20

Erst als Mabel wieder auf dem Rückweg zum Herrenhaus war, fiel ihr ein, dass sie Victor nichts von dem verborgenen See und ihrem Verdacht, Sarah Millers Leiche könnte sich dort befinden, erzählt hatte. Die Nachricht, das Mädchen sei Arthurs leibliche Tochter gewesen, hatte alle anderen Gedanken aus Mabels Kopf verbannt, aber wie sie vorhin zu Victor gesagt hatte: Solange sie keine weiteren Beweise vorzulegen hatten, würde die Polizei nichts unternehmen. Und sicherlich auch nicht den See absuchen lassen. Hoffnung, das Gewässer könnte die Leiche von selbst freigeben, hegte Mabel nicht. Der Täter … oder die Täterin, wie Mabel in Gedanken bitter hinzufügte, hatte bestimmt dafür gesorgt, dass der Körper nicht wieder an die Wasseroberfläche hochtrieb.

Mabel versuchte, Abigail so unbefangen wie möglich gegenüberzutreten, es wollte ihr aber nicht gelingen, auf deren unbeschwertes Geplauder einzugehen. Während Abigail am Abend von der Teestunde bei Lord Cavendish erzählte und betonte, wie sehr der Herr enttäuscht gewesen sei, dass Mabel seiner Einladung nicht hatte Folge leisten können, bemühte sich Mabel um ein unverbindliches Lächeln und warf nur hin und wieder „Ach, ja?“ oder „Wie interessant!“ ein. Die Lauchsuppe, die unter anderen Umständen bestimmt äußert delikat geschmeckt hätte, wollte ihr kaum die Kehle heruntergehen, und das Brathähnchen in Weißwein-Sahne-Soße lag wie Pappe in Mabels Mund.

„Fühlst du dich nicht wohl?“, fragte Abigail, der Mabels Schweigsamkeit nach einer Weile auffiel, und sah ihre Cousine besorgt an.

„Nein, nein, es geht mir gut“, versicherte Mabel, wich Abigails Blick jedoch aus.

„Verzeih, wenn ich das sage, aber du bist furchtbar blass. Wahrscheinlich überfordert dich die Arbeit bei diesem Theaterverein, schließlich hast du den ganzen Sonntagnachmittag dort verbracht, und ich befürchte, du wirst nachher wieder an dem Kostüm nähen.“

Mabel nickte. Tatsächlich war sie mit den Änderungen an Tims Kostüm durch die anderen Ereignisse kaum vorangekommen, dabei erwartete Eric Cardell das fertige Stück morgen Abend bei der nächsten Probe.

„Wenn der Basar dir zu viel wird …“, fuhr Abigail fort.

„Das ist schon in Ordnung.“ Mabel winkte ab. „Ich habe nur keinen Hunger, weil ich am Nachmittag Kuchen gegessen habe.“ Diese Ausrede war ihr gerade eingefallen und sie hoffte, sie würde glaubhaft klingen. „Du verzeihst, wenn ich mich zurückziehe? In der Tat sollte ich noch ein Weilchen an dem Kostüm nähen.“

