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In dieser Nacht schlief Mabel trotz der Aufregungen tief und fest, und es war fast zehn Uhr, als sie erwachte. Nachdem sie sich gewaschen und angezogen hatte, ging sie in das Speisezimmer, in dem Abigail bereits, oder immer noch, am Tisch saß. Auf der Anrichte standen Thermoskannen mit frischem Kaffee und Tee, auf Warmhalteplatten waren Eier, Speck, gebackene Bohnen in Tomatensoße, gegrillte Tomaten und Champignons und kleine Schweinswürste angerichtet.

„Ich dachte, wir frühstücken heute spät, dafür ausgiebig, und lassen den Lunch ausfallen“, sagte Abigail und forderte Mabel auf, sich zu bedienen. „Wenn du Lust hast, fahren wir dann etwas durch die Gegend. Es wird dich sicher interessieren, zu sehen, was aus Higher Barton geworden ist.“

Mabel, die erst beim Duft der Speisen merkte, wie hungrig sie war, nickte zustimmend.

„Es wäre interessant zu sehen, ob sich die Gegend in den letzten Jahrzehnten verändert hat.“

Abigail lächelte wohlgefällig. „Viele Landgüter in der Größe von Higher Barton haben mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, wir jedoch nicht.“ Der Stolz in ihrer Stimme war unüberhörbar. „Das Land wird von einem äußerst fähigen Verwalter bewirtschaftet, und besonders mit der Schafzucht erzielen wir gute Einkünfte. Außerdem muss ich zugeben, dass ich ein geschicktes Händchen für das Finanzielle habe, was auch sein muss. Schließlich hängen eine Menge Arbeitsplätze von Higher Barton ab. Rund fünfzig Personen und ihre Familien sind auf die Löhne angewiesen. Du siehst, Mabel, Herrin eines solchen Besitzes zu sein, bedeutet eine große Verantwortung.“

Mabel nippte an ihrem Tee und nickte stumm. Sie würde später mit Abigail sprechen und ihr ausreden, von ihr als Erbin benannt zu werden.

Am frühen Nachmittag fuhr Justin Parker die beiden Damen in einem dunkelgrünen Rolls Royce kreuz und quer über den weitläufigen Landbesitz von Higher Barton. Auf den ersten Blick schien sich die Landschaft im Laufe der Zeit kaum verändert zu haben, wenn Mabel jedoch genauer hinsah, dann bemerkte sie, dass überall regelmäßig modernisiert worden war. Die neusten High-Tech-Maschinen standen zur Bearbeitung des Landes bereit, die Schafställe waren mit technischem Gerät ausgestattet und die Cottages, wo früher die Pächter gelebt hatten, hatten zwar äußerlich ihren alten Charakter bewahrt, boten aber im Innenraum modernste Wohnkultur. Alle Cottages waren vermietet, einige als Ferienhäuser, die von einer Agentur in Liskeard betreut wurden, und brachten zusätzliche Einnahmen für Abigail.

Zum Abschluss ihres Ausfluges kehrten sie in einen Tearoom in Lower Barton ein und sprachen über belanglose Dinge. Mabel hatte den Vorfall bei ihrer Ankunft und die vermeintliche Leiche in der Bibliothek Abigail gegenüber nicht wieder erwähnt, für sie war die Angelegenheit aber alles andere als erledigt. Allerdings wusste Mabel beim besten Willen, was sie tun konnte, damit man ihr Glauben schenkte. Sie musste die Leiche finden, hatte aber nicht den Schimmer einer Ahnung, wie sie dabei vorgehen sollte. Vor allen Dingen, wer war die Tote überhaupt und wurde sie nicht schon längst von ihren Angehörigen vermisst? Eine weitere Frage, auf die Mabel keine Antwort wusste.

Als Abigail und Mabel den Tearoom verließen und Justin die Tür des Fonds öffnete, legte Mabel eine Hand auf den Arm der Cousine.

