10

Nachdem Rachel Wilmington den Gemeindesaal verlassen und ihren Brief an Sarah in den Postkasten geworfen hatte, ging sie nach Hause. Langsam setzte sie einen Schritt vor den anderen, was aber nicht an ihrer kaputten Hüfte lag, sondern sie wollte Zeit schinden. Rachel wusste, ihr Vater würde zwar toben, wenn sie sich verspätete, da Denzil Wilmington aber eigentlich immer wütend war, spielte das ohnehin keine große Rolle.

Das Haus der Wilmingtons lag außerhalb von Lower Barton, direkt an der Straße, die nach Polperro führte. Es war aus roten Backsteinen erbaut, zwei Stockwerke hoch und verfügte über einen kleinen Garten. Dichtes Unkraut überwucherte die einstigen, von Rachels Mutter angelegten Gemüse- und Blumenbeete, denn Rachel eignete sich nicht als Gärtnerin. Eigentlich eignete sie sich zur gar nichts, was sie ihr Vater täglich wissen ließ. Als das Haus in Sicht kam, wischte Rachel sich die Tränen von den Wangen. Wenn der Vater sah, dass sie wieder geweint hatte, würde das nur seinen Spott heraufbeschwören. Rachel fragte sich, wie viel Flüssigkeit eigentlich in einem Menschen steckte, denn die Mengen an Tränen, die sie in den letzten fünf Jahren geweint hatte, waren unvorstellbar. Lediglich in den letzten Wochen, seit Sarah in der Stadt aufgetaucht war, hatte sie ihre Sorgen für einige Stunden vergessen können und manchmal sogar gelächelt.

„Du musst endlich damit anfangen, dein eigenes Leben zu leben“, hatte Sarah gesagt, nachdem Rachel ihre Geschichte erzählt hatte. „Es ehrt dich, dass du deine Geschwister nicht im Stich lassen willst, dennoch musst du auch an dich denken.“

Über diese Worte hatte Rachel bitter gelacht. An dem trüben Tag vor fünf Jahren hatte sie an sich gedacht. Sie, Rachel, hatte nach Truro fahren wollen, obwohl ihre Mutter meinte, das Wetter sei für einen Ausflug zu schlecht. Rachel sollte nach Ostern ihr Geschichtsstudium an der Universität in Exeter beginnen und wollte sich vorher noch ein paar halbwegs schicke Klamotten kaufen, und die gab es eben in Cornwall nur in den Geschäften Truros, der größten Stadt der Grafschaft.

„Bitte, Mama, komm mit“, hatte Rachel gebettelt. „Du hast einen so guten Geschmack, was Kleider angeht. Da ich nicht viel Geld habe, muss ich sehen, dass ich günstige, aber gute Sachen bekommen, die ich miteinander kombinieren kann.“

Mrs Wilmington hatte schließlich nachgegeben und eine Nachbarin gebeten, sich um die drei jüngeren Kinder zu kümmern, wenn sie aus der Schule kämen. Rachel hatte lachend bemerkt: „Ach, bis dahin sind wir doch längst wieder zurück!“

Rachels Mutter kehrte niemals wieder in das rote Backsteinhaus zurück, und Rachel erst nach einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt – als Krüppel. Ihr Studium konnte sie vergessen, nicht nur weil sie durch den Unfall den Beginn des Semesters verpasst hatte, nein, der Vater machte ihr unmissverständlich klar, sie hätte ab sofort den Haushalt zu führen.

Als Rachel das verrostete Gartentürchen aufstieß, quietschte es vernehmlich, und ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Bereits hier draußen hörte sie das Gebrüll der Zwillinge, die sich wieder einmal darüber stritten, wer die Playstation benutzen durfte. Die Haustür stand offen, und aus dem Wohnzimmer brüllte der Fernseher in einer Lautstärke, die Rachel in den Ohren schmerzte. Als sie die Küche betrat, saß ihr Vater am Küchentisch, eine halbvolle Bierflasche vor sich, und stierte ihr mit glasigen Augen entgegen.

