12

Mabel war ebenso wenig wie Victor Daniels jemals zuvor in Bristol gewesen. Dank des Navigationssystems, mit dem Victors Jeep ausgerüstet war, hatte der Tierarzt keine Bedenken, die Adresse von Sarah Miller zu finden.

„Hab’ mich früher gegen so neumodische Dinge gewehrt“, brummte Victor, während er die Zieladresse in das Gerät eingab. „Dachte, brauch’ so ein Ding nicht, kenne mich in Cornwall eh bestens aus. War aber schon manchmal dankbar dafür – manche Farmen liegen ganz schön versteckt.“

Mabel lächelte still in sich hinein und dachte, wenn sie ein Navigationssystem und ein Handy besäße, dann wäre es ihr erspart geblieben, erst im Morgengrauen auf Higher Barton anzukommen und über eine Leiche in der Bibliothek zu stolpern. Nein, wenn Mabel sich nicht verfahren hätte und liegengeblieben wäre, wäre sie an Abigails Geburtstag pünktlich angekommen, hätte an deren Fest teilgenommen und den Mord vielleicht sogar verhindern können.

„Victor“, sagte sie und legte eine Hand auf seinen Arm, „wären Sie mir beim Kauf eines Handys behilflich?“

Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.

„Sie haben keines?“, fragte er erstaunt.

„Ich hielt es bisher nicht für erforderlich. Bisher waren mir solche technischen Geräte etwas suspekt ebenso wie Ihnen, jetzt erkenne ich jedoch die Notwendigkeit, mich der modernen Kommunikationswelt zu öffnen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir helfen könnten. Wenn ich in ein Geschäft gehe und mir von einem Jungspund erst alles erklären lassen muss …“

Victor verstand und schmunzelte.

„Machen wir, wenn wir heute Abend zurück sind, ja?“

Mabel nickte, lehnte sich zurück und begann die Fahrt zu genießen, wenngleich sie nicht wusste, was sie am Ziel erwarten würde. Wie hatte Sarah gelebt? Noch bei ihren Eltern, die sie doch inzwischen vermissen mussten, oder in einer eigenen Wohnung? Vielleicht lebte sie auch mit einem Mann zusammen, der sich wunderte, wo seine Freundin abgeblieben war. Mabel hoffte, in wenigen Stunden auf die meisten ihrer Fragen Antworten zu erhalten.

Victor nahm die A38, sie erreichten die Grafschaft Devon über die Tamar Bridge bei Saltash, umfuhren Plymouth nördlich und folgten dem Verlauf der vierspurig ausgebauten Straße bis Exeter. Dort wechselte Victor auf die M5, wo reger Verkehr herrschte und sie nur langsam vorankamen. Es war bereits Mittag, als sie die Autobahn verließen und in das Gewirr der Straßen Bristols eintauchten. Mit fast fünfhunderttausend Einwohnern war Bristol die achtgrößte Stadt Englands und noch immer ein bedeutender Handelshafen, wenngleich der Glanz vergangener Zeiten längst verblasst war. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Stadt durch Bombenangriffe schwere Verwüstungen erlitten, bei denen das historische Zentrum vollständig zerstört worden war. Zwar wurden im Zentrum einige alte Gebäude wieder aufgebaut, die Randgebiete Bristols waren jedoch geprägt von Industrieanlagen, Hochhäusern, die Firmen beherbergten, und tristen Wohnvierteln. Die Campbell Street lag nördlich des Zentrums – eine enge Straße, gesäumt von zweistöckigen schlichten Reihenhäusern mit Souterrainwohnungen, meistens mit einem weißen oder grauen Anstrich. Nur wenige Häuser bewiesen Mut zur Farbe und peppten die Tristesse dieser Gegend etwas auf.

Vor dem Haus mit der Nummer sechzehn fand Victor keinen Parkplatz, er konnte den Jeep erst zwei Straßenzüge weiter abstellen. Als Mabel ausstieg, fiel ihr sofort auf, wie anders die Luft in Bristol war. Obwohl die Stadt nicht weit vom Meer entfernt lag, fehlte die frische Brise, die einem in Cornwall stets in die Nase stieg. Vom Haus, in dem Sarah Miller gewohnt hatte – zumindest war Rachels Brief an diese Adresse gerichtet gewesen –, blätterte der Putz ab, die Tür war in dunkelgrauer Farbe gestrichen, die eine Erneuerung nötig hatte, und auf den drei zur Eingangstür hinaufführenden Stufen stand eine schwarze Mülltonne, deren Deckel nicht richtig schloss und aus der es penetrant nach gammligem Fleisch stank. Eine Klingel gab es nicht, darum betätigte Mabel den Türklopfer in Form eines Löwenkopfes.