„Ich möchte zu Fuß gehen, Abigail. Es ist so schönes Wetter, und ein wenig Bewegung tut meinen alten Knochen gut.“

Mabel hoffe, Abigail würde nicht auf die Idee kommen, sie begleiten zu wollen, da sie ein Weilchen allein sein wollte, um ihre Gedanken zu ordnen. Zum Glück war Abigail aber noch nie für Bewegung an frischer Luft zu begeistern gewesen. Sie zog nur eine Augenbraue hoch und murmelte: „Wie du meinst, du kennst ja den Weg. Essen wir heute Abend zusammen?“

Mabel bejahte, verabschiedete sich und schlenderte die High Street hinunter. Obwohl Lower Barton ein kleiner Ort war, herrschte reger Feierabendverkehr, und auf den Gehsteigen eilten Leuten, zum Teil mit Einkaufstüten bepackt, geschäftig umher. Mabel hatte es nicht eilig. Sie blickte in Schaufenster und überlegte, ob sie sich nicht einen neuen Mantel kaufen solle. Ihrer war immerhin schon an die zehn Jahre alt und am Kragen ein wenig abgestoßen. Gerade, als sie sich entschloss, das Geschäft, in dessen Fenster sie einen hübschen Mantel entdeckt hatte, zu betreten, fiel ihr Blick auf ein Plakat, das von innen an die Glastür geklebt worden war.

„Das gibt es doch gar nicht!“

Sie hatte die Worte laut ausgerufen und war unwillkürlich ein paar Schritte zurückgewichen, sodass sie zwei Jugendliche versehentlich anrempelte.

„He, Oma, willste uns etwa anmachen?“, maulte einer der Jungen. „Dazu biste mir wirklich zu alt.“

Mabel, sonst um eine passende Antwort nicht verlegen, reagierte nicht auf die Pöbelei, denn das Plakat zog sie völlig in den Bann. Darauf war die Tote abgebildet! Es bestand kein Zweifel, auch nachdem Mabel mehrmals zwinkerte, war sie sich sicher: Das Mädchen auf dem Plakat hatte nicht nur Ähnlichkeit mit der Toten von Higher Barton, nein, es handelte sich hier um ein und dieselbe Person! Damit aber nicht genug – sie trug sogar das Kleid, in dem sie erdrosselt worden war.

„Verrat in Lower Barton“ las Mabel aufgeregt und war froh über ihren stabilen Kreislauf, denn ihr Herz pochte aufgeregt in ihrem Hals.

Großer Festumzug anlässlich des 360. Jahrestages und Aufführung der Geschichte der unglücklichen Mary Lerrick

Rasch las sie noch den Hinweis, dass für das Theaterstück ab sofort Eintrittskarten bei der Tourist Information erhältlich seien, dann lief sie, so schnell sie konnte, die Straße hinunter, an deren Ende sich das Touristenbüro befand. Mabel hatte Glück. Eine Dame wollte gerade die Tür absperren, denn es war bereits nach fünf Uhr, sie ließ Mabel jedoch noch eintreten.

„Danke, Sie sind sehr freundlich.“ Mabel rang nach Luft, der schnelle Schritt hatte sie außer Atem gebracht. „Ich habe auch nur eine Frage, aber die ist äußerst wichtig.“

Die Dame ließ sich nicht anmerken, dass Mabel ihren Feierabend verzögerte, sondern fragte mit einem geschäftsmäßig freundlichen Lächeln: „Womit kann ich Ihnen dienen, Lady?“

„Ich habe ein Plakat zu einem Festumzug und einem Theaterstück gesehen“, antwortete Mabel.

„Möchten Sie eine Karte für die Aufführung kaufen?“ Die Dame griff nach einer Box unter dem Tresen, in dem offenbar die Karten aufbewahrt wurden. Mabel schüttelte den Kopf.