„Ach, Mylady geruhen auch mal, nach Hause zu kommen.“ Obwohl er mit dem Trinken bereits begonnen hatte, als Rachel am Nachmittag das Haus verlassen hatte, war in seiner Stimme kein Lallen zu hören. Denzil Wilmington war seit Jahren daran gewöhnt, regelmäßig und viel Alkohol zu konsumieren.

„Ich mache gleich das Essen, Pa.“

„Wird auch Zeit, wir haben Hunger, und es ist schon nach acht.“ Denzil Wilmington leerte die Bierflasche mit einem Schluck und rülpste dann vernehmlich, wobei Speicheltropfen aus seinem Mund flogen und sich über den Tisch verteilten.

Rachel ging zum Kühlschrank und nahm einen Topf mit Gemüsesuppe heraus. Immer wenn sie Theaterprobe hatte, kochte sie am Abend vorher so viel, dass es auch für den folgenden Abend ausreichte. Nie wäre ihr Vater oder eines ihrer Geschwister aber auf den Gedanken gekommen, sich das Essen selbst warm zu machen. Rachel entzündete das Gas, stellte den Topf auf die Flamme, erst dann zog sie ihre Jacke aus. Ihr Blick irrte durch den Raum. Am Mittag hatte sie das Geschirr gespült und aufgeräumt, doch ihre Geschwister hatten sich nach der Schule Fish and Chips geholt, diese nur halb aufgegessen, und der Rest lag verteilt auf dem Tisch und auf dem Fußboden. Leere, benutzte Gläser standen herum, und irgendjemand hatte wohl mit der Ketschupflasche hantiert und die Schranktür mit roter Soße bekleckert. Seufzend machte Rachel sich daran, die kalten, fettigen Pommes vom Boden aufzulesen. In diesem Moment polterten zwei zwölf-jährige Jungen in die Küche, die einander wie ein Ei dem anderen glichen.

„Gordon lässt mich nicht spielen!“, schrie der eine und wurde prompt von seinem Bruder in die Seite geboxt.

„Stimmt gar nicht, Pip hat die Playstation eine ganze Stunde gehabt, jetzt bin ich dran!“

„Habt ihr eure Hausaufgaben gemacht?“, fragte Rachel mit seinem Seufzer.

„Nö, wir haben nichts auf, ist doch Wochenende“, gab Philipp, von allen nur Pip genannt, zurück. „Du weißt aber auch gar nichts. Wann gibt’s Essen, ich hab’ Kohldampf.“

Seit Jahren daran gewöhnt, wie eine Dienstmagd behandelt zu werden, ließ Rachel sich nichts anmerken, sondern fragte ruhig: „Wo ist Angie?“

„Die hockt vor dem Fernseher und sieht sich eine Castingshow an“, antwortete der um acht Minuten ältere Gordon und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Träumt davon, auch bald ein Star zu sein.“

Angie, die vierzehnjährige Schwester von Rachel, fieberte auf ihren sechzehnten Geburtstag hin, denn erst dann war sie alt genug, um sich bei einem solchen Gesangswettbewerb, von dem es unzählige in der britischen Medienlandschaft gab, zu bewerben. Bis es soweit war, übte sie sich bei jeder Gelegenheit im Singen. Rachel wollte ihrer Schwester nicht wehtun, sie bezweifelte jedoch, dass Angie jemals über die erste Runde hinauskommen würde. Angie mochte zwar einige Talente haben – sie war im Gegensatz zu ihren Brüdern eine gute und fleißige Schülerin –, Singen gehörte nicht dazu. Als Gott die Gaben guter Stimmen verliehen hatte, hatte niemand von den Wilmington-Geschwistern etwas davon mitbekommen. Rachel wusste heute schon, es würde eine schwere Zeit werden, wenn Angie erkennen musste, dass sie niemals den Weg eines Superstars würde gehen können.

