18

„Mr Trengove ist in einer Besprechung.“ Die Sekretärin hob nicht einmal den Blick, sondern tippte weiter auf der Tastatur ihres Computers herum. „Sie können gerne einen Termin vereinbaren.“

„Hören Sie, es ist wirklich wichtig!“ Mabel lehnte sich gegen den Tresen, hinter dem sich die Vorzimmerdame des Anwalts verschanzte. „Ich bin extra aus Lower Barton gekommen, um mit Mr Trengove zu sprechen. Es dauert auch nur zwei, drei Minuten.“ Der Gesichtsausdruck der jungen Dame blieb unbeweglich, aber wenigstens sah sie Mabel jetzt an. „Bitte!“, fügte diese hinzu.

Die Sekretärin warf einen Blick auf ihre Uhr und seufzte. „Ich werde sehen, was sich machen lässt. Sie müssen allerdings warten, es kann dauern.“

„Danke.“ Mabel nahm in einer mit modernen beigen Sesseln gestalteten Sitzgruppe Platz. Auf dem Glastisch standen eine Flasche Mineralwasser und drei Gläser sowie einige Zeitschriften, die Mabel jedoch nur mit einem flüchtigen Blick streifte. Sie war zu nervös, um sich auf irgendwelche Klatschgeschichten aus der Welt der Reichen und Schönen zu konzentrieren, und Auto- und Börsenmagazine interessierten sie nicht im Geringsten.

Gleich nach dem Frühstück war sie nach Truro gefahren. Sie war zum ersten Mal in der nach Penzance zweitgrößten Stadt Cornwalls und Verwaltungszentrum der Grafschaft. Der Verkehr an diesem Montagmorgen war dicht und stockend gewesen, allein für die knapp fünfzehn Meilen zwischen St Austell und Truro hatte sie eine Stunde gebraucht, da sich Autos und Lastwagen Stoßstange an Stoßstange reihten. In Truro selbst war sie dann mehrmals auf der Suche nach einem Parkplatz durch die Stadt gekurvt, bis sie schließlich in einem Parkhaus oberhalb der Fußgängerzone einen freien Platz fand. Mabel fragte den ersten Passanten, den sie traf, wo sie die Pydar Street fände, und der Herr deutete lächelnd auf die Fußgängerzone.

„Sie sind bereits in der betreffenden Straße, meine Dame.“

Mabel dankte und suchte nach dem Gebäude mit der Nummer drei. Das Haus, in dem der Anwalt seine Räume hatte, lag direkt an dem Vorplatz der großen Kathedrale, die, obwohl erst Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, einen mittelalterlichen Eindruck machte. Im Erdgeschoss befand sich ein Telefon- und Handygeschäft, daneben führte eine steile Treppe in den ersten Stock in die Kanzlei hinauf. Hier herrschte elegante Kühle – der Boden war weiß gefliest und an den ebenfalls weißen Wänden hingen grau-weiße Kunstdrucke mit futuristischen Motiven. Keine Grünpflanze zierte den Empfangsraum, selbst die Sekretärin hatte sich in ihrem grauen Kostüm und weißer Bluse der Umgebung angepasst.

Mabel wusste nicht, wie lange sie gewartet hatte – ihrem Empfinden nach schienen Stunden vergangen zu sein –, als sich die Tür öffnete und ein Herr mittleren Alters eintrat. Er war mit einem dunklen, zweireihigen Anzug mit Weste, einem blütenweißen Hemd und einer dunkelblauen Krawatte sehr elegant gekleidet. Sein kurzgeschnittenes, dunkles Haar hatte er mit Gel zurückgekämmt, und er trug eine randlose Brille.

„Miss Thompson, verschieben Sie bitte den Termin mit Mr Greenly um drei Stunden, ich muss gleich zum Gericht, und das wird länger als erwartet dauern.“ Sein Blick fiel auf Mabel, und er hob eine Augenbraue. „Haben wir einen Termin?“, fragte er geschäftsmäßig und sah demonstrativ auf seine Armbanduhr, von der Mabel vermutete, es handle sich um eine Rolex.

Mabel erhob sich. „Nein, Mr Trengove, ich möchte Ihre Zeit auch nicht lange in Anspruch nehmen, muss Sie aber in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“

„Ich sagte der Dame bereits, dies wäre unmöglich ist, Mr Trengove“, warf die Empfangsdame ein. „Sie hat aber darauf bestanden zu warten.“

Alan Trengoves Blick glitt über Mabels Gestalt. Da es heute ein kühler, windiger Tag war und aus grauen Wolken immer wieder Regen fiel, trug Mabel ihren schlichten hellen Mantel, darunter eine einfache Stoffhose und eine Bluse, die sie vor Jahren bei Woolworth gekauft hatte, auch ihre Schuhe stammten nicht aus einer edlen Boutique. Alan Trengoves Blick war deutlich anzusehen, dass Frauen wie Mabel nicht unbedingt zum Klientel seiner Kanzlei gehörten.

„Vereinbaren Sie bitte einen Termin mit meiner Sekretärin“, sagte er kühl und wandte sich ab, um in sein Büro zu gehen.

„Mr Trengove, bitte …“ Mabel holte tief Luft und rief: „Ich bin die Cousine von Lady Abigail Tremaine von Higher Barton.“

Instinktiv führte sie ihre Verwandtschaft zu Abigail, die immerhin eine der ersten Damen Cornwalls war, ins Feld, denn sie spürte, der Anwalt umgab sich nur mit exklusiven und zahlungskräftigen Mandanten. Mr Trengove, die Hand bereits auf der Türklinke, wandte sich zu Mabel um.