Abigail nickte, und Mabel hatte das Gefühl, dass sie sich ernsthaft um sie sorgte. Als sie durch die Halle ging, betrat Justin Parker das Haus und steuerte, nachdem er Mabel ein kurzes „Hallo“ zugeworfen hatte, zielstrebig auf das Speisezimmer zu. Gut sah der Chauffeur schon aus, das musste Mabel sich eingestehen. Heute Abend trug er eine blaue verwaschene Jeans, ein helles Hemd ohne Krawatte und einen dunkelblauen legeren Blazer, der die Farbe seiner Augen perfekt zur Geltung brachte. Ob Parker wohl Sarah Miller gekannt hatte? Die Frage kam Mabel in den Sinn, als sie über seine jugendlich anmutende Attraktivität nachdachte. Es war eher unwahrscheinlich, denn so viel sie mitbekommen hatte, hielt sich Parker nur selten im Dorf auf. Er schien nicht der Typ zu sein, der seine Freizeit im örtlichen Pub verbrachte oder sonstigen Vergnügungen nachging. Offenbar widmete er sich voll und ganz seiner älteren Geliebten, trotzdem hegte Mabel noch immer Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Zuneigung zu Abigail. Ein neuer Gedanke nahm Gestalt an: Was, wenn Abigail befürchtete, Justin würde sie nicht mehr lieben, wenn sie ihr Vermögen mit jemandem – mit Sarah – teilen müsste? Vielleicht hatte sie Angst, Justin zu verlieren, vielleicht sogar an Sarah, die ausgesprochen schön gewesen war. Abigail konnte unmöglich wissen, dass sich die junge Frau aus Männern nichts machte. Als Arthurs Tochter und Erbin hätte Sarah das Recht gehabt, auf Higher Barton zu leben – und damit in ständiger Nähe von Justin. Abigail war von dem jungen Mann regelrecht besessen, und Mabel kannte ihre Cousine zu wenig, um zu beurteilen, ob sie zur Eifersucht neigte. Tatsache war jedoch, dass aus Eifersucht häufig gemordet wurde. Somit hätte Abigail nun gleich zwei starke Motive, Sarah aus dem Weg zu räumen. Sie hatte ihr das Erbe streitig gemacht und vielleicht sogar den Liebhaber. Welch eine Ironie des Schicksals, dachte Mabel, erst betrügt Arthur Abigail vor über zwanzig Jahren und zeugt ein außereheliches Kind, und dann bedroht dieses Kind womöglich die Liebe zwischen ihr und dem neuen Mann an ihrer Seite.

Grübelnd stützte Mabel ihr Kinn in die Hände und schaute aus dem Fenster. Das Abendlicht warf erste Schatten über die Blumenbeete des Gartens, zwei Elstern stolzierten über den Rasen und Kaninchen hoppelten am Heckenrand entlang – sehr zum Verdruss von George Penrose, der sich nach Kräften bemühte, der Kaninchenplage, die diese Gegend regelmäßig heimsuchte, Herr zu werden. Alles schien so still und friedlich zu sein, als gebe es keine Geheimnisse und erst recht keine Morde. Mabel seufzte, riss ihren Blick von der Landschaft los und nahm das Kostüm von Prinz Charles zur Hand, um wenigstens noch mit dem Kürzen des Umhangs an diesem Abend fertig zu werden.

Am nächsten Morgen ließ Abigail sich von Justin nach Bodmin fahren, um ihren Friseur aufzusuchen, obwohl ihr letzter Besuch erst wenige Tage her war. Abigail legte viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres und ließ an ihre Haare niemand anderen als André, der zwar Engländer war, aber André klang eben besser als ein schlichter Andrew. In Polperro oder Looe gab es zwar auch Friseure, Abigail beharrte jedoch darauf, dass André der beste in ganz Cornwall sei.

„Du könntest einen neuen Schnitt gut gebrauchen“, sagte sie zu Mabel. „Vielleicht etwas Pfiffiges, und etwas Farbe ins Haar, das macht einen gleich um ein paar Jährchen jünger.“

Mabels praktischer Kurzhaarschnitt war tatsächlich etwas aus der Form geraten. Die Haare bedeckten die Ohrmuscheln und kräuselten sich im Nacken, trotzdem lehnte sie dankend ab. Mabel wollte Abigails Abwesenheit nutzen, um ein Telefonat zu führen, von dem die Cousine nichts mitbekommen sollte. Sofort nachdem der Rolls Royce die Auffahrt verlassen hatte, verließ auch Mabel das Haus. Sie ging in den hinteren, kleinen Garten und nahm ihr Handy aus der Hosentasche, ebenso die Visitenkarte, die sie bei ihrem Besuch bei Alan Trengove eingesteckt hatte. Schnell tippte sie die Nummer ein, nach zweimaligem Läuten wurde auf der anderen Seite abgenommen.

„Anwaltskanzlei Trengove, Vorzimmer Miss Thompson, was kann ich für Sie tun?“

„Hier spricht Mabel Clarence“, sagte Mabel hastig. „Hören Sie, ich muss Mr Trengove sprechen.“

„Das ist leider nicht …“

„Hören Sie zu!“, unterbrach Mabel scharf. „Es geht hier um Leben und Tod, und Sie geben mir jetzt sofort Ihren Chef, verstanden?“

Mabel hatte nicht gewusst, wie bestimmend sie sein konnte, und ihre Worte zeigten offenbar die gewünschte Wirkung. Sie hoffte, der Anwalt würde in seinem Büro sein und nicht unterwegs. Mabel befürchtete, der Mut könnte sie verlassen und sie könnte es sich anders überlegen, wenn sie Trengove erneut anrufen müsste. Sie wurde nicht enttäuscht – es knackte in der Leitung, und Alan Trengove meldete sich.

