23

Über dem Land hing dichter, feuchter Nebel und für Ende Mai war es empfindlich kalt, als Mabel kurz vor fünf in der Früh aus dem Haus schlich. Sie benutzte die Hintertür, deren Schlüssel in einer Küchenschublade aufbewahrt wurde – die Schlüssel für das in der Nacht verschlossene Hauptportal besaßen nur Abigail und die Penroses. Victor erwartete sie schon, als sie die untere Gartenpforte erreichte – denselben Eingang, den sie benutzt hatte, als sie an dem verhängnisvollen Sonntagmorgen nach Higher Barton gekommen war. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie den Tierarzt sah, denn er trug bereits den Taucheranzug.

„Steht Ihnen gut, wäre vielleicht eine Alternative zu Ihrer alten Cordjacke“, sagte sie.

„Was haben Sie gegen meine Jacke?“, brummte Victor. „Sie ist warm und praktisch.“ Er deutete auf den Kofferraum. „Würden Sie mir mit den Flaschen bitte behilflich sein?“

Gemeinsam hievten sie zwei Sauerstoffflaschen und ein Paar Schwimmflossen aus dem Wagen, dann gingen sie durch den verwilderten Garten zum See. Victor, der nie zuvor in diesem Teil des Parks gewesen war, stieß einen leisen Pfiff aus, als sie den See erreichten. Auch zwischen den Bäumen war der Nebel so dicht, dass das andere Ufer nur vage zu erkennen war, obwohl der See keine fünfzig Meter breit war.

„Ein idealer Platz, um jemanden verschwinden zu lassen, und nicht weit vom Herrenhaus entfernt“, bemerkte Victor.

Mabel nickte. „Hoffen wir, dass es nicht nur eine fixe Idee von mir ist. Victor …“ Sie trat neben ihn. „Wollen Sie wirklich da runter? Ich meine, es ist doch nicht gefährlich, oder?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Jeder Tauchgang birgt eine gewisse Gefahr. Wenn wir herausfinden wollen, ob die sterblichen Überreste der armen Sarah tatsächlich in dem See liegen, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.“

Er zog sich die Schuhe aus, schlüpfte in die Flossen, zog dann die Haube über den Kopf, setzte die Taucherbrille auf und überprüfte das Mundstück. Mit Daumen und Zeigefinger bildete er einen Kreis, das Zeichen unter Tauchern, dass alles okay war, dann stapfte er ins Wasser. Fröstelnd zog Mabel den Mantel um sich. Die Kälte, die sie frieren ließ, kam nicht allein vom Nebel. Sie war derart nervös, ob und was Victor in dem See finden würde, dass sie vor gespannter Erwartung am ganzen Körper zitterte. Nach wenigen Sekunden war Victor verschwunden, lediglich ein paar zur Wasseroberfläche steigende Luftblasen wiesen noch auf ihn hin, die gleich darauf verschwanden. Ruhelos ging Mabel auf und ab. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Victor unten bleiben konnte, die Zeit schien sich wie Kaugummi zu ziehen. Endlich stiegen wieder Luftblasen auf, das Wasser teilte sich und Victors Kopf erschien über Wasser. Als er festen Grund unter den Füßen hatte, schob er die Taucherbrille hoch, und bevor er etwas sagen konnte, erkannte Mabel an seinem Blick, dass ihre Vermutung richtig gewesen war.

„Sie sieht furchtbar aus.“ Victor schüttelte sich, seine Wangen waren blass. „Auch wenn meine Patienten Tiere sind, habe ich es regelmäßig mit toten Körpern zu tun, der Anblick einer Wasserleiche ist aber mit das Schrecklichste, was es gibt.“

„Es ist Sarah Miller?“, fragte Mabel zur Sicherheit.

„Ich nehme es an, ihre Gesichtszüge sind kaum noch zu erkennen, die Kleidung zum Teil aber noch erhalten. Es könnte durchaus ein historisches Kostüm sein. Jetzt können wir die Polizei rufen.“ Er grinste, als er hinzufügte: „Wir bleiben solange hier und passen auf, damit die Leiche nicht wieder entwendet wird.“

„Wo haben Sie Ihr Handy?“, fragte Mabel.