„Deckt ihr bitte den Tisch?“, forderte sie ihre Brüder auf, diese grinsten nur breit.

„Nö, keinen Bock. Wir sind im Wohnzimmer, ruf, wenn’s Essen endlich fertig ist.“

„Also, ihr könntet wirklich mal ….“

Rachel verstummte, denn ihr Vater war neben sie getreten. Mit den Fingern einer Hand umklammerte er so fest ihren Oberarm, dass Rachel einen Schmerzenslaut unterdrücken musste. Es würden sicher wieder blaue Flecken auf ihrer Haut zu sehen sein, daran hatte Rachel sich inzwischen gewöhnt. Sie roch den Bieratem ihres Vaters, als er zischte: „Lass die Jungs in Ruhe! Hausarbeit ist Frauensache. Du hast ihnen schließlich die Mutter genommen, die Kinder können nichts dafür.“

Erschrocken bemerkte Rachel, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Seit fünf Jahren verging kein Tag, an dem der Vater sie nicht an ihre große Schuld erinnerte. Denzil Wilmington hatte Rachels feuchte Augen und das Zittern ihrer Unterlippe bemerkt. Er lachte höhnisch.

„Ja, jetzt heulst du wieder. Hast auch allen Grund dazu, du Mörderin.“ Er drehte sich um, aber nur, um die Kühlschranktür zu öffnen, eine volle Bierflasche herauszunehmen und zu brüllen: „Das ist die letzte Flasche. Du hast vergessen einzukaufen.“

Rachel senkte den Kopf und murmelte: „Ich gehe nach dem Essen zu Londis und hole neues Bier.“

„Londis!“ Denzil Wilmington spukte mitten auf den Fußboden. „Die sind viel zu teuer, außerdem führen sie nicht das Bier, das ich will. Du gehst zu Morrisons, die haben bis zehn Uhr offen. Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch.“

Rachel biss die Zähne zusammen, denn ein Widerspruch würde nur weiteren Streit und ihr Schläge einbringen. Direkt an der Ecke, nur zweihundert Meter weiter, befand sich der kleine Supermarkt Londis, der immer bis Mitternacht geöffnet hatte, auch sonntags. Ihr Vater hatte aber recht, das Warenangebot war klein und recht teuer. In der Stadtmitte von Lower Barton befand sich der Supermarkt Morrisons, der ein größeres und günstigeres Angebot hatte, dazu musste sie aber wieder durch den ganzen Ort laufen, und der Laden schloss in einer knappen Stunde. Rachel wünschte sich manchmal, sie hätte ein Auto. Nach dem Unfall hatte sie sich nicht wieder hinters Steuer gesetzt, außerdem war kein Geld vorhanden, einen Wagen zu kaufen – und sei es nur ein kleiner und gebrauchter. In Saltash gab es nämlich die großen Supermärkte ASDA und TESCO, die wesentlich billiger waren, und Rachel musste jeden Penny, den der Vater vom Amt bekam, ohnehin dreimal umdrehen, bevor sie ihn ausgab. Alle zwei Wochen fuhr ein Bus von Lower Barton nach Saltash, und Rachel fuhr dann zum Einkaufen dorthin. Sie musste die Waren jedoch in zahllosen Plastiktüten nach Hause schleppen und war immer völlig gerädert, wenn ein solcher Einkaufstag vorüber war. Weder ihre Brüder noch Angie hatten auch nur jemals ein Anzeichen gemacht, Rachel zu helfen, und sie hatte es längst aufgegeben, sie darum zu bitten. Der Vater lebte ihnen tagtäglich vor, dass Rachel nicht mehr als eine Angestellte in diesem Haus war, zudem noch eine Angestellte, die kostenlos arbeitete. Denzil Wilmington hatte seit vier Jahren keinen Job mehr. Schon bevor Rachels Mutter starb, hatte er oft und gern dem Alkohol zugesprochen, nach dem Unfall hatte er regelmäßig zu trinken begonnen und mehr Zeit im Pub als zu Hause verbracht. Da Wilmington bereits am Morgen angetrunken war, war es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er seinen Job als Automechaniker verlor. Da hier jeder jeden kannte und man ihn schnell als notorischen Säufer abgestempelte, fand er auch keine neue Stelle.