„Es ist Montag … vielleicht sind alle zur Arbeit und niemand zu Hause“, sagte sie zu Victor. „Wir hätten besser an einem Wochenende kommen sollen.“

Victor schüttelte den Kopf und deutete mit einer Hand die Straße hinunter.

„Die Gegend scheint mir nicht so, als würden hier viele Menschen leben, die Arbeit haben.“

Hinter der Tür regte sich nichts, obwohl Mabel noch ein zweites und ein drittes Mal klopfte. Sie wollte gerade vorschlagen, irgendwo etwas zu essen und es später noch einmal zu versuchen, als sich die Tür im Souterrain öffnete und eine junge Frau mit einer Plastiktüte in der Hand das Haus verließ. Sie hatte kurze, grell orange leuchtende Haare und trug verwaschene Jeans und ein Sweatshirt, das dringend eine Waschmaschine von innen sehen sollte. Sie bemerkte die beiden Besucher, hob den Kopf und rief mit einer tiefen, rauchigen Stimme: „Ich kaufe nichts, Betteln ist verboten und meine Konfession will ich auch nicht wechseln. Überhaupt hab’ ich gar keine Zeit.“

Unwillkürlich musste Mabel lächeln, denn das Mädchen schien nicht auf den Mund gefallen zu sein. Sie hob ihre Hand und sagte: „Wir sind weder Bettler noch wollen wir etwas verkaufen, Miss. Wir sind auf der Suche nach Sarah Miller. Sie wohnt doch hier, oder?“

Die junge Frau knallte die Plastiktüte so heftig auf die unterste Treppenstufe, dass Glas klirrte.

„Was wollen Sie denn von Sarah? Wenn Sie sie sehen, sagen Sie ihr, ich hab’ keinen Bock, die Miete länger allein zu zahlen. Entweder ich krieg’ noch diese Woche ihren Anteil oder ich werfe ihre Sachen auf die Straße und such’ mir jemand anderen.“

Mabels Puls beschleunigte sich – sie waren auf der richtigen Spur!

„Dann hat Sarah Miller bei Ihnen gelebt?“

„Hat sie, und zuerst war auch alles okay. Jetzt hab’ ich aber seit zwei Monaten von ihr keine Miete mehr bekommen, und die Wohnung, oder vielmehr das Loch, das hier als Wohnung bezeichnet wird, ist sauteuer. Kann das nicht allein bezahlen, und Sarah ist weg.“ Sie stieß einen verächtlichen Laut aus. „Ist einfach abgehauen, ohne zu sagen, wann sie wiederkommt, und hat ihr Handy ausgeschaltet. Hat wohl ein schlechtes Gewissen, mich mit der Miete sitzengelassen zu haben.“

Instinktiv tastete Mabel nach Victors Hand und drückte sie. Sie versuchte, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen, als sie freundlich fragte: „Können wir uns vielleicht ein wenig unterhalten? Das heißt, wenn es ihre Zeit zulässt, Miss …?“

„Cooks, Patricia Cooks, aber sagen Sie Pat zu mir, das tun alle.“ Ihr Blick ging zwischen Mabel und Victor hin und her. „Und wer sind Sie? Etwa die Eltern von Sarah oder gar ihre Großeltern? Würd’ mich nicht wundern, wenn Sarah gelogen hätte, als sie erzählte, ihr Vater wäre abgehauen, als sie unterwegs war, ihre Mutter tot, und dass sie sonst keine Verwandten hätte.“

Mabel deutete auf die Tür im Souterrain.