„Nicht heute, vielleicht später, aber ich würde gerne mehr darüber wissen. Ähm … ganz besonders interessiert es mich, wer das Mädchen auf dem Plakat ist.“ Als sie das Stirnrunzeln der Dame sah, fügte sie hastig hinzu: „Also, das Foto … das Mädchen sieht genauso aus, wie die Tochter einer früheren Schulfreundin, zu der seit Jahren der Kontakt abgebrochen ist. Vielleicht könnte ich so meine Freundin wiederfinden?“ Blitzschnell war Mabel diese Begründung eingefallen, und sie hoffte, sie würde glaubhaft klingen.

Die Dame seufzte und strich sich eine Strähne ihres langen dunklen Haares hinters Ohr.

„Es tut mir leid, aber da kann ich Ihnen nicht helfen. Für die Gestaltung der Plakate ist der Historische Verein zuständig, eventuell auch die Theatergruppe selbst. Ich verkaufe hier nur die Karten für die Aufführung. Ich nehme jedoch an, das Mädchen auf dem Foto ist die Hauptdarstellerin des Stückes. Ich habe es auch schon gesehen und muss sagen, dass sie dieser Mary Lerrick sehr ähnlich sieht. So eine große Ähnlichkeit gab es zuvor noch nie.“

„Mary Lerrick?“, wiederholte Mabel. Dieser Name war auf dem Plakat auch vermerkt. „Wer ist das?“

Nun runzelte die Dame doch ein wenig unwillig die Stirn. Sie hatte seit zehn Minuten Feierabend und musste noch einkaufen, weil zu Hause ihr Mann und zwei Kinder auf das Abendessen warteten. Sie bückte sich und angelte unter dem Tresen eine Broschüre hervor.

„Steht alles hier drin.“ Ihr Lächeln war weiterhin freundlich und unverbindlich, Mabel spürte jedoch deutlich die zunehmende Ungeduld der Dame. Mabel schluckte kurz, als sie den Preis las, kramte aber nach ihrem Geldbeutel und bezahlte die vier Pfund. Sie musste das Heft unbedingt haben, denn auf dem Cover war die Zeichnung eines Mädchens abgebildet, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Toten in der Bibliothek hatte.

Mabel brannte darauf, mehr über Mary Lerrick zu erfahren, hier im Ort hatte sie aber keine Ruhe dazu. Kurz überlegte sie, sich ein Taxi nach Higher Barton zu nehmen, verwarf die Idee aber wieder. Sie hätte Abigail erklären müssen, warum sie den Weg nun doch nicht zu Fuß gegangen war, und ihre Cousine in die neuesten Erkenntnisse einweihen, wollte Mabel nicht. Abigail würde ihr erneut nicht glauben, daher musste sie erst selbst mehr über dieses Mädchen in Erfahrung bringen. Wenn Mabel sich beeilte, konnte sie in weniger als einer Stunde im Haus sein und noch vor dem Abendessen in der Broschüre lesen.

Sie schritt rasch aus, und als sie auf die schmale Landstraße, die sich durch weitläufige Wiesen und Kornfelder schlängelte, einbog, ließ der Autoverkehr nach. Die Luft war mild, aber nicht zu warm, so war der Spaziergang eine wahre Freude. Plötzlich hörte Mabel das Aufheulen eines Motors hinter sich. Schnell drückte sie sich in die meterhohe Hecke, die die Straße an beiden Seiten säumte, denn offenbar näherte sich ein Auto in hoher Geschwindigkeit und die Straße war an dieser Stelle so schmal, dass nur ein Wagen passieren konnte. Da sah sie den blauen Sportwagen sich auch schon nähern.

„Warum müssen die immer so rasen?“, murmelte Mabel und schüttelte unwillig den Kopf.