„Miss Clarence, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich keine Auskünfte über meine Mandaten und deren Anliegen geben werde.“

„Auch nicht, wenn es sich um Mord handelt?“

„Mord?“ Mabel hörte, wie der Anwalt schwer atmete. „Wer ist ermordet worden?“

„Sarah Miller“, antwortete Mabel knapp.

„Das ist ja schrecklich.“ Mr Trengove schien über die Nachricht äußerst bestürzt zu sein. „Hat die Polizei bereits den Täter verhaftet?“

Mabel ging auf seine Frage nicht ein, sie sagte stattdessen: „Hören Sie, Mr Trengove, ich muss Sie unverzüglich sprechen. Die Sache ist kompliziert, ich kann es am Telefon nicht erklären. Ich muss Sie heute noch sehen.“

„Warten Sie.“ Er zögerte, und Mabel hörte Papier rascheln, dann fuhr er fort: „Also gut, ich kann es einrichten. Um fünfzehn Uhr habe ich ohnehin einen Termin in West Looe, das ich doch ganz in Ihrer Nähe, nicht wahr? Wo sollen wir uns treffen?“

Darüber hatte sich Mabel bereits Gedanken gemacht. Auf keinen Fall wollte sie mit dem Anwalt zusammen gesehen werde, daher schlug sie vor: „Am Ende der St Martins Road, oberhalb von West Looe ist ein kleiner Wanderparkplatz. Wann können Sie dort sein?“

„Nicht vor sechzehn Uhr.“

„Ich werde dort sein“, sagte Mabel und legte auf. Erleichtert steckte sie ihr Handy in die Tasche. Sie musste sich Alan Trengove anvertrauen, auch auf die Gefahr hin, er würde sie ebenso wie die Polizei für geistig verwirrt halten. Solange sie aber die genauen Hintergründe nicht kannte und nicht wusste, wieso erst vier Jahre nach Arthurs Tod seine uneheliche Tochter auftauchte, würde sie im Fall Sarah Miller keinen Schritt weiterkommen.

Als nächstes wählte Mabel Victors Nummer. Noch während es klingelte, hörte Mabel einen kurzen und leisen Piepton, wusste aber nicht, was dieser zu bedeuten hatte. Sie erreichte nur seine Praxishilfe, die ihr sagte, der Tierarzt sei über Land unterwegs und sie wüsste nicht, wann er zurückkäme.

„Ich kann Ihnen seine Handynummer geben“, bot die Sprechstundenhilfe an.

Mabel lehnte ab, hier draußen hatte sie nichts zum Schreiben bei sich. Sie würde sich später wieder melden.

Den restlichen Vormittag verbrachte sie mit der Näharbeit, auf die sie sich nur schwer konzentrieren konnte, als sie jedoch zum Lunch hinunterging, war der Umhang aus dunkelgrünem Samt fertig. Mabel hoffte, sich nicht vermessen zu haben, und Tim würde nicht wie ein Zwerg darin aussehen. Als Abigail sich nach dem Essen zu ihrem üblichen Ruhestündchen zurückzog, sah Mabel unentschlossen auf die Uhr. Sie hatte noch Zeit, bis sie nach Looe fahren musste und beschloss, nochmals zu dem kleinen See zu gehen. Vielleicht hatte sie gestern eine Spur übersehen, vielleicht gab es irgendetwas, das auf Sarahs Leiche hinwies.

In der Halle traf sie auf Emma Penrose, die ein Päckchen in der Hand trug.

