Vorbehaltlos hatte Mabel ihm alles erzählt – von ihrem Treffen mit Alan Trengove, ihrer Vermutung, die Tote läge im See von Higher Barton, von Justin Parker, der ihre Cousine auf ihrem eigenen Besitz schamlos betrog, von Arthur Tremaines Feigheit und von dem furchtbaren Moment, als die Bremsen an ihrem Wagen versagten.

„Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?“, fragte Victor, nachdem er sich einen weiteren Whisky eingeschenkt hatte.

„Pah, Polizei!“ Mabel winkte verächtlich ab. „Dieser Warden wird mir wieder kein Wort glauben.“ Sie lehnte sich vor und sagte eindringlich: „Erst, wenn wir die Leiche gefunden haben, wird die Polizei etwas unternehmen.“

„Damit haben Sie wahrscheinlich recht.“ Victor kratzte sich am Kinn, an dem graue Bartstoppeln sprießten. „Sie dürfen nicht nach Higher Barton zurückkehren. Die Gefahr, der Täter könnte einen zweiten Anschlag auf Sie verüben, nachdem der erste fehlgeschlagen ist, ist zu groß. Auf keinen Fall sollten Sie sich in der Nähe Ihrer Cousine aufhalten …“

Mabel war Victor dankbar, dass er ihren Verdacht bezüglich Abigail ernst nahm, denn die Fakten sprachen eine immer deutlichere Sprache. Wahrscheinlich hatte Abigail von Justin Parkers Untreue erfahren und vielleicht die Schlussfolgerung gezogen, dass er nur wegen des Geldes ein Verhältnis mit ihr unterhielt. In den letzten Wochen hatte Mabel ihre Cousine wieder gut genug kennengelernt, um zu spüren, dass sie ihren jungen Geliebten unter allen Umständen halten wollte. Wenn sie es nicht mit ihrem Körper, Geist und Herzen schaffte, dann würde sie eben für die glücklichen Stunden in seinen Armen bezahlen. Man las und hörte häufig von Frauen, die nicht in Würde alterten und hofften, mit einem jungen Mann an der Seite noch einmal jung zu sein. Sie empfand Mitleid mit ihrer Cousine, wenngleich deren Leidenschaft sie womöglich zur Verbrecherin hatte werden lassen. Abigail hatte unter allen Umständen verhindern müssen, dass eine junge und hübsche Frau in Higher Barton einzog. Warum hätte Justin sich weiter mir ihr, Abigail, abgeben sollen, wenn Sarah ebenso reich, zugleich aber attraktiv und sexy war? Nach einer Teilung des Vermögens wäre für Abigail wahrscheinlich noch genügend übriggeblieben, das Risiko, Justin an Sarah zu verlieren, wog da ungleich größer. Mabel wusste über die Vermögensverhältnisse von Higher Bartons zwar nicht genau Bescheid, nichts wies aber darauf hin, dass sich der Besitz in finanziellen Schwierigkeiten befinden könnte. Doch konnte es ein Zufall sein, dass Abigail sie, Mabel, gerade jetzt zur Erbin benannte? So sehr sie es auch drehte und wendete – Abigail hatte ein Motiv, Sarah Miller zu ermorden, ebenso die Gelegenheit und die Zeit gehabt, die Leiche unbemerkt aus der Bibliothek zu schaffen und sie im See zu versenken.

Es hieß zwar, Blut wäre dicker als Wasser, und Abigail Tremaine war die einzig noch lebende Verwandte, die Mabel besaß, wenn sie allerdings einen Menschen auf dem Gewissen hatte, so würde Mabel sie nicht decken. Cousine hin oder her – der Gerechtigkeit musste genüge getan werden.

„Wären Sie bereit, in den See zu tauchen?“ Mabels Augen leuchteten vor gespannter Erwartung. „Ich meine … wenn Sie es überhaupt noch können, Sie sind schließlich nicht mehr der Jüngste.“

Victor warf sich in die Brust und sagte überzeugend: „Meine Liebe, ich bitte Sie! Ich mag zwar nicht mehr so knackig wie einst sein, aber kerngesund und fit. Gut, meine Tauchlizenz ist abgelaufen, für einen einmaligen Tauchgang ist das jedoch ohne Bedeutung, außerdem vermute ich, der See wird nicht sehr tief sein. In dieser Gegend sind Gewässer maximal vier bis fünf Meter tief.“

Mit einem Seufzer der Erleichterung lehnte Mabel sich zurück.

„Hoffen wir, dass ich recht behalte und Sie Sarah dort unten finden. Wann können Sie es machen?“

Victor runzelte nachdenklich die Stirn.

„Nun, ein, zwei Tage brauche ich für die Vorbereitungen. Ich muss die Sauerstoffflaschen füllen lassen. Dazu fahre ich am besten nach Plymouth rüber, denn wir möchten ja nicht, dass hier jemand unangenehme Fragen stellt, nicht wahr? Am besten versuchen wir es am frühen Morgen. Um fünf Uhr ist es bereits hell … sagen wir am Donnerstag? Passt Ihnen das, Mabel?“

Sie nickte zustimmend, es war, als hätte Victor eine schwere Last von ihren Schultern genommen.

„Victor, warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie der Patenonkel von Alan Trengove sind?“, sprach sie das Thema erneut an.

Ein Schatten fiel über Victors Gesicht. „Alan hat wohl kein gutes Haar an mir gelassen.“

„Der Anwalt hat ihre frühere Beziehung nur erwähnt, sonst nichts. Er meinte, Ihre Entzweiung wäre privater Natur.“

„Damit hat er recht.“ Victor lehnte sich vor und nahm Mabels Hand. „Meine Liebe, bitte glauben Sie mir, ich wollte Sie nicht hintergehen, indem ich verschwiegen habe, dass Alan Trengove der Sohn meines einst besten Freundes ist.“

„Heute ist der Freund nicht mehr Ihr Freund?“, hakte Mabel nach, woraufhin sich Victors Blick verdunkelte.

„Bitte, Mabel, ich möchte nicht darüber sprechen.“ Er drehte den Kopf zur Seite. „Es ist reiner Zufall, dass sich Arthur Tremaine ausgerechnet an Alan wandte, oder auch nicht, immerhin ist Alan der beste Anwalt der ganzen Grafschaft.“

„Ebenso wie Ihre … Differenzen mit Michael Hampton ein Zufall sind?“ Mabel seufzte. „Victor, ich habe keine andere Wahl, als Ihnen zu vertrauen. Vielleicht sind Sie eines Tages bereit, mir die Wahrheit zu sagen.“

„Vielleicht …“ Victor kam ihr nach, als sie zur Tür ging. „Wo wollen Sie hin?“

„Nach Higher Barton. Nein, sagen Sie jetzt nichts.“ Mabel hob die Hand, als Victor den Mund öffnete. „Ich muss Abigail im Auge behalten.“

Er berührte leicht ihren Arm.

„Passen Sie auf sich auf, Mabel. Passen Sie nur auf sich auf, ja?“