Als der Wagen nur noch wenige Meter von Mabel entfernt war, huschte aus der Hecke plötzlich eine Spitzmaus auf die Straße. Einen Bruchteil einer Sekunde später folgte der Maus eine braun-grau getigerte Katze. Mabel schrie laut auf, aber es war zu spät. Der Fahrer konnte nicht mehr bremsen, er versuchte es nicht einmal, und erwischte die Katze mit seinem Spoiler bei voller Fahrt. Das Tier wurde zwei bis drei Meter durch die Luft geschleudert und blieb bewegungslos am Rand der Fahrbahn liegen. Der Sportwagen verringerte nur kurz seine Fahrt, Mabel sah, wie der Fahrer einen Blick in den Rückspiegel warf, dann drückte er aufs Gaspedal und rauschte mit aufheulendem Motor davon.

„Idiot!“, rief Mabel ihm nach, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Dann lief sie so schnell sie konnte zu dem Tier. Die Katze lag bewegungslos auf der Seite, unter ihrem Mäulchen hatte sich eine Blutlache gebildet. Mabel ging in die Hocke und berührte das raue, etwas struppige Fell.

„Arme Kleine“, murmelte sie, bemerkte dann aber überrascht, wie sich der kleine Leib hob und senkte. Die Katze lebte noch! Mabel schaute in die Ohren und hob die Augenlider. Glücklicherweise waren hier keine Anzeichen einer Blutung zu erkennen, offenbar hatte das Tier keinen Schädelbruch erlitten. Mabel besaß zwar keine Erfahrung mit verletzten oder kranken Tieren, aber manche Dinge waren nicht anders als bei Menschen.

„Ich muss mir doch ein Handy besorgen“, murmelte Mabel. Sie wusste nicht, wie schwer die Katze verletzt war und ob man sie retten konnte, aber selbst wenn es keine Chance mehr gab, wäre es besser, das Tier schnell einzuschläfern, um sie von ihren Schmerzen zu erlösen. Auf keinen Fall würde sie die Katze hier hilflos liegen lassen, bis das nächste Auto kam und ihr dann endgültig den Garaus machte. Noch war das Tier bewusstlos, aber ab und zu zuckte seine Schwanzspitze. Ungeachtet, dass sich Mabel ihren Mantel mit Blut beschmutzte, nahm sie die Katze auf die Arme und sprach leise auf das Tier ein.

„Ganz ruhig, meine Kleine, ich werde dir helfen.“

Erneut hörte Mabel Motorengeräusch, dieses Mal näherte sich ein Jeep in einer angemessenen Geschwindigkeit. Mabel stellte sich mitten auf die Straße und winkte mit einer Hand dem Fahrer zu, der auch sofort stoppte.

„Brauchen Sie Hilfe, Lady?“ Der Mann war um die fünfzig und kam offenbar vom Feld, denn an seinen Gummistiefeln klebten Erde und Schmutz.

„Nicht ich, aber die Katze hier. Sie wurde gerade vor meinen Augen angefahren, lebt aber noch.“

„Und das Auto ist einfach weitergefahren, nicht wahr?“, brummte der Mann. „Viel zu wenige Menschen haben Respekt vor dem Leben der Tiere. Steigen Sie ein, ich fahre Sie zum Tierarzt.“

Dankbar nahm Mabel auf dem Beifahrersitz Platz. Offenbar hatte sie einen Mann getroffen, der ebenso wie sie ein Herz für Tiere hatte. Die Katze erwachte aus ihrer Bewusstlosigkeit und begann, unruhig mit den Hinterläufen zu strampeln. Dabei bekam Mabel ein paar scharfe Hiebe ab, und feine blutige Risse zogen sich über ihre Handrücken. Mabel sprach auf die Katze leise und beruhigend ein, streichelte ihr Fell, hatte aber Mühe, sie festzuhalten. Natürlich, das Tier litt Schmerzen und hatte große Angst, schließlich wusste sie nicht, dass Mabel ihr helfen wollte.