„Ach, Miss Clarence, gehen Sie nach draußen?“, fragte sie, und Mabel nickte. „Wären Sie so freundlich, dieses Päckchen Mr Parker rüberzubringen? Der Briefträger hat es versehentlich im Herrenhaus abgegeben. Das wäre sehr freundlich. Ich habe einen Kuchen im Ofen, den ich ungern unbeaufsichtigt lassen möchte.“

Mabel nahm das schmale, etwa buchgroße Päckchen entgegen. Es lag ihr auf der Zunge zu sagen, der Chauffeur würde wahrscheinlich ohnehin in der nächsten Stunde ins Herrenhaus kommen, denn Parker suchte Abigail regelmäßig nach dem Lunch in deren Zimmer auf. Da sie jedoch nicht wusste, ob Emma Penrose über das Verhältnis ihrer Herrin mit Justin Parker informiert war, wollte sie ihre Cousine nicht unnötig in Verlegenheit bringen. Obwohl sich Mabel kaum vorstellen konnte, dass den Penroses, die sich täglich im Herrenhaus aufhielten, die Beziehung entgangen sein konnte.

Mabel schlug also zuerst den Weg zu den Garagen ein. Dort, wo neben dem exklusiven Rolls Royce und dem chromglänzenden Jaguar jetzt auch Mabels alter Vauxhall Corsa stand, waren einst die Pferdeställe gewesen. In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte Sir Tremaine, Arthurs Vater, neue Stallungen etwas weiter entfernt vom Herrenhaus bauen und die alten zu Garagen umbauen lassen. Die darüberliegende ehemalige Kutscherwohnung war in ein modernes Apartment umgestaltet worden, seitdem lebte dort der jeweilige Chauffeur von Higher Barton. Langsam stieg Mabel die schmale und steile Treppe zu der Wohnung hinauf und klopfte an die grüne Holztür. Es regte sich nichts. Mabel wollte das Päckchen gerade vor der Tür ablegen, damit Parker es fände, wenn er nach Hause käme, da hörte sie in der Wohnung das Tappen von Füßen. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet.

„Ja, bitte?“

Justin Parker schien gerade geduscht zu haben, denn sein Haar war feucht und um die Hüften trug er nur ein knappes Handtuch. Mabel war zwar schon über sechzig, trotzdem eine Frau, und beim Anblick von Parkers braungebranntem, muskulösem und glattrasiertem nacktem Oberkörper errötete sie.

„Das wurde versehentlich im Herrenhaus abgegeben“, sagte sie und merkte verärgert, wie ihre Stimme vibrierte. Als sie ihm das Päckchen gab, fiel ihr Blick auf den Absender – es war eine Adresse in Bristol. „Sie haben Freunde in Bristol?“, entfuhr es ihr.

Justin Parkers Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Mag sein.“ Er riss Mabel das Päckchen regelrecht aus den Händen und wollte die Tür schließen, doch bevor diese ins Schloss fiel, hörte Mabel eine weibliche Stimme rufen: „Justin, Liebling, was ist denn? Ich warte auf dich.“

Irritiert ging Mabel die Treppe hinunter. In ihr war alles in Aufruhr. Die Stimme war ihr irgendwie bekannt vorgekommen, wenngleich Mabel sie keinem Gesicht zuordnen konnte, deren Bedeutung und zudem Parkers spärliche Bekleidung sprachen allerdings Bände.

„Arme Abigail“, murmelte Mabel. Von ihr würde Abigail nichts erfahren. Mabel war nicht allzu überrascht, dass Justin Parker noch eine andere Geliebte hatte, dass er allerdings die Unverfrorenheit besaß, diese nach Higher Barton zu holen, war der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Offenbar hatte Parker keine Angst, Abigail könnte hinter sein Doppelleben kommen, oder – und bei diesem Gedanken sträubten sich Mabels Nackenhaare – Abigail wusste davon und tolerierte es. Das würde Mabel nicht wundern, denn Abigail würde wahrscheinlich alles tun und ertragen, um ihren jungen Liebhaber nicht zu verlieren. Vielleicht würde sie sogar eine unerwünschte Nebenbuhlerin aus dem Weg schaffen … Auf der einen Seite hatte Mabel Mitleid mit ihrer Cousine, auf der anderen Seite war sie an ihrer Situation selbst schuld. Abigail war keine Frau, die den Rest ihres Lebens als trauernde Witwe verbringen wollte, dazu war sie zu attraktiv und agil. Warum suchte sie sich aber nicht einen Mann in ihrem Alter? Der nette Trevor Cavendish zum Beispiel. Der Lord und Abigail würden ein schönes Paar abgeben.