Rachel wusste, dass der Vater recht hatte. Es war schließlich ihre Schuld gewesen, dass er ohne Frau leben und die Geschwister ohne Mutter aufwachsen mussten. Solange die Zwillinge noch so jung waren – auch Angie war mit vierzehn noch lange nicht so weit, auf eigenen Beinen zu stehen, wenngleich das Mädchen das meistens anders sah –, konnte sie ihre Familie nicht im Stich lassen. Rachel war der Meinung gewesen, Sarah hätte sie verstanden und sie hätten gemeinsam nach einer Lösung gesucht, doch nun musste sie einsehen, dass sie sich in der Freundin getäuscht hatte. Nun, da Sarah ohne ein Wort des Abschiedes gegangen war, war ohnehin jeder Gedanke an eine bessere Zukunft hinfällig. Kein Wort von dem, was Sarah gesagt hatte, war jemals ernst gemeint gewesen. Sarah Miller war wie ein bunter Schmetterling nach Lower Barton und in Rachels Leben geflattert, und ebenso schnell wieder verschwunden. Rachel wünschte sich von ganzem Herzen, Sarah wäre wieder nach Bristol zurückgekehrt und würde ihren Brief erhalten. Und noch mehr wünschte sie sich, die Freundin würde ihr bald antworten. Wenn sie nur ein Wort – sei es per Post – von Sarah erhielt, dann würde ihr das die Kraft geben, die nächste Zeit zu überstehen.

„Das ist ja eine ganz unglaubliche Geschichte!“ Victor Daniels schlug sich auf den Oberschenkel und lachte dröhnend.

Mabels Gesicht verschloss sich. Es war ein Fehler gewesen, dem Tierarzt von der Leiche, die plötzlich verschwunden war, und von ihrem – begründeten – Verdacht, es handle sich um eine Laienschauspielerin, zu erzählen.

„Es tut mir leid, Sie mit den Hirngespinsten einer verrückten Alten belästigt zu haben“, sagte sie kühl und stand auf.

„Jetzt seien Sie nicht gleich beleidigt.“ Victor sah sie an und sein Lächeln erstarb. „Ich gebe zu, auf den ersten Blick klingt es wirklich etwas sehr nach der guten alten Miss Marple …“ Er brach ab, als Mabel die Lippen zusammenpresste.

„Ich weiß nicht, was mich veranlasst hat, Ihnen von der Sache zu erzählen“, sagte sie mühsam beherrscht. „Vielleicht weil ich dachte, ich könnte Ihnen vertrauen.“

„Das können Sie auch.“ Victor griff nach ihrer Hand. „Setzen Sie sich wieder hin. Ich sagte, es klingt unwahrscheinlich, aber nicht, dass ich Ihnen nicht glaube. Gut, Sie sind zweifelsohne alt“, diese Worte wurden von einem Zwinkern seiner Augen begleitet, „und ob Sie verrückt sind, kann ich nicht beurteilen. Bisher machten Sie einen ganz vernünftigen Eindruck auf mich, aber sind nicht alle Menschen irgendwie verrückt? Wir alle tun doch manchmal etwas, das nicht den allgemein gültigen Normen entspricht, oder?“

Mabel schwieg, sie hatte keine Lust, mit Victor über das Verhalten von Menschen zu diskutieren. Sie bereute ihre Vertrauensseligkeit. Nach dem Besuch bei Catherine Bowder war sie jedoch derart aufgewühlt gewesen, dass die Geschichte regelrecht aus ihr herausgeplatzt war. Victor Daniels hatte Tee gekocht, dann hatte er Lucky, die Katze, geholt und sie Mabel in die Arme gedrückt. Das Tier war weder tätowiert, gechipt noch kastriert, was darauf schließen ließ, dass es keine Besitzer hatte. Es schmiegte sich an Mabels Brust und begann zu schnurren – ganz so, als wüsste es, dass hier die Frau war, die sein Leben gerettet hatte.