„Können wir hineingehen? Oder möchten Sie lieber essen gehen? Selbstverständlich sind Sie eingeladen, Pat.“

„Nee, ist nicht nötig.“ Pat schüttelte den Kopf. „Kommen Sie ruhig rein, ich glaub’, ich hab’ auch noch irgendwo einen Tee, wenn Sie ’ne Tasse wollen.“

Mabel und Victor traten hinter Pat in einen schmalen Flur, von dem drei Türen abgingen. Pat öffnete die erste auf der rechten Seite, und Mabel hielt unwillkürlich die Luft an. Nie zuvor hatte sie eine solche Unordnung gesehen! Kleidungsstücke – von Jeans und Pullover bis hin zu getragener Unterwäsche – lagen im ganzen Zimmer verstreut, dazwischen stapelten sich leere Pizzakartons und Fish-and-Chips-Schachteln, halbvolle Cola- und Wasserflaschen, und auf dem Tisch quoll der Aschenbecher über. Die Luft war zum Schneiden dick, was Pat offenbar bemerkte, denn sie schob den unteren Teil des einzigen Fensters hoch.

„Bin noch nicht zum Aufräumen gekommen“, murmelte sie. „Hatte gestern ’ne kleine Party hier.“

Mit einer Hand fegte sie ein paar Klamotten und Bücher von dem Sofa, Mabel blieb aber lieber stehen. Auch das Angebot eines Tees lehnte sie ab. Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie die Küche aussah.

„Das ist mein Zimmer“, erklärte Pat, „Sarahs ist gegenüber. Wir haben eine kleine Küche, in der wir uns auch waschen, und ein Klo. Zum Duschen oder Baden müssen wir ins öffentliche Schwimmbad oder wir gehen zu Freunden.“

„Wie lange hat Sarah hier gewohnt?“, fragte Mabel und war froh, dass Pat nicht weiter nachfragte, warum sie und Victor sich nach Sarah erkundigten.

„Weiß nicht“, gab Pat zur Antwort. „Als ich vor sechs Monaten hier einzog, war sie schon da. Sie hatte einen Aushang am Schwarzen Brett in der Uni, dass sie eine Mitbewohnerin suche. Eigentlich verstanden wir uns auf Anhieb, hätte nie gedacht, dass sie dann einfach die Fliege macht.“

„Sarah Miller hat studiert?“, fragte Victor und sprach damit zum ersten Mal.

Pat sah den Tierarzt an und zuckte mit den Schultern.

„Ich glaub’, sie war eingeschrieben, hab’ sie aber nie an der Uni gesehen. Jedenfalls war sie nie da, wenn ich da war. Ich studiere Kunstgeschichte im vierten Semester.“

„Wovon hat Sarah gelebt?“, fragte Mabel. „Ich meine, wie hat sie ihren Lebensunterhalt bestritten?“

„Sie träumte davon, Schauspielerin zu werden.“ Pat lachte spöttisch. „Sie hatte aber keine Kohle, um auf die Schauspielschule zu gehen. Manchmal bekam sie aber ’ne kleine Rolle, hat auch mal in einem Werbespot im Fernsehen mitgespielt. Es war mir egal, was sie macht und wovon sie lebt, solange sie die Kohle für die Miete, und was hier sonst noch anfällt, abgedrückt hat.“

„Dann waren sie nicht befreundet?“

Pat schüttelte den Kopf.

„Nee, wir haben zusammen gewohnt, sonst ging jeder seinen Weg.“

„Kennen Sie Freunde von Sarah?“, hakte Mabel nach. „Sie hatte doch bestimmt einen festen Freund, oder? Ich meine, sie war doch sehr hübsch.“

„War?“ Pat runzelte die Stirn, stemmte die Hände in die Hüften und starrte Mabel an. „Ist Sarah etwas passiert? Und wer sind Sie eigentlich? Bullen? Dachte immer, auch bei der Polente gibt es ein Rentenalter.“

„Jetzt werden Sie mal nicht unverschämt!“, brauste Victor auf, aber Mabel legte beruhigend die Hand auf seinen Arm.

„Miss Cooks … Pat hat doch recht, Victor.“ Sie sah den Tierarzt beschwörend an. „Wir haben uns noch nicht einmal vorgestellt.“ Zu Pat gewandt fuhr sie freundlich fort: „Mein Name ist Mabel Clarence und das ist Mr Daniels. Wir kommen aus Cornwall, wo sich Sarah die letzte Zeit aufgehalten hat, um … eine Rolle in einem Theaterstück zu spielen. Nun ist sie seit einiger Zeit verschwunden, und wir sind in großer Sorge um sie. Ich bin nämlich Mitglied der Theatergruppe.“

Pat kniff skeptisch die Augen zusammen.