„Im Auto, haben Sie Ihres nicht dabei?“

„Das wurde bei meinem Unfall zerstört“, sagte Mabel und seufzte. „Dann werde ich wohl ins Haus gehen und von dort aus telefonieren müssen.“

„Ja, machen Sie das, aber schnell.“ Victor watete aus dem Wasser. „Passen Sie auf, damit Sie niemand sieht, und sagen Sie Warden am besten nichts von der Toten, sonst glaubt er Ihnen wieder nicht. Auch für den Fall, dass sie belauscht werden, ist es wohl besser, nicht zu konkret zu werden. Am besten sagen Sie, Sie hätten bezüglich Ihres Unfalls eine wichtige Aussage zu machen, könnten aber nicht zum Revier kommen.“

Mabel nickte. „Ich werde mich beeilen.“

„Niemand wird irgendwo hingehen.“

Erschrocken fuhr Mabel herum, aus den Augenwinkeln sah sie, wie Victor erstarrte. Keiner der beiden hatte bemerkt, dass sie nicht mehr allein waren. Keine zwei Meter vor ihnen stand Justin Parker, in seiner Hand ein Gewehr, dessen Lauf direkt auf Mabels Brust gerichtet war.

„Justin!“ Mabel keuchte und ihre Augen weiteten sich entsetzt.

„Kommen Sie aus dem Wasser.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Victor, und als dieser am Ufer stand, packte Justin Mabel mit der freien Hand und schubste sie zu Victor hinüber. „Hinsetzen. Alle beide.“

Mabel und Victor gehorchten und setzten sich auf dem feuchten Boden.

„Warum, Justin?“, fragte Mabel. „Was haben Sie mit Sarah Miller zu tun?“

„Sie haben sie also gefunden.“ Er lachte bitter. „Ich wusste gleich, der See ist nicht das perfekte Versteck. Mir blieb aber keine Zeit, Sie haben ja gleich die Polizei gerufen.“

„Warum haben Sie das getan?“, wiederholte Mabel, hielt dabei ihren Blick auf den Gewehrlauf gerichtet, der nach wie vor direkt auf ihre Brust zielte.

„Ja, das würde mich auch interessieren.“ Victors Stimme klang ganz ruhig, fast so, als würden er und Justin sich im Pub bei einem Glas Bier über die neusten Fußballergebnisse unterhalten.

„Ich glaube, ich weiß es“, sagte Mabel leise, denn plötzlich setzen sich alle Mosaikteilchen zusammen und ergaben ein klares Bild. Obwohl der Lauf des Gewehrs auf sie gerichtet war, sah sie Justin Parker fest in die Augen. „Sie wollten meine Cousine beerben, nicht wahr? Plötzlich tritt jedoch Sarah Miller in Erscheinung und sie sahen Ihre Felle davon schwimmen. Aber woher …?“ Wie Schuppen fiel es Mabel von den Augen, als sie sich an die Fremde des vergangenen Abends erinnerte. „Die Sekretärin von Trengove! Natürlich!“

„Was meinen Sie damit?“, fragte Victor, der Parker nicht aus den Augen ließ.

„Justin Parker hat ein Verhältnis zu Miss Thompson, der Mitarbeiterin von Alan Trengove“, erklärte Mabel. „Ich habe sie gestern Abend hier auf Higher Barton gesehen, sie aber nicht gleich erkannt.“

„Hören Sie auf zu quatschen!“ Energisch unterbrach Parker das Gespräch. „Ich werde Sie jetzt erschießen müssen, das ist Ihnen doch klar, oder?“ Er sah von Mabel zu Victor, dabei waren seine sonst so hübschen Augen kalt wie Eis. „Warum mussten Sie sich einmischen und überall herumstochern? Hab’ eigentlich nichts gegen Sie, Mabel. Nun, gleich werden Sie sich den Platz mit Sarah teilen, und wenn Higher Barton mir gehört, werde ich den See zuschütten lassen.“

Mabels versuchte, ruhig zu atmen, das Gefühl von Angst und Panik konnte sie aber kaum noch verbergen.