„Nehmen Sie meine Jacke und wickeln Sie sie darin ein.“

Mit einer Hand holte der Fahrer seine Jacke vom Rücksitz und warf sie Mabel zu.

„Danke, aber das Tier blutet. Ihre Jacke …“

„Kann man waschen“, ergänzte er. „Es ist nicht weit, in fünf Minuten sind wir bei Doc Daniels.“

Victor Daniels! Natürlich, er war Tierarzt und wahrscheinlich der einzige in der Gegend. Mabel hätte nicht gedacht, sich regelrecht darauf zu freuen, diesen wortkargen und griesgrämigen Mann so bald wiederzusehen, jetzt jedoch war es wichtig, dass die Katze schnell in ärztliche Behandlung kam. Mabel befürchtete jedoch, der Tierarzt könnte nicht zu Hause sein. Es war schließlich Feierabend. Aber sie hatte Glück. Die Tür zur Praxis war zwar geschlossen, der Tierarzt öffnete jedoch gleich nach dem ersten Läuten.

„Oh, Sam, grüß dich. Was’n los? Probleme mit’m Schaf?“ Erst dann bemerkte Victor Daniels Mabel und das Bündel in ihren Armen. „Miss Clarence?“ Sein Blick war alles andere als erfreut, und er runzelte missbilligend die Stirn.

„Ich habe eine verletzte Katze, Doktor“, antwortete Mabel. „Sie wurde angefahren.“

Daniels winkte sie herein, und Sam tippte kurz an seine Mütze.

„Mich brauchen Sie jetzt nicht mehr, Miss, meine Frau wartet mit dem Essen. Alles Gute für die Mieze.“

„Ihre Jacke!“, rief Mabel.

Er winkte ab. „Lassen Sie sie beim Doc, ich hole sie in den nächsten Tagen ab.“

„Danke, es war sehr freundlich, mich herzubringen“, sagte Mabel, dann folgte sie dem Tierarzt durch einen langen Flur in einen weiß gekachelten und peinlichst sauberen Raum, der sich auf den ersten Blick kaum von dem Sprechzimmer eines Humanmediziners unterschied. Vorsichtig legte Mabel das Bündel auf den metallenen Untersuchungstisch, dabei hielt sie die Jacke fest zusammen, denn die Katze strampelte immer heftiger. Victor Daniels zog derweil eine Spritze auf und erklärte Mabel: „Ich muss dem Tier eine leichte Narkose geben, damit ich es untersuchen kann. Was ist eigentlich genau passiert?“

Während Mabel beobachtete, wie der Tierarzt ruhig und geschickt der Katze das Beruhigungsmittel oberhalb des linken Hinterlaufes injizierte, schilderte sie den Unfall. Grimmig runzelte Daniels die Stirn.

„Man sollte solche Leute anzeigen! In meinen Augen ist das ein ebenso strafbares Delikt, wie wenn man einen Menschen über den Haufen fährt und Fahrerflucht begeht. Sehen Sie, die Spritze wirkt bereits. Jetzt wollen wir mal sehen, was der Kleinen fehlt.“

Mabel war erstaunt, dass der Tierarzt offenbar in der Lage war, zusammenhängende Sätze von sich zu geben, wenngleich er sie keines Blickes würdigte. Mit der verletzten Katze ging er jedoch sehr vorsichtig, beinahe liebevoll um. Er tastete den Leib des Tieres ab, zwickte mit einer stumpfen Zange in beide Hinterpfoten und murmelte zufrieden, als die Pfoten ruckartig zuckten: „Das Rückgrat scheint nicht gebrochen zu sein.“ Dann nahm er einen Tupfer, öffnete vorsichtig das Mäulchen und entfernte das Blut. Er hob den Kopf und sah Mabel ernst an.