„Ich spüre, Sie belastet etwas, Mabel“, hatte Victor Daniels gesagt. „Haben Sie Ärger mit Lady Abigail?“

Da war es aus Mabel einfach herausgeplatzt. Es war wie eine Befreiung, endlich jemandem alles erzählen zu können, besonders, da Victor ihr aufmerksam zuhörte und sie kein einziges Mal unterbrach. Seine Reaktion, als sie geendet hatte, sprach Bände.

„Ich gehe jetzt besser“, sagte Mabel und setzte die Katze, die sie die ganze Zeit über auf dem Arm gehalten hatte, auf den Boden. Sofort umtänzelte das Tier ihre Beine und drückte sich an sie, dabei war es darauf bedacht, mit seinem gedrahteten Mäulchen nicht gegen etwas zu stoßen. Tiere lernen schnell, viel schneller als Menschen, darin hatte Victor recht.

„Lucky liebt Sie“, bemerkte Victor und schmunzelte. „Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als sie zu behalten, wenn sie wieder gesund ist.“

„Eine Katze auf Higher Barton?“ Mabel schüttelte den Kopf. Obwohl das Haus groß genug war, konnte sie sich nicht vorstellen, dass Abigail von einem Haustier begeistert sein würde. Vielleicht konnte sie Lucky in den Pferdeställen unterbringen? Dort gab es jede Menge Mäuse zum Jagen, und eine stark befahrene Straße war weit entfernt.

„Ich werde es mir überlegen.“

Er nickte zufrieden. „Noch zehn, höchstens vierzehn Tage, dann werde ich den Draht entfernen und unsere kleine Dame kann wieder ins freie Leben entlassen werden.“

Mabel merkte, wie Victor durch das Gespräch über die Katze von ihrem eigentlichen Thema ablenkte, daher sagte sie: „Am besten vergessen Sie, was ich Ihnen erzählt habe.“

„Das werde ich nicht, Mabel, denn ich denke, an der Sache könnte etwas dran sein.“

„Meinen Sie das ehrlich?“ Mabel sah ihn erstaunt an. „Sie glauben also nicht, ich leide an Halluzinationen oder gar Wahnvorstellungen?“

„Keineswegs.“ Ernst schüttelte Victor den Kopf. „Die Frage ist nur: Wenn alles stimmt, was Sie über diese Sarah Miller herausgefunden haben, wo ist die Verbindung nach Higher Barton? Ich kenne Lady Abigail zwar seit Jahrzehnten, aber nur als Frau meines Schachpartners. Lediglich bei gemeinsamen Abendessen haben wir uns unterhalten.“

„Und das waren gewiss nicht viele Worte“, warf Mabel ein, die sich an das Abendessen erinnerte, bei dem Victor außer zum Essen kaum den Mund aufgemacht hatte.

„Nun, ich halte es für Luftverschwendung zu reden, wenn es nichts zu sagen gibt.“ Jetzt schlug Victor wieder seinen brummigen Ton an, und Mabel musste schmunzeln. „Was wollen Sie jetzt machen?“

„Was meinen Sie?“, fragte Mabel.

„Na, wie wollen Sie in Sachen Sarah Miller vorgehen? Haben Sie schon einen Plan?“

Mabel musterte Victor eindringlich. Sein Blick war frei von Spott, es schien ihn wirklich zu interessieren, was sie jetzt unternehmen wollte. Sie zuckte mit den Schultern.