„Und wie kommen Sie an diese Adresse?“

„Sarah erwähnte sie einmal.“ Diese kleine Schwindelei kam leicht über Mabels Lippen, denn sie wollte Rachel Wilmington nicht erwähnen, nicht, solange sie nicht wusste, wie alles zusammenhing.

„Also gut.“ Pat seufzte und strich sich durch ihr wirres Haar, als wollte sie es glätten, das daraufhin aber nur noch zerzauster wirkte. „Sarah hat nichts von Cornwall gesagt, als sie vor ein paar Wochen abreiste. Sie meinte nur, sie müsse etwas erledigen und wenn sie zurückkäme, würde sie dieses Loch hier für immer verlassen.“

„Sie wollte ausziehen?“, warf Mabel ein.

Pat nickte. „So habe ich es verstanden. Sarah meinte, sie wäre an etwas ganz Großem dran, wollte aber nicht sagen, um was es geht. Ich dachte mir schon, dass es sich um eine Rolle handelt. Es muss wohl ein großes Theater sein, von dem Sie erzählt haben, und Sarah wollte dort Karriere machen.“

„Das nicht gerade“, murmelte Victor und kratzte sich am Kopf. Er und Mabel tauschten einen Blick, und beide dachten dasselbe: Für die Aufführung in Lower Barton hätte Sarah keinen Penny erhalten, die Schauspieler arbeiteten alle ehrenamtlich. Das konnte also nicht der Grund gewesen sein, warum Sarah nach Cornwall gegangen war. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass man in Bristol überhaupt den Namen Lower Barton kannte, geschweige denn von der Festwoche und der Aufführung wusste.

„Mir fällt gerade ein, da war ein Mann bei Sarah“, sagte Pat und zog nachdenklich ihre Nase kraus. „War ein paar Tage, bevor sie verschwand. Ich bin ihm zufällig begegnet, als er ihr Zimmer verließ, und wunderte mich, was so ein geschniegelter Typ mit Anzug und Krawatte bei ihr wollte. Ist hier nämlich nicht gerade eine Gegend, in die sich Geschäftsleute verirren.“

„Wie sah der Mann aus?“, fragte Mabel interessiert.

„Na, reich eben oder zumindest so, dass er sicher nicht von der Stütze leben muss. Er trug einen dunklen Anzug mit Weste, ein weißes Hemd und er fuhr einen Bentley.“ Pat kicherte. „Eine Nachbarin bemerkte das Auto, und der sind beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen. Die hatte wohl noch nie einen so schicken Wagen gesehen.“

„Sie wissen nicht zufällig, warum der Mann Sarah aufsuchte?“, hakte Mabel nach, die eine Spur witterte. „Vielleicht war es ihr Freund?“

„Nee, dazu war er zu alt, sicher über vierzig, und Sarah stand nicht auf ältere Typen.“

Mabel fing den Ball geschickt auf. „Hatte sie denn einen Freund? Oder sonst jemanden, der ihr nahestand?“

Pat grinste und zwinkerte Mabel verschwörerisch zu.

„Sarah stand nicht nur nicht auf ältere Typen, sie stand überhaupt auf nicht Typen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Darum waren wir auch nicht befreundet, denn in den Kneipen und Discos, in denen Sarah sich herumtrieb, setze ich keinen Fuß. Ich hab’ nichts gegen Lesben, muss mich aber nicht unbedingt mit denen abgeben. Die sind mir alle irgendwie zu … hart … zu wenig weiblich eben.“

„Sarah war …“ Mabel holte tief Luft, zu schockiert, das Wort auszusprechen. Sie stammte eben noch aus einer anderen Generation. Einer Generation, in der Homosexualität ignoriert und totgeschwiegen wurde. Dies hatte sich zwar inzwischen geändert, Mabel war bis jetzt aber nie einer Frau begegnet, die Frauen liebte, jedenfalls nicht wissentlich.