„Sie können mich jetzt allein lassen, Miss Clarence. Meine Helferin ist zwar schon gegangen, aber ich komme zurecht. Ich muss das Tier röntgen, bevor ich eine genaue Diagnose stellen kann.“

Mabel wurde es warm ums Herz, dass Daniels nicht gleich daran dachte, das verletzte Tier einzuschläfern, sondern erst versuchen wollte, herauszufinden, ob man es heilen konnte.

„Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen gerne helfen.“

Daniels rechte Augenbraue ruckte nach oben.

„Sie? Vielleicht muss ich operieren. Das kann eine blutige Angelegenheit werden, und ich habe keine Zeit und noch weniger Lust, mich um eine alte Frau zu kümmern, die kein Blut sehen kann und ohnmächtig zusammenbricht.“

„Ich bin Krankenschwester“, sagte Mabel von oben herab und hätte am liebsten die Praxis auf der Stelle verlassen, wenn es nicht um das Leben des armen Tieres gegangen wäre. „Nun ja, zumindest war ich es, bis zu meiner Pensionierung.“

Er nickte und Mabel meinte, in seinen Augenwinkeln tatsächlich so etwas wie den Anflug eines Lächelns zu entdecken.

„Nun ja, so viele Unterschiede zwischen Mensch und Tier gibt es gar nicht. Dann wollen wir mal.“

Das Röntgenbild ergab einen Bruch des Oberkiefers der Katze.

„Darum das viele Blut. Man sollte nicht meinen, dass ein solcher Bruch derart stark bluten kann. Innere Verletzungen kann ich keine feststellen, wahrscheinlich hat das Tier aber eine Gehirnerschütterung.“ Daniels sah Mabel mit einem plötzlich warmen Blick an. „Wenn Sie sich nicht sofort um sie gekümmert hätten, wäre sie wahrscheinlich an ihrem Blut erstickt, da sie bewusstlos war. Wenn die Operation gut geht, haben Sie der Katze das Leben gerettet.“

Mabel senkte verlegen den Blick.

„Das war selbstverständlich, Doktor. Werden Sie sie retten können?“

Er nickte. „Es handelt sich um einen glatten, sauberen Bruch. Ich werde die Knochen drahten, und wenn sich die Wunde nicht entzündet oder sich Komplikationen ergeben, wird die Mieze in vier bis fünf Wochen wieder Mäuse fangen können.“

„Aber hoffentlich nicht mehr auf der Straße“, warf Mabel ein, desinfizierte ihre Hände und Unterarme und schlüpfte in einen Kittel, den Daniels ihr wortlos in die Hand drückte. Es war beinahe wie im Krankenhaus, und als Mabel dem Arzt die notwendigen Instrumente reichte, vergaß sie sogar, dass auf dem Operationstisch kein Mensch, sondern ein Tier lag.

Nach einer halben Stunde war die Verletzung gedrahtet, und Daniels brachte das noch narkotisierte Tier in eine mit weichen Handtüchern und flauschigen Fellen eingerichtete Box.

„Die nächsten Tage werde ich sie alle drei bis vier Stunden mit flüssiger Nahrung füttern, bis sie sich an den Draht in ihrem Maul gewöhnt hat. Dann wird sie weiches Futter wohl selbst fressen können. Allerdings wird die arme Kleine so lange eingesperrt bleiben müssen, bis der Draht entfernt werden kann. Draußen wäre es zu gefährlich, sie könnte irgendwo hängen bleiben und sich erneut verletzen.“

Sie verließen die Praxis und Daniels deutete auf eine, in das obere Stockwerk führende Treppe.

„Ich glaube, wir haben uns jetzt einen Schluck verdient, Miss Clarence. Wie wär’s mit einem Sherry?“

Mabel sah auf ihre Armbanduhr und erschrak. Die Zeit war rasend schnell verflogen, es war schon kurz vor acht.