„Durch ihre Geliebte haben Sie herausgefunden, dass Sarah Miller einen Anspruch auf den Besitz hat und haben Sie ermordet.“

Justin Parker hob er das Gewehr, und Mabel hörte das Klicken, als er die Waffe entsicherte.

„Hilfe! So helft uns doch!“, schrie sie so laut sie konnte, und Justin verpasste ihr einen derben Schlag mit dem Gewehrkolben. Mabel dachte, ihr Schädel würde in zwei Teile gespalten.

„Halt’s Maul“, zischte Parker. „Hat eh keinen Sinn zu schreien, es wird euch niemand hören. Der lieben Abigail habe ich ein Schlafmittel verabreicht, die wird vor Mittag nicht aufwachen, und der See ist viel zu weit vom Cottage meiner Tante entfernt.“

Halb benommen lehnte Mabel an Victors Schulter. Ihr Kopf schmerzte unsäglich und sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, darum fragte Victor bass erstaunt: „Ihrer Tante? Emma Penrose ist Ihre Tante?“

„Überrascht?“ Parker grinste höhnisch. „Sie hat mir den Tipp gegeben, mich hier als Chauffeur zu bewerben.“

„Dann weiß sie, dass Sie und Abigail …“ Mabel brachte die Worte nur mühsam über ihre Lippen. „Es war alles geplant?“

„Nee, anfangs nicht, Tantchen meinte nur, es wäre eine leichte und gut bezahlte Stellung. Wir dachten aber, es ist besser, wenn Abigail nichts von unserer Verwandtschaft weiß, und dann fiel mir Ihre liebe Cousine wie eine reife Pflaume in die Arme. Wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis alles hier mir gehört hätte.“

„Sie irren sich, Justin“, sagte Mabel unter größter Anstrengung. „Sie hätten niemals etwas geerbt, Abigail hat ihr Testament zwar aufgesetzt, allerdings hat sie mich als Erbin eingetragen.“

„Sie?“ In Justins Augen flammte Zorn auf. „Warum hätte sie das tun sollen? Sie sind doch älter als Abigail!“

„Wahrscheinlich hat sie geahnt, dass Sie von Ihnen betrogen und hintergangen wird“, warf Victor ein. „Lady Tremaine mag zwar was ihre Gefühlswelt angeht etwas verwirrt sein, sonst ist sie aber eine äußerst intelligente Dame.“

Erneut spuckte Parker aus und erwiderte verächtlich: „Dann habe ich diese alte Schachtel also ganz umsonst gefickt.“ Mabel zuckte bei dem derben Wort zusammen. „Hab’ ganz umsonst immer und immer wieder diese faltige, welke Haut und die schlaffen Brüste ertragen müssen. Du meine Güte, dabei meint Abigail Wunder weiß wie attraktiv zu sein, dabei ist sie nur ein altes und verbrauchtes Weib, da helfen auch keine Schönheitsoperationen und Kosmetikstudios mehr. Hab’ mich ganz schön überwinden müssen, monatelang so zu tun, als würde ich sie begehrenswert finden.“ Er lachte und seine Stimme war voller Verachtung, als er fortfuhr: „Nun, im Dunkeln sind alle Weiber gleich, oder? Musste mir halt vorstellen, etwas Junges und Knackiges unter meinen Hüften zu haben.“

„Sie sind ein Schwein, Parker“, sagte Victor verächtlich.

Justin zuckte mit den Schultern, in seine Augen trat ein mörderischer Ausdruck.