Mabel dachte daran, ob es etwas zu bedeuten hatte, dass Parker Post aus Bristol, der Heimatstadt Sarah Millers, erhielt. Gut, Bristol war eine Großstadt mit fast einer halben Million Einwohner – warum sollte Parker keine Bekannten, wenn nicht sogar Verwandte dort haben?

„Weil es ein seltsamer Zufall ist, dass auch Sarah dort lebte“, sagte Mabel laut zu sich selbst, denn bei Verbrechen glaubte sie nicht an Zufälle. Außerdem war der Unmut, als Mabel ihn auf Bristol ansprach, in Parkers Augen deutlich zu lesen gewesen.

Unbewusst hatte Mabel ihre Schritte durch den verwilderten Garten zum See gelenkt. Erneut stand sie am Ufer und sah ein paar Minuten auf die Wasseroberfläche, dann begann sie, das Ufer Zentimeter für Zentimeter abzusuchen. Seit Sarahs Ermordung waren über zwei Wochen vergangen, seitdem hatte es mehrmals geregnet, und Mabel glaubte nicht, noch irgendwelche Spuren zu finden. Selbst wenn irgendwo das Gras niedergedrückt gewesen sein sollte, so hatte sich das längst wieder erholt. Auch Fetzen von Sarahs Kostüm, ähnlich dem, den Mabel an der Terrassentür gefunden hatte, waren nirgends zu sehen.

„Wahrscheinlich verrennst du dich in etwas“, murmelte Mabel und beschloss, zum Herrenhaus zurückzugehen, sich umzuziehen und nach Looe zu fahren. Da hörte sie ein Geräusch, wie das Knacken eines Astes, ganz in ihrer Nähe. „Wer ist da?“, rief sie laut. „Abigail, bist du es?“

Niemand antworte, uns außer dem aufgeregten Rufen eines Vogels konnte Mabel auch nichts mehr hören. Ein ungutes Grummeln breitete sich in ihrem Magen aus, und Mabel hatte das deutliche Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden.

Bevor Mabel sich auf dem Weg nach Looe machte, dachte sie kurz daran, noch einmal zu versuchen, Victor Daniels zu erreichen, um ihm zu sagen, dass sie sich mit Trengove traf, verwarf den Gedanken aber wieder. Ein letzter Rest Misstrauen, weil er sie, was Michael Hampton und Alan Trengove betraf, zunächst belogen hatte, war geblieben. Außerdem – was sollte Victor zu dem Gespräch mit Trengove beitragen? Sie wusste selbst nicht, was der Anwalt zur ihrer Geschichte sagen würde. Mabel wollte die Unterhaltung abwarten und danach zu Victor fahren, um ihn zu informieren.

Sie hatte die St Martins Road, die von West Looe in Richtung Plymouth führte, gewählt, weil sie hoffte, dort von niemandem, der sie kannte, gesehen zu werden. Leider musste sie feststellen, dass die früher enge und einspurige Straße in den letzten Jahrzehnten ausgebaut und verbreitert worden war und es den Parkplatz, zu dem Arthur sie einmal gefahren hatte, um mit ihr allein zu sein, nicht mehr gab. Arthur – beim Gedanken an ihn zog sich Mabels Herz zusammen. Was er wohl zu ihrem Verdacht, Abigail könnte eine Mörderin sein, sagen würde? Mabel wusste über seine und Abigails Ehe nur das Wenige, das Abigail erzählt hatte. Laut deren Aussage waren die beiden sehr glücklich gewesen, hatte das aber auch Arthur so empfunden? Bereits als Kind war Abigail nicht nur äußerst eitel, sondern auch ehrgeizig gewesen. Ihre Ehe mit dem texanischen Ölmillionär war sie nur eingegangen, um ein sorgloses Leben führen zu können, und die Hochzeit mit Arthur hatte der einstigen Tochter eines Farmers die Türen zu den Kreisen des englischen Hochadels geöffnet. Mabel zweifelte nicht an Abigails Gefühlen für Arthur – hatten diese über die Jahre hinweg aber auch Bestand gehabt? Wohl kaum, warum sonst hatte Arthur eine Affäre gehabt, aus der sogar ein Kind hervorgegangen war. Sie seufzte und suchte nach einer Stelle, wo sie parken konnte. Kurz vor einer Abzweigung zu einer Farm entdeckte sie eine Haltebucht und lenkte ihren Wagen dorthin. Es war zwar nicht erlaubt, in diesen Buchten zu parken, außer man hatte eine Panne, Mabel hoffte jedoch, von Alan Trengove an dieser Stelle gesehen zu werden.