„Na, das ist jatoll!“ Victor lachte laut auf. „Kein Wunder, dass Michael nicht bei ihr landen konnte. Geschieht im ganz recht.“

In Mabels Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Plötzlich ergab alles ein anderes Bild. Sie musste unbedingt wissen, was es mit dem Mann in dem Anzug auf sich hatte, darum fragte sie Pat eindringlich: „Und Sarah hat wirklich nicht gesagt, was der Mann von ihr wollte? Sie hat auch keinen Namen erwähnt oder sonst irgendetwas?“

„Nein, wenn ich es Ihnen doch sage.“ Pat schaute auf ihre Armbanduhr und ihre Stimme klang genervt, als sie sagte: „Ich muss jetzt gehen, bin eh schon zu spät dran. Wenn Sie Sarah finden, dann richten Sie ihr aus, dass sie aus der Wohnung fliegt, wenn ich das Geld für die Miete nicht kriege.“

Pat ging zur Tür und gab damit das deutliche Zeichen, dass Mabel und Victor gehen sollten. Überrascht hörte Mabel, wie Victor fragte: „Wir würden gerne einmal in Sarahs Zimmer schauen, Miss Pat. Das ist doch sicher möglich, oder? Wir ziehen dann die Tür nachher hinter uns zu.“

Pat zögerte, gab sich dann aber einen Ruck.

„Warum nicht. Sie hat eh das meiste mitgenommen und kaum was dagelassen, was sich zum Verscherbeln lohnen würde, damit ich wenigstens etwas Cash bekäme. Die Möbel gehören ohnehin zur Wohnung.“

Sarah Millers Zimmer war zwar in Größe und Schnitt dem Zimmer von Pat ähnlich, von der Einrichtung und vor allen Dingen von der Ordnung her jedoch das völlige Gegenteil. Der Raum war spartanisch möbliert – ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein durchgesessener Sessel mit einem zerschlissenen Blümchendruckbezug und ein Schrank, in dem nur eine Winterjacke und eine alte Jeans hingen. Ein paar Bücher – „Die Geschichte des Theaters“, „Das Theater im Wandel der Zeit“, „Die großen Diven des frühen Hollywoodfilms“ und, zu Mabels Erstaunen, der Roman „Vom Winde verweht“ – lagen ordentlich auf dem Tisch. Mabel scheute sich, die fremden Sachen durchzusehen, Victor kannte jedoch keine Skrupel. Er schaute sogar unters Bett, doch es schien, als hätte Sarah Miller tatsächlich mit Sack und Pack Bristol verlassen. Ebenso, wie sie mit allem, was sie besaß, aus Lower Barton verschwunden war. Gedankenverloren nahm Mabel Margaret Mitchells Bestseller in die Hand, dabei sah sie, dass unter dem Buch ein weißes Kärtchen lag.

„Alan Trengove …“, las sie laut vor, und Victor fuhr auf.

„Der Anwalt aus Truro?“

„Sie kennen den Namen?“ Tatsächlich hielt Mabel die Visitenkarte eines Anwaltes mit einer Adresse in Truro in den Händen.

„Nun, man kennt sich in Cornwall“, erwiderte Victor ausweichend. Mabel meinte, eine leichte Unsicherheit in seiner Antwort zu spüren, vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein.

„Trengove ist ein häufiger Name“, sagte Mabel und beobachtete Victor genau. „Ebenso wie der Vorname Alan, und Truro liegt ein ganzes Stück von Lower Barton entfernt.“

Victor Daniels fuhr sich über seine Stirnglatze und sagte, wie es Mabel schien, betont lässig: „Ist auch egal, oder? Lassen Sie mal sehen.“

Mabel reichte ihm die Visitenkarte und Victor nickte.

„In der Tat, der Anwalt aus Truro. Aber nicht irgendein Anwalt, nein, Alan Trengove ist einer der besten und damit auch teuersten im ganzen Südwesten.“

„Was hat ein Mädchen wie Sarah Miller mit einem solchen Anwalt zu tun?“ Mabel sah Victor fragend an. „Könnte das vielleicht der gut gekleidete Mann sein, der Sarah hier besucht hat?“

Victor steckte die Visitenkarte in seine Jackentasche.

„Nun, wir werden es herausfinden.“ Er sah auf seine Uhr. „Wir sollten Mr Trengove aufsuchen, am besten heute noch.“

Mabel runzelte skeptisch die Stirn.

„Ich glaube nicht, dass der Anwalt uns Auskunft geben wird, warum seine Karte bei Sarah Miller zu finden ist. Anwälte unterliegen ebenso wie Ärzte der Schweigepflicht.“

„Das lassen Sie meine Sorge sein, Mabel.“

„Dann kennen Sie den Anwalt persönlich?“, hakte Mabel nach, aber Victor war schon zur Tür hinaus, und Mabel folgte ihm zu seinem Wagen.