„Ach, du meine Güte, meine Cousine wird mich sicher vermissen. Ich hatte versprochen, mit ihr zu Abend zu essen. Ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen.“

Daniels winkte ab. „Rufen Sie Lady Abigail an und sagen Sie ihr, wo Sie sind. Nachher fahre ich Sie dann mit dem Wagen nach Higher Barton. Es wird bald dunkel, und eine Dame sollte den Weg nicht alleine in der Dunkelheit machen.“

Mabel war verwirrt, als sie dem Tierarzt nach oben in die Wohnräume folgte. Ihre ersten Begegnungen waren wenig erfreulich gewesen, und beim Abendessen auf Higher Barton hatte sich ihr Eindruck, Victor Daniels wäre ein alter Griesgram, verstärkt. Heute jedoch stellte sie fest, dass er sich nicht nur sorgsam und liebevoll um die verletzte Katze gekümmert hatte, sondern offenbar auch in der Lage war, eine freundliche Konversation zu führen. Als er jedoch die Tür zum Wohnzimmer aufstieß, war Mabel regelrecht erschrocken. Entgegen der Ordnung in der Praxis herrschte hier ein heilloses Chaos – benutztes Geschirr und Gläser standen neben Bergen von alten Zeitungen auf dem Tisch, auf dem Sofa und auf den beiden Sesseln lagen Kleidungsstücke, und auch wenn es nicht unbedingt schmutzig war, machte der Raum alles andere als einen gemütlichen Eindruck. Victor Daniels schien das jedoch nicht zu stören. Als er Mabels peinlich berührten Blick sah, sagte er nur lapidar: „Es ist etwas unordentlich hier oben. Meine Haushälterin hat letzte Woche gekündigt, und ich hatte noch keine Zeit, mich um eine neue zu kümmern.“

Etwas unordentlich war untertrieben, dachte Mabel. Hier fehlte eindeutig eine weibliche Hand, aber das konnte ihr schließlich egal sein.

„Sie sollten sich bald um eine neue Haushälterin bemühen“, konnte sich Mabel allerdings nicht verkneifen anzumerken. „Haben Sie es mit einer Anzeige in der Zeitung versucht?“

„Ähm … hat wenig Sinn.“ Daniels wirkte auf einmal etwas verlegen. „In den vergangenen zwei Jahren haben neun verschiedene Frauen versucht, mir den Haushalt zu führen. Irgendwie hat die Chemie zwischen mir und der betreffenden Dame aber nie gestimmt. Die haben immer versucht, mich zu bevormunden, ich lasse mir aber nicht sagen, was ich in meinem eigenen Haus zu tun und zu lassen habe.“

„Mein Güte, Sie sollen die Frauen ja auch nicht heiraten!“ Bevor Mabel nachdachte, waren ihr die Worte bereits entschlüpft. „Vielleicht sollten Sie versuchen, ihren Haushälterinnen nicht reinzureden, denn das kann keine Frau gebrauchen.“

Daniels runzelte die Stirn.

„Was geht Sie das eigentlich an?“ Seine Freundlichkeit war wie weggewischt. „Ich weiß schon, was ich tue.“

„Es tut mir leid.“ Mabel sah ihn entschuldigend an. „Keinesfalls möchte ich mich in Ihre Angelegenheiten mischen, ich wollte Ihnen nur einen Rat geben, wie Sie künftig am besten mit einer Hilfe umgehen, damit sie länger bei Ihnen bleibt. Es ist vielleicht besser, wenn ich jetzt gehe.“

„Bleiben Sie“, brummte Daniels. „Hab’ es nur nicht so gerne, wenn fremde Menschen versuchen, mir zu sagen, wie ich leben soll.“

„Das lag nicht in meiner Absicht“, entgegnete Mabel. Sie zögerte. Der kauzige Tierarzt interessierte sie, er hatte allerdings Recht, dass es sie nichts anging, wie er sein Leben gestaltete.

„Woher wollen Sie überhaupt wissen, ob ich denen in die Arbeit reingeredet habe?“, fragte Daniels plötzlich.