„Genug gequatscht. Ich muss mich jetzt von Ihnen beiden verabschieden.“

Er hob das Gewehr, Mabel hörte ein Klicken und schloss die Augen. Den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, ob das Eindringen der Kugel in ihren Körper schmerzte und ob Justin ein guter Schütze war, damit der Tod gleich einträte. Ein lauter Knall ertönte, gleich darauf ein Schrei und Mabel wartete auf den Schmerz, der jedoch ausblieb. Er hat Victor erschossen, dachte sie entsetzt, dann hörte sie eine fremde, männliche Stimme, die laut rief: „Waffe weg! Sofort!“

Sie öffnete die Augen und sah, wie sich ein junger Sergeant auf Justin stürzte, der das Gewehr hatte fallen lassen und aus einer Wunde am Oberarm blutete. Eine Sekunde später brach Chefinspektor Warden aus dem Gebüsch, in den Händen eine Pistole, und riss Justin die Hände auf den Rücken, ungeachtet, dass dieser vor Schmerz aufschrie. Nachdem er Parker Handschellen angelegt hatte, drehte Warden sich zu Mabel und Victor um.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Miss Clarence ist verletzt“, antwortete Victor, und Warden gab dem Sergeant die Anweisung, einen Krankenwagen zu rufen.

„Und fordern Sie Verstärkung an, damit wir diesen Herrn hier abtransportieren. Und Sie …“ Er blickte zu Justin, der vor Schmerzen laut stöhnte, „machen nicht so ein Theater, es ist nur ein Streifschuss. Ihr Opfer hat wahrscheinlich mehr leiden müssen.“

Mit Victors Hilfe stand Mabel langsam auf, der Boden schwankte jedoch unter ihren Füßen.

„Woher wussten Sie?“ Fragend sah sie den Chefinspektor an, und Victor deutete auf den See und ergänzte: „Da unten werden Sie eine Leiche finden, Warden. Es handelt sich um Sarah Miller, die seit einiger Zeit verschwunden ist, und deren Leiche Miss Clarence in der Bibliothek des Herrenhauses gefunden hat.“

„Es scheint wohl so.“ Mit gerunzelter Stirn sah Warden zu Mabel, er wirkte ein wenig zerknirscht. „Ich weiß noch nicht genau, was hier vor sich geht, bin aber bereit, mir Ihre Aussagen anzuhören.“

„Endlich!“ Mabel schloss die Augen und nickte. „Woher wussten Sie eigentlich, dass wir hier draußen sind?“

„Das ist eine längere Geschichte“, antwortete Warden. „Wir werden Sie jetzt erst mal ins Hospital bringen und dann alles Weitere klären.“

Wenige Meter von ihnen entfernt knackte es im Unterholz und Mabel, obwohl nun in Sicherheit, fuhr mit einem Schrei herum. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen, als Abigail zwischen den Büschen auftauchte, die Gesichtszüge starr wie Stein, und jegliche Farbe war aus ihrem Teint gewichen.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte Mabel, wusste die Antwort aber bereits, bevor Abigail antwortete.

„Lange genug. Ich wünschte, ich hätte eine Waffe, dann hätte ich ihn eigenhändig erschossen.“ Jedes Wort schien Abigail eine Qual zu sein, und Sergeant Bourke, der zwar nicht wusste, was genau vor sich ging, nahm stützend ihren Arm.

Sie mussten nur wenige Minuten warten, bis die Sirenen des Krankenwagens und weiterer Polizeiautos erklangen und – da die Wagen nicht bis an den See heranfahren konnten – drei Sanitäter und vier Beamte durch den Wald kamen. Als einer der Sanitäter Mabel am Arm fasste und sie zum Wagen führen wollte, knickten Mabels Beine plötzlich ein, als wären sie aus Pudding, und vor ihren Augen wurde alles schwarz. Der Sanitäter konnte sie gerade noch auffangen, sonst wäre sie zu Boden gestürzt. Mabel Clarence war zum ersten Mal in ihrem Leben ohnmächtig geworden.

Mabel und Abigail wurden ins Krankenhaus nach Liskeard gebracht, denn Abigail stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Dieses Mal bestand Mabel nicht darauf, das Hospital sofort wieder zu verlassen, denn sie litt unter starken Kopfschmerzen. Die leichte Gehirnerschütterung, die sie bei dem Autounfall erlitten hatte, war noch nicht ausgeheilt, und Justins Schlag mit dem Gewehrkolben hatte ihr eine zusätzliche kinderfaustgroße Beule beschert.