„Ich habe keinen Plan, denn – wie Sie richtig bemerkten – ich bin nicht Miss Marple und habe auch keine Ambitionen, in ihre Fußstapfen zu treten.“

Victor senkte den Kopf, er schien zu überlegen, dann sagte er leise: „Es wäre vielleicht eine gute Idee, gemeinsam nach Bristol zu fahren. Sie haben sich die Adresse, an die Rachel ihren Brief gerichtet hat, notiert, ja?“

„Gemeinsam?“ Mabel meinte, sich verhört zu haben, Victor nickte jedoch.

„Natürlich können Sie auch allein fahren, ich dachte nur, Sie würden sich über meine Begleitung freuen. Ist doch ein ganzes Stück nach Bristol hoch.“

In Mabels Kopf schwirrte es wie in einem Bienenstock.

„Sie glauben mir also wirklich und möchten mir helfen, die Spur von Sarah Miller zu verfolgen?“

„Sag’ ich doch“, brummte Victor. „Allerdings kann ich übers Wochenende nicht weg. Notdienst, Sie verstehen? Am Montag kann ich meine Praxis aber ruhig mal für einen Tag schließen, dann können wir fahren.“

Für einen Moment schloss Mabel die Augen und atmete tief ein und aus. Victor hatte recht. Auch wenn sie überzeugt war, Sarah Miller nicht in Bristol zu finden, denn das Mädchen war schließlich tot, könnte es sie weiterbringen, wenn sie das Umfeld, in dem sie gelebt hatte, aufsuchte. Sicher gab es Nachbarn oder Freunde, die ihr sagen konnten, was Sarah veranlasst hatte, nach Lower Barton zu kommen. Vielleicht würden sie in Bristol auch auf Eltern oder Geschwister treffen, die inzwischen in Sorge waren. Hier im Ort hatte niemand eine Vermisstenanzeige aufgegeben, denn das konnten nur Verwandte machen. Sarah Miller war immerhin eine erwachsene Frau, die kommen und gehen konnte, wie und wann sie wollte. Mabel konnte sich die Reaktion des Chefinspektors lebhaft vorstellen, wenn sie versuchen würde, Sarah als vermisst zu melden.

„Ich hätte da allerdings eine Bedingung.“ Victor riss Mabel aus ihren Gedanken.

„Aha“, sagte sie nur und ihre anfängliche Erleichterung darüber, dass Victor ihr zur Seite stehen wollte, erhielt einen Dämpfer.

„Nun, sagen wir mal, eher eine Bitte als eine Bedingung“, räumte er ein, als er ihren abweisenden Gesichtsausdruck sah. Mit einer Hand machte er eine raumgreifende Bewegung. „Sie sehen ja, hier fehlt es an einer Haushälterin. Sie könnten mir behilflich sein, eine kompetente und vor allen Dingen zuverlässige Frau zu finden.“

Mabel atmete erleichtert aus. In der Tat war es dringend nötig, dass sich Victors Haushalt eine weibliche Hand annahm. Kurz überlegte sie, selbst ihre Hilfe anzubieten, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Nicht dass Hausarbeit ihr etwas ausgemacht hätte, aber sie spürte, ihr Verhältnis zu Victor, das zunehmend besser wurde, könnte es trüben, wenn sie für ihn arbeitete. Außerdem mochte Mabel sich Abigails Entsetzen nicht vorstellen, wenn sie ihr sagte, sie ginge dem Tierarzt zur Hand.

„Bei der Arbeitsvermittlung haben Sie nachgefragt?“

„Ja.“ Victor runzelte die Stirn. „Wenn die aber nur meinen Namen hören, winken sie schon ab.“

„Tja, offenbar eilt Ihnen Ihr Ruf voraus“, erwiderte Mabel und lachte. „Ich sagte Ihnen bereits, einer Haushälterin gegenüber müssen Sie etwas … kooperativer sein, wenn sie möchten, dass diese längerfristig bei Ihnen bleibt.“

„Vielleicht haben Sie recht, Mabel.“ Victor seufzte. „Hab’ es nur nicht so gern, wenn jemand in meinen Sachen rumschnüffelt.“

Das konnte Mabel zwar verstehen, wenn man allerdings seinen Haushalt allein nicht schaffte, dann war es nun mal nicht zu vermeiden, mit einer Fremden einen Teil seiner Privatsphäre zu teilen.