Der Anwalt verspätete sich um wenige Minuten. Nachdem er sein Auto, einen grauen BMW aus der Fünferserie, hinter Mabels alten Corsa gestellt und ausgestiegen war, sah er sich suchend um.

„Das ist aber kein Parkplatz“, bemerkte er tadelnd. „Wenn eine Streife vorbeikommt …“

„Wir brauchen nicht lange“, warf Mabel ein. „Mr Trengove, ich muss wissen, warum Sarah Miller erst Jahre nach Arthur Tremaines Tod informiert wurde, dass sie seine Tochter ist.“

„Woher wissen Sie das?“ Trengove runzelte die Stirn. „Haben Sie mit Lady Tremaine gesprochen.“

Mabel ging auf seine Frage nicht ein.

„Bitte, Mr Trengove, ich muss wissen, warum Sarah erst kürzlich über ihren Vater und das Erbe informiert wurde.“

„Am Telefon meinten Sie, Sarah Miller wäre ermordet worden“, sagte Trengove. „Hat die Polizei bereits den Täter gefasst?“

„Die Polizei verfolgt den Mord nicht.“ Mabel seufzte, knetete nervös ihre Finger und begann dann in schnellen, kurzen Sätzen dem Anwalt alles zu erzählen. Je länger sie sprach, desto mehr verdüsterte sich Trengoves Gesicht, und, als der Name Victor Daniels fiel, wurde seine Miene richtiggehend zornig.

„Sie kennen Victor?“, fragte Trengove, als Mabel geendet hatte. Sie nickte, und er fuhr fort: „Victors und mein Vater waren Freunde, die besten, die man sich vielleicht vorstellen kann. Sie waren zusammen auf der Schule, später war Victor sein Trauzeuge und schließlich wurde er mein Pate. Ich habe ihn immer mehr als Onkel gesehen als meine leiblichen Verwandten. Bis …“ Er brach ab und schüttelte den Kopf.

„Bis was?“, hakte Mabel nach, begierig zu erfahren, was zwischen den Männern vorgefallen war. Doch der Anwalt schwieg. „Hat Victor Sie auch nach Sarah Miller gefragt?“, knüpfte Mabel an.

Trengove verneinte. „Wir haben seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr.“ Bevor Mabel nach dem Grund fragen konnte, sagte er schnell: „Es ist eine Privatangelegenheit, ich möchte darüber nicht sprechen.“

Mit diesen Worten bestätigte er Victors Aussage und Mabel war geneigt zu glauben, dass es sich wirklich nur um ein länger zurückliegendes Zerwürfnis handelte. Sie wusste, es hatte keinen Sinn, in Trengove zu dringen, außerdem war sie wegen Sarah und nicht wegen Victor gekommen, daher sagte sie: „Ich weiß, es ist nicht leicht, mir zu glauben, ich versichere Ihnen jedoch, dass alles, was ich gesagt habe, der Wahrheit entspricht und ich keinesfalls wirr im Kopf bin oder an Halluzinationen leide.“

Zum ersten Mal lächelte Trengove. „Einen solchen Eindruck habe ich von Ihnen nicht gewonnen, Miss Clarence. Also gut …“ Er zuckte die Schultern und seufzte. „Miss Miller hat sich seit über zwei Wochen nicht wieder mit mir in Verbindung gesetzt, auch von Lady Tremaine habe ich keinen Anruf oder sonstige Nachricht erhalten. Dabei sollte man meinen, beide Frauen hätten miteinander jede Menge zu klären. Außerdem habe ich Miss Miller meine Hilfe zugesichert, ihre Ansprüche durchzusetzen, sollte sie auf Widerstand stoßen, was ich eigentlich erwartet hätte. Für Lady Tremaine muss ein uneheliches Kind ihres verstorbenen Mannes doch entsetzlich sein. Jeder in Cornwall weiß, wie sehr Ihre Cousine auf den guten Ruf der Familie bedacht ist.“