„Victor!“ Mabels Augen leuchten, als der Tierarzt das Krankenzimmer betrat. „Geht es Ihnen gut?“

Er lächelte. „Das fragen ausgerechnet Sie? Mir ist nichts geschehen. Ich war bis eben auf dem Präsidium und habe alles zu Protokoll gegeben. Chefinspektor Warden möchte auch mit Ihnen sprechen, ich hab’ ihm aber gesagt, Sie brauchen erst mal ein paar Tage Ruhe.“

„Was ist mit Abigail?“, fragte Mabel.

„Man hat ihr eine Spritze gegeben, sie schläft jetzt.“ Victors Augen verengten sich und zornig ballte er die Hände zu Fäusten. „Wie furchtbar, dass Ihre Cousine alles mit anhören musste. Ich könnte den Typ eigenhändig erwürgen.“

„Na, na, Victor.“ Mabel schüttelte lächelnd den Kopf. „Von Morden habe ich die Nase voll, wie es so schön heißt.“

Victor nahm ihre Hand und drückte sie leicht.

„Ich werde jetzt wieder gehen, damit Sie sich ausruhen können. Werden Sie bald wieder gesund, liebe Mabel.“

Für einen Moment glaubte Mabel in seinen Augen einen liebevollen Schimmer zu erkennen, und ihr Herz tat einen Sprung, dann wandte sich Victor zur Tür und verschwand mit einem kurzen „Bis dann“.

Entspannt lehnte sich Mabel in den Kissen zurück. Es war vorbei – der Mörder von Sarah Miller war verhaftet und würde seiner gerechten Strafe zugeführt werden. Mabel war allerdings in Sorge, wie Abigail mit Justin Parkers Verrat umgehen würde. Je älter man wurde, desto schwerer verkraftete man Schicksalsschläge, dachte sie und hoffte, Abigail würde nicht daran zerbrechen.

Am nächsten Vormittag suchte Chefinspektor Warden Mabel im Hospital auf und ließ sich von ihr den genauen Ablauf der Ereignisse am See schildern. Ebenso interessiert hörte er zu, als Mabel von Sarah Miller berichtete, und dass die junge Frau die Tochter von Arthur Tremaine gewesen war.

„Wir haben bereits mit Alan Trengove gesprochen“, sagte Warden. „Doktor Daniels hat uns die Zusammenhänge erklärt, und Miss Thompson, Trengoves Mitarbeiterin, wird derzeit verhört. Sie leugnet, von dem Mord etwas gewusst zu haben. Es wird schwer werden, ihr das Gegenteil zu beweisen. Wegen Verletzung der Schweigepflicht wird auf jeden Fall Anklage erhoben.“

„Parker hat also von seiner Geliebten von Sarahs Anspruch erfahren und den Plan geschmiedet, sie zu ermorden.“

Warden nickte grimmig. „Nicht nur das, Miss Clarence. Er wollte den Mord Ihrer Cousine in die Schuhe schieben.“

„Abigail?“ Mabel richtete sich auf und sah Warden entsetzt an.

„Er plante, dass seine Tante die Leiche ein paar Stunden später entdecken sollte. Irgendwie wollte er es dann so hindrehen, dass der Verdacht auf Lady Tremaine fällt. Durch Ihr unerwartetes Erscheinen, Miss Clarence, musste Parker dann umdisponieren. Er geriet in Panik, schaffte die Leiche hinaus und versenkte sie im See. Damit konnte er zwar nicht mehr Ihre Cousine belasten, die Gefahr, das Erbe, das er hoffte zu erhalten, zu verlieren, schien jedoch gebannt.“ Warden grinste. „Parker konnte ja nicht ahnen, dass Lady Tremaine ihr Testament längst zu Ihren Gunsten aufgesetzt hatte.“

Mabel nickte, hatte aber noch eine Frage: „War Emma Penrose in den Plan eingeweiht?“