In stiller Übereinkunft verzichteten sie auf einen Lunch. Victor hielt an einer Tankstelle, holte zwei Flaschen Wasser und für jeden ein abgepacktes Sandwich, das sie während der Fahrt aßen. Auf der M5 drückte Victor das Gaspedal durch, auch wenn er damit die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 Meilen pro Stunde überschritt – sie hofften jedoch, noch am Nachmittag Truro zu erreichen, um den Anwalt aufsuchen zu können.

Kurz nach der Ausfahrt 24, auf der Höhe von Bridgwater, stockte der Verkehr plötzlich und, nachdem sie noch etwa eine Meile im Schritttempo vorangekommen waren, ging nichts mehr. Stoßstange an Stoßstange reihten sich PKWs und LKWs aneinander, und erst nach einer Stunde meldeten die Verkehrsnachrichten im Radio, auf diesem Streckenabschnitt habe sich ein schwerer Unfall ereignet, der eine Vollsperrung der Autobahn zur Folge hatte.

„Oh nein!“ Mabel stöhnte. „Das kann länger dauern, somit schaffen wir es heute nicht mehr nach Truro.“

„Nun, der Anwalt läuft uns nicht weg.“ Victor schaltete den Motor ab, wählte im Radio den Klassiksender und lehnte sich mit geschlossenen Augen im Sitz zurück. Nach wenigen Minuten begann er vernehmlich zu schnarchen. Mabel, die sich zuerst ärgern wollte, dass er einfach eingeschlafen war, musste dann aber doch grinsen. Der Tierarzt schien ebenso wie sie die Gabe zu besitzen, aus jeder Situation das Beste zu machen. Sie saßen hier fest und wenn sie sich ärgerte, würde das den Stau keine Minute früher auflösen, sondern ihre ohnehin angespannten Nerven nur unnötig strapazieren. Also nahm Mabel ebenfalls eine bequeme Sitzposition ein und rekapitulierte in Gedanken das Gespräch mit Patricia Cooks auf der Suche nach irgendeinem wichtigen Hinweis, den sie vielleicht im Eifer überhört hatte. Der Ausflug nach Bristol hatte ihnen, wenn sie ehrlich war, nicht so viel gebracht, wie sie sich erhofft hatte – außer der Karte des Anwaltes, die Dutzende von Erklärungen haben könnte. Außerdem war es gar nicht gesagt, dass Sarah Miller überhaupt mit dem Anwalt zu tun gehabt hatte – die Karte konnte von jedem stammen. Vielleicht hatte Sarah Besuch gehabt, und deroder diejenige hatte die Visitenkarte liegen gelassen. Was aber war mit dem Mann, von dem Pat erzählt hatte? Wie sollte sie, Mabel, jemals herausfinden, wer der Besucher gewesen war? Wenn der Anwalt ihnen ehrliche Auskunft gäbe, wäre zumindest bestätigt oder ausgeschlossen, dass er es war, der Sarah Miller aufgesucht hat, je nachdem. Tatsache war, dass Sarah nur wenige Tage nach diesem Treffen Bristol verlassen und nach Lower Barton gekommen war.

Auf jeden Fall hatte Mabel jetzt ausreichend Zeit, sich zu überlegen, wie sie sich bei Abigail für ihre gestrige Bemerkung entschuldigen wollte. Ihre Cousine hatte recht: Es war ihr Leben und sie war alt genug, um zu wissen, was sie tat. Wenn Abigail meinte, ihr Glück an der Seite eines dreißig Jahre jüngeren Mannes zu finden, dann würde sie sich künftig nicht mehr einmischen. Vielleicht stand sie Justin wirklich zu skeptisch gegenüber, und seine Gefühle für ihre Cousine waren echt. Es sollte Männer geben, die auf ältere Frauen standen und in ihnen eine Art Mutterersatz sahen.

Die Sonne schien warm auf das Autodach, durch die geöffneten Fenster drang kein Lufthauch, und auch Mabel wurde schläfrig. Erst als der Hintermann wiederholt auf die Hupe drückte, erwachten Mabel und Victor und bemerkten, dass sich der Stau aufzulösen begann. Zwischenzeitlich war es kurz vor sechs, und Mabel wusste, sie würde erneut bei Abigail Abbitte leisten müssen, denn auch heute versäumte sie ihr gemeinsames Abendessen.