„Abigail behauptet, den Namen Sarah Miller nie gehört zu haben und der Frau nie begegnet zu sein“, sagte Mabel nachdenklich. „Entweder sagt sie die Wahrheit und Sarah wurde ermordet, bevor sie mit meiner Cousine sprechen konnte, oder aber …“

„Sie verdächtigen Lady Tremaine?“

Mabel sah ihn ernst an. „So sehr ich meine Cousine schätze, die Beweise scheinen mir keine andere Wahl zu lassen. Aus diesem Grund ist es wichtig zu erfahren, weshalb es erst jetzt zu der Eröffnung, Arthur Tremaine habe ein uneheliches Kind, gekommen ist. Hatte er es nicht in seinem Testament vermerkt?“

„Arthur Tremaine suchte mich ein knappes Jahr vor seinem Tod auf.“ Alan Trengove war nun bereit, offen zu sprechen. „Damals weihte er mich in sein Geheimnis ein, er habe vor vielen Jahren eine Affäre mit einer Barsängerin aus Bristol gehabt, und aus dieser Beziehung sei ein Kind hervorgegangen. Bisher habe er diese Vaterschaft allerdings geleugnet, nun jedoch habe die Mutter des Kindes heimlich einen Vaterschaftstest machen lassen und ihn mit dem Ergebnis konfrontiert. Einige Wochen zuvor war diese Dame nämlich plötzlich auf Higher Barton aufgetaucht, hatte etwas von einem Interview, das sie für eine Jagdzeitschrift mit ihm machen wolle, gefaselt und sich ihm an den Hals geworfen, bevor Arthur sich von dem Schreck, seine ehemalige Geliebte zu sehen, erholen konnte. Da er natürlich wusste, was sie auf Higher Barton wirklich wollte, warf er sie eigenhändig aus dem Haus, bevor Lady Abigail von dem Vorfall etwas mitbekommen konnte. Erst später erkannte Sir Tremaine, dass sie ihm bei dieser Gelegenheit ein paar Haare ausgerissen haben musste. Nun haben diese heimlichen Vaterschaftstests vor Gericht allerdings keinen Bestand, Arthur Tremaine war jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass er sich gegenüber seiner Tochter mehr als schändlich verhalten hatte und wollte es wieder gut machen. Nun, für ihn bedeutete das natürlich nur einen finanziellen Ausgleich, um genau zu sein, er wollte ihr als Erbin fünfzig Prozent seines Vermögens vermachen. Er war nie ein Vater für seine Tochter gewesen, konnte und wollte das auch jetzt nicht sein. Er hat das Mädchen niemals gesehen. Um es zum Ende zu bringen: Sir Tremaine bat mich, erst nach seinem Tod Miss Miller zu informieren und auch erst dann, wenn das Mädchen ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr vollendet hat. Offenbar wusste Miss Miller nichts von ihm, ihre Mutter hatte trotz allem ihrer Tochter gegenüber geschwiegen, und Sir Tremaine war der Meinung gewesen, das Mädchen könne mit der Tatsache, Erbin eines großen Vermögens zu sein, in jüngeren Jahren sicher nicht umgehen. Außerdem ging er davon aus, noch lange zu leben. Ein Trugschluss, wie sich bald darauf herausstellte. Da Sir Tremaine seine Tochter im Testament nicht erwähnte, waren mir die Hände gebunden. Rechtlich gesehen hatte Miss Miller zwar Anspruch auf ihr Erbe, ich musste Tremaines Wunsch jedoch respektieren. Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber Tremaine war ein Feigling. Auf keinen Fall wollte er zu Lebzeiten, dass seine Affäre ans Licht kam, denn dann hätte er sich mit seiner Frau auseinandersetzen müssen.“

Mabel lächelte bitter. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie damals, als Arthur sich mit Abigail verlobte und sich von ihr trennte, nicht er selbst, sondern seine Eltern es ihren Eltern gesagt hatten. Schon in jungen Jahren hatte Arthur nicht den Schneid gehabt, eine unangenehme Sache selbst zu übernehmen.