Der Chefinspektor zuckte mir den Schultern. „Parker und Mrs Penrose leugnen es übereinstimmend. Wir müssen erst noch ermitteln, es wird jedoch schwer werden, ihr eine Schuld nachzuweisen. Sie hat allerdings zugegeben, ihren Neffen über Ihr Telefonat mit dem Anwalt, das sie belauscht hat, zu informieren. Sie wusste, dass Parker und Miss Thompson eine Affäre haben und befürchtete, Sie, Miss Clarence, hätten es herausgefunden und würden es Ihrer Cousine mitteilen.“

Mabel erinnerte sich, wie sie von der Halle aus das erste Mal Trengove anrief.

„Vielleicht hatte sie wirklich keine Ahnung, welchen Stein sie damit ins Rollen brachte“, sagte Mabel und seufzte. „Erst ab dem Moment wurde Parker auf mich aufmerksam und musste befürchten, dass ich ihm auf die Schliche käme.“

„Er hat ein umfassendes Geständnis abgelegt“, fuhr Warden fort. „Er hofft offenbar auf eine geringere Strafe, wenn er zugibt, was ohnehin nicht mehr zu widerlegen ist. Ich hoffe jedoch nicht, dass ein Richter mildernde Umstände gelten lässt, denn außer dem kaltblütigen Mord an Sarah Miller kommen noch die Mordanschläge auf Sie und Michael Hampton hinzu.“ Warden hob die Hände und zuckte die Schultern. „Das alles liegt nun in den Händen des Gerichts, wir haben unsere Arbeit getan.“

Von Warden erfuhr Mabel noch weitere interessante Einzelheiten. Nachdem Sarah Miller durch Alan Trengove über ihren leiblichen Vater und ihr Erbe informiert worden war, reiste sie nach Lower Barton, suchte Abigail aber nicht sofort auf. Zuerst wollte sie sich ein Bild von Higher Barton machen. Offenbar genoss Sarah die Gewissheit, bald die Hälfte dieses Besitzes ihr Eigen nennen zu können, außerdem machte ihr die Rolle in dem Theaterstück großen Spaß, und sie verliebte sich in Rachel Wilmington. Justin Parker, der von Kate Thompson über die junge Erbin informiert wurde, suchte Sarah in Lower Barton auf. Zuerst versuchte er, Sarah mit seinem Charme zu umgarnen, stieß dabei aber auf Granit, ohne zu ahnen, dass Sarah sich nichts aus Männern machte. Sie ließ sich von Justin jedoch überzeugen, den Zeitpunkt, bis sie Abigail mit der Wahrheit konfrontierte, noch etwas hinauszuzögern. Mabel verstand es zwar nicht, Sarah schien es jedoch einen gewissen Kick gegeben zu haben, Abigail noch einige Zeit in Sicherheit zu wiegen. Außerdem hatte Justin ausgesagt, Sarah hätte erst das Stück zu Ende bringen wollen, denn – wenn es vorher bekannt geworden wäre, dass sie die Tochter von Arthur Tremaine war – hätte sie die Rolle der Mary Lerrick sicherlich nicht mehr spielen können.

„Der Skandal in Lower Barton wäre unbeschreiblich gewesen“, bemerkte Warden mit einem Lächeln. „Ich kann die junge Frau sogar verstehen. Vorfreude ist manchmal die schönste Freude. Es ist wie bei der Planung eines Traumurlaubs: Monatelang bereitet man ihn vor und eigentlich möchte man den Zeitpunkt der Abreise hinauszögern, um sich noch länger freuen zu können. Von Trengove erhielt Sarah genügend Geld, um unbeschwert in Lower Barton leben zu können.“

Mabel war über Wardens freundliche Worte überrascht, und sie fand ihn plötzlich gar nicht mehr so unsympathisch. Er berichtete weitere Details aus Parkers Aussage:

Es gelang Parker, Sarah zu überreden, sich mit ihm am Abend von Abigails Geburtstagsfeier zu treffen, und er meinte, es wäre doch die passende Gelegenheit, um ihren Anspruch geltend zu machen. Je dramatischer, desto besser. Er holte Sarah von der Theaterprobe ab, die an diesem Abend erstmalig in den historischen Kostümen stattfand, und brachte sie nach Higher Barton, aber nicht, um sie Abigail vorzustellen, sondern um sie zu ermorden. Sarah ging zuerst in Parkers Wohnung, wo er sie mit K.o.-Tropfen betäubte, später brachte er die Bewusstlose in die Bibliothek und erdrosselte sie dort. Parker fand es wohl lustig, dass die Schauspielerin auf die gleiche Art starb wie einst Mary Lerrick.

Michael Hampton war Sarah an diesem Abend nach Higher Barton gefolgt und glaubte, der Chauffeur und Sarah hätten eine Affäre, woraufhin er Justin zur Rede stellte, besonders da Sarah seit diesem Abend verschwunden war.

„Somit beschloss Parker, Hampton ebenfalls zu töten“, vollendete Warden seinen Bericht. „Der junge Mann kann von Glück sagen, dass er überlebt hat, wie Sie übrigens auch, Miss Clarence.“

Mabel nickte und fragte: „Was ist mit Emma Penrose?“

„Als sie erfuhr, was ihr Neffe getan hat, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Sie und ihr Mann behaupten, nichts von Sarah Miller und deren Anspruch auf das Erbe gewusst zu haben. Emma Penrose habe einzig und allein Parker nach Higher Barton geholt, weil sie sich um ihren Neffen sorgte, der bis dahin ein unstetes Leben geführt und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten hatte. Sobald es ihr besser geht, werden wir sie ausführlich verhören, ich persönlich schenke ihr allerdings Glauben, dass sie in Parkers teuflischen Plan nicht eingeweiht war. Sie sorgte sich vermutlich lediglich um das Wohlergehen ihres Neffen.“

„Sie wollten mir noch sagen, warum Sie gestern Morgen im Park waren“, erinnerte Mabel den Chefinspektor. „Zwei Tage zuvor hatte ich nicht den Eindruck, Sie würden auch nur ein Wort von dem, was ich sage, glauben.“

„Es tut mir leid.“ Warden wirkte ernstlich zerknirscht und wich Mabels Blick aus. „Als ich in dem Bericht der Kriminaltechnik gelesen habe, jemand hätte die Bremsen an Ihrem Wagen angeschnitten, spürte ich, dass Sie sich in Gefahr befinden. Ich hatte ohnehin vor, Sie am Vormittag aufzusuchen, dann rief allerdings Lady Tremaine am frühen Morgen im Präsidium an, und man holte mich aus dem Bett. Ihre Cousine gab an, sie hätte gesehen, wie Sie sich im Morgengrauen aus dem Haus schlichen. Kurze Zeit später beobachtete sie Justin, wie er ein Gewehr aus dem Waffenschrank entwendete und denselben Weg wie Sie zuvor einschlug. Sie war in großer Sorge um Sie, Miss Clarence.“

„Parker sagte doch, er habe Abigail ein Schlafmittel gegeben“, wandte Mabel ein.

„Lady Tremaine hat den Wein nicht getrunken, den Parker ihr gebracht hat. Sie wusste seit einigen Tagen von dessen Verhältnis mit Kate Thompson und hat Parker deswegen misstraut.“ Warden stand auf und seufzte. „Den Rest soll Ihre Cousine Ihnen erzählen, Miss Clarence. Wenn man es genau betrachtet, hat Lady Tremaine Ihnen das Leben gerettet.“

Nachdem der Chefinspektor gegangen war, sank Mabel mit einem befreienden Seufzer in die Kissen zurück. Die Erleichterung und Freude darüber, dass Abigail mit dem Mord und den ganzen schrecklichen Ereignissen nichts zu tun hatte, durchflutete Mabel wie eine warme Welle. Abigail war ihre einzige noch lebende Verwandte – Mabel hätte es nicht verkraftet, wenn sie eine Mörderin wäre.