Mabel lächelte, denn in seine Augen kehrte ein freundlicher Schimmer zurück, der ihr sagte, dass er an der Beantwortung der Frage ehrlich interessiert war.

„Ich kenne Sie zwar kaum, schätze Sie aber als Menschen ein, der über alles gern die Kontrolle behält. Eine Frau, die in der Küche kontrolliert wird, sehen Sie aber schneller von hinten, als es Ihnen lieb ist.“

„Vielleicht haben Sie Recht. Ich werde bei der nächsten Bewerberin etwas zurückhaltender sein“, lenkte Daniels ein. „Wenn es überhaupt noch jemanden im Umkreis von fünfzig Meilen gibt, der bei mir arbeiten möchte. Sie hätten nicht zufällig …?“

„Gott behüte!“ Lachend wehrte Mabel ab. „Wo haben Sie nun den versprochenen Sherry?“

Sie tranken jeder ein Glas im Stehen, da sämtliche Sitzmöbel mit anderen Dingen belegt waren, dann wandte Mabel sich zur Tür.

„Ich sollte jetzt wirklich …“

„Ja, natürlich, ich hole den Wagen.“

Als Mabel nach ihrer Handtasche griff, die sie auf den Tisch gestellt hatte, rutschte ihr diese aus den Fingern und, da sie den Reißverschluss nicht geschlossen hatte, fiel der Inhalt auf den Teppich.

„Wie ungeschickt von mir!“ Mabel schoss die Röte in die Wangen. „Verzeihen Sie bitte.“

„Das ist das Alter, da wird man tattrig“, sagte er und die Bemerkung passte wieder ganz zu dem Menschen, den Mabel kennengelernt hatte. Victor Daniels machte auch keine Anstalten, Mabel beim Aufheben zu helfen. Nachdem sie ihre Tasche wieder eingeräumt hatte, hielt sie die Broschüre über das Fest in Lower Barton in der Hand. Einer spontanen Eingebung folgend reichte sie sie dem Tierarzt und fragte: „Wissen Sie etwas über diese Veranstaltung?“

Victor Daniels runzelte überrascht die Stirn.

„Ich sehe, Sie haben Interesse an unserer Geschichte, Miss Mabel.“ Während des Sherrys war er dazu übergegangen, Mabel mit ihrem Vornamen anzusprechen.

Mabel, die durch den Vorfall mit der Katze Mary Lerrick beinahe vergessen hatte, lächelte.

„In der Stadt habe ich ein Plakat gesehen und würde gerne mehr über diesen Festumzug erfahren. Im Touristenbüro habe ich dann dieses Heftchen erstanden.“

Daniels deutete auf den Preis.

„Ist viel zu teuer, verkauft sich aber gut. Sie müssen wissen, dieses Fest ist das größte Ereignis in unserem verschlafenen Nest.“ Er sah, wie Mabel verstohlen auf die Uhr blickte. „Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen gerne etwas über die wenig rühmliche Vergangenheit von Lower Barton. Wie wäre es mit morgen? Zum Lunch vielleicht?“

„Hier bei Ihnen?“ Mabel konnte sich einen zweifelnden Unterton nicht verkneifen, und Daniels zuckte mit den Schultern.

„Lieber nicht, oder wollen Sie kochen? Nein, wir könnten uns im Lion’s Heart treffen. Der Wirt macht ganz ausgezeichnete Krabbensandwichs, und das Bier ist auch nicht schlecht. Tinners aus St Austell“, fügte er hinzu und leckte sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe.

Mabel verzichtete auf den Hinweis, ob es als Arzt – gleichgültig ob Humanmediziner oder Veterinär – wohl angebracht war, bereits zum Lunch Alkohol trinken. Sie wollte die freundliche Stimmung, die sich in der letzten Stunde zwischen ihnen aufgebaut hatte, nicht trüben, daher nickte sie und antworte: „Gerne, ich werde da sein. Sagen wir gegen ein Uhr?“