„Somit haben Sie Sarah Miller also im Februar über ihren Vater und die Erbschaft informiert?“

Trengove nickte. „Unmittelbar nach ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Zuerst schrieb ich ihr und bat sie, mich in meiner Kanzlei aufzusuchen. Sie antwortete jedoch, dass sie nicht wüsste, was sie mit einem Anwalt in Cornwall zu schaffen hätte, außerdem hätte sie weder die Zeit noch das Geld, um nach Truro zu fahren. In einem Telefonat informierte ich Miss Miller in groben Zügen über die Erbschaft, wollte ihr aber kein Geld schicken, bevor sich die Dame mir gegenüber nicht ausgewiesen hatte. Da Miss Miller jedoch darauf beharrte, sich die Fahrt nach Truro nicht leisten zu können, blieb mir nichts anderes übrig, als sie in Bristol aufzusuchen.“

„Ich glaube, den Rest kenne ich“, murmelte Mabel, verschwieg jedoch, dass Victor in Sarahs Wohnung eingebrochen und Trengoves Brief entwendet hatte. „Weiß sonst jemand davon?“, fragte sie. „Ich meine, haben Sie es irgendjemandem erzählt oder wissen Sie, mit wem Sarah darüber gesprochen haben könnte?“

Trengove schüttelte den Kopf.

„Außer meiner Sekretärin weiß niemand davon, und wem Miss Miller von der Erbschaft erzählt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Wie ich bereits sagte, ich habe mich gewundert, als sie mich nicht wieder kontaktierte, um die Formalitäten des Erbes abzuwickeln. Ich dachte jedoch, sie hätte wahrscheinlich einen meiner Kollegen aufgesucht, und dann geriet die Sache in Vergessenheit, denn andere Mandaten haben meine Aufmerksamkeit erfordert.“

Mabel hielt Trengove die Hand hin.

„Ich danke Ihnen, Mr Trengove, sie haben mir sehr geholfen. Zwar weiß ich immer noch nicht, wie ich Sarahs Ermordung beweisen kann und ob meine Cousine damit etwas zu tun hat, einige Dinge sehe ich jetzt aber klarer.“

„Miss Clarence …“ Trengove hielt ihre Hand fest und sagte ernst: „Begeben Sie sich bitte nicht in Schwierigkeiten. Wenn Sarah Miller wirklich ermordet wurde, dann ist das die Sache der Polizei. Wenn ich Ihnen als Anwalt helfen kann, dann rufen Sie mich an, ja?“

Mabel dankte für sein Angebot und stieg in ihren Wagen. Sie nahm ihr Handy und wollte Victor anrufen. Obwohl Mabel sicher war, das Gerät nicht ausgeschaltet zu haben, war das Display schwarz und sie konnte die Nummer nicht wählen. Mabel erinnerte sich, dass der junge Verkäufer etwas von „regelmäßig den Akku aufladen“ gesagt hatte.

„Mist!“ Mabel legte das Handy auf den Beifahrersitz. Sie wurde tatsächlich alt und vergesslich, denn offenbar war der Akku leer. Was nützte ihr ein Handy, wenn es nicht funktionierte? Dann würde sie eben auf gut Glück zu Victor fahren und ihm von ihrem Gespräch mit Trengove berichten.

Die Straße machte eine starke Rechtskurve und fiel nach Looe hinunter steil ab, wo sie in die A387 mündete. Mabel schaltete zurück und trat auf die Bremse. Sie brauchte eine oder zwei Sekunden, um zu registrieren, dass ihr Fuß ins Leere trat. Sie versuchte es erneut, doch das Bremspedal reagierte nicht und das Auto wurde immer schneller. Nur mit Mühe schaffte es Mabel, den Wagen um die scharfe Linkskurve zu lenken, schrammte dabei mit der Beifahrerseite gegen einen steinernen Begrenzungspfosten. Der Wagen geriet ins Schleudern. Panisch schaltete Mabel einen Gang hinunter, der Motor heulte, und plötzlich tauchte ein Traktor vor ihr auf.

„Aus dem Weg!“, schrie sie, obwohl der Traktorfahrer sie nicht hören konnte. Panisch riss sie das Lenkrad nach rechts, um an dem Traktor vorbeizukommen, und sah einen großen, dunklen Wagen direkt auf sich zukommen. Nach einem weiteren Schlenker prallte ihr Wagen auf einen der Bäume, die den rechten Straßenrand säumten, und Mabel war es, als würde sie durch die Luft gewirbelt. Als sich der Wagen mehrmals überschlug und schließlich auf dem Dach liegen blieb, war Mabel längst in eine kalte und dunkle Schwärze getaucht.