„Am besten inserieren Sie in der Tageszeitung“, sagte Mabel. „Wenn die Damen sich vorstellen, bin ich gerne bereit, einen Blick auf sie zu werfen.“

Er nickte. „Werd’s mir überlegen. Dachte, Sie wüssten vielleicht jemanden …“

„Ich?“ Mabel lachte. „Ich bin gerade mal eine Woche in Lower Barton und kenne kaum jemanden.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Ich sollte jetzt aber gehen, Victor.“

Es war bereits neun Uhr, als Victor Mabel zum Supermarkt fuhr, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Mabel wusste, Abigail würde sie mit vorwurfsvoller Miene begrüßen, und überlegte sich eine Ausrede, was sie so lange in Lower Barton festgehalten hatte. Sie entschloss sich zur Wahrheit, nun ja, zur Halbwahrheit und würde sagen, sie hatte nach der verletzten Katze gesehen und sich dabei mit Victor Daniels verplaudert. Das war ja nicht direkt geschwindelt, über den Inhalt ihrer Unterhaltung musste Mabel ihrer Cousine nichts preisgeben.

Als Mabel aus Victors Jeep steigen wollte, bemerkte sie Rachel Wilmington, die den Supermarkt schwer beladen verließ. In beiden Händen trug sie die fast durchsichtigen hellgelben Tüten mit dem schwarzen Logo von Morrisons. Auch Victor hatte das Mädchen bemerkt.

„Musste wieder Bier für den Vater holen“, sagte er leise, denn die Verpackungen eines billigen Bieres schimmerten durch die Tüten.

Kurz entschlossen ging Mabel auf Rachel zu. Das Mädchen erschrak, als Mabel plötzlich vor ihr stand.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“, fragte Mabel freundlich und deutete auf die Plastiktüten. „Du hast schwer zu tragen, und mein Auto steht gleich da drüben.“

Rachel zögerte. Die Bierflaschen waren wirklich schwer, sie war so unendlich müde und ihre kaputte Hüfte schmerzte. Andererseits fühlte sie in Mabels Gegenwart stets eine leichte Beklemmung, denn die Frau ließ nichts unversucht, sie über Sarah auszufragen. Rachel befürchtete, früher oder später etwas zu sagen, was nicht gut für sie war. Weder für sie noch für Sarah, denn das war ihrer beider Geheimnis, und sie hatte Sarah schwören müssen, niemandem auch nur ein Wort zu verraten. Für sie selbst hätte es ebenfalls furchtbare Konsequenzen, wenn die alte Frau etwas aufdecken würde. Beim Gedanken daran konnte Rachel die Faust ihres Vaters regelrecht in ihrem Gesicht spüren. Daher sagte sie: „Danke, das ist nicht nötig. Ich mache gerne einen Abendspaziergang.“

„Bist du sicher?“ Mabel sah Rachel aufmerksam an.

„Ganz sicher“, entgegnete das Mädchen etwas schnippisch. „Ich mag zwar hinken, dennoch bin ich kein Krüppel, den man durch die Gegend kutschieren muss.“

„Ich wollte dich nicht beleidigen.“

„Lassen Sie mich einfach in Ruhe, ja?“, entgegnete Rachel und ließ Mabel stehen.

Sie sah dem Mädchen nach, als es langsam und leicht gebeugt, als trüge es eine weitaus schwerere Last als die Bierflaschen, davonging. Instinktiv spürte Mabel, dass der Schlüssel zur Lösung des Rätsels – die Ermordung Sarah Millers – bei Rachel Wilmington lag.