„Lady Tremaine?“, fragte er verwundert, und erneut glitt sein Blick über Mabels einfache Kleidung. „Ich hoffe, es geht ihr gut. Sie hat mir Ihren Besuch allerdings nicht angekündigt.“

Mutig geworden trat Mabel vor den Anwalt.

„Bitte, Mr Trengove, nur eine Minute.“

„Nun gut, eine Minute.“ Er seufzte, öffnete dann die Tür zu seinem Büro und ließ Mabel vor sich eintreten. „Aber wirklich nur eine, ich habe gleich einen Termin bei Gericht.“

Trengoves Büro war ebenso kahl und nüchtern wie der Empfangsraum und erinnerte mehr an ein Krankenzimmer als an ein Büro. Mabel nahm auf einem modernen Stuhl mit Stahlummantelung und einer schwarzen, harten Sitzfläche Platz, der Anwalt setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Er legte die Fingerspitzen zusammen und sah Mabel ungeduldig an.

„Also, um was handelt es sich?“

„Ich komme wegen Sarah Miller.“ Mabel kam gleich zur Sache, sie hatte nicht viel Zeit.

„Sarah Miller?“ Mr Trengove runzelte die Stirn und dachte nach. „Der Name sagt mir spontan nichts. Ist die Dame eine Klientin meiner Kanzlei?“

„Das weiß ich nicht, Mr Trengove. Sie suchten Sarah Miller vor einigen Wochen in Bristol auf“, versuchte Mabel einen Schuss ins Blaue. Trengoves Stirn glättete sich, und er nickte langsam.

„Ich erinnere mich – eine junge, etwas unkonventionelle Frau. Was haben Sie mit ihr zu tun? Hat Lady Tremaine Sie geschickt? Wenn ja, wüsste ich nicht warum. Die Angelegenheit muss Lady Tremaine direkt mit Miss Miller regeln.“

Mabels Herz schlug ein paar Takte schneller. Es gab also tatsächlich eine Verbindung zwischen Sarah und ihrer Cousine! Würde das auch erklären, warum der Mord auf Higher Barton stattgefunden hatte? Mabel konnte ihre Aufregung kaum im Zaum halten. Auf keinen Fall wollte sie dem Anwalt von der Toten erzählen, darum sagte sie: „Ich möchte gerne wissen, in welcher Angelegenheit Sie Sarah Miller aufgesucht haben.“

Die Augenbrauen des Anwaltes schossen nach oben, seine Stimme klang kühl, als er sagte: „Darüber müssen Sie mit Miss Miller selbst sprechen, denn das unterliegt selbstverständlich meiner Schweigepflicht.“

„Das ist nicht mehr möglich“, sagte Mabel leise. „Sarah Miller kam nach Lower Barton, seit ein paar Wochen ist sie jedoch spurlos verschwunden. Ich … wir sind in großer Sorge um das Mädchen.“

Mr Trengove zuckte die Schultern und erhob sich, ein deutliches Zeichen, dass er das Gespräch für beendet erachtete.

„Es tut mir leid, Ihnen nicht helfen zu können, Mrs …?“

„Clarence, Mabel Clarence“, ergänzte Mabel, der erst jetzt auffiel, dass sie sich bisher nicht vorgestellt hatte. „Bitte, Mr Trengove, ich weiß, dass sich Sarah aufgrund Ihres Besuches entschloss, nach Cornwall zu reisen. Es ist wichtig zu wissen, was ein Anwalt Ihres Formats mit einem Mädchen wie Sarah zu tun hat.“

Mr Trengove ging zur Tür und öffnete sie, und Mabel blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

„Fragen Sie Ihre Cousine, Lady Tremaine. Ich denke, Miss Miller wird mit ihr gesprochen haben. Ich habe es ihr überlassen, Lady Tremaine zu informieren. Es wundert mich allerdings, nichts mehr von Miss Miller gehört zu haben. Offenbar fand zwischen den beiden Damen eine Einigung statt, die meiner Hilfe und meiner Unterstützung nicht bedurfte, oder sie hat einen meiner Kollegen zu Rate gezogen.“

„Von welcher Einigung sprechen Sie?“ Ihre Stimme war atemlos. „Was haben meine Cousine und Sarah Miller miteinander zu tun?“

Alan Trengove sagte kühl: „Ich muss Sie jetzt wirklich bitten zu gehen.“

Eine Sekunde später stand Mabel im Empfangsraum, und der Anwalt hatte die Bürotür hinter sich geschlossen. Die Sekretärin warf ihr einen flüchtigen Blick zu, in dem Mabel so viel las wie „Ich habe es Ihnen doch gesagt“, und Mabel verließ aufgewühlt die Kanzlei. Dass Mr Trengove Abigail vertrat, überraschte Mabel nicht, denn ihre Cousine war ein passendes Klientel für Trengove, wo war die Verbindung jedoch zu Sarah Miller? Was hatte Sarah von dem Anwalt erfahren, woraufhin sie nach Higher Barton kam, um mit Abigail zu sprechen? Und, vor allen Dingen, warum behauptete Abigail, das Mädchen nicht zu kennen?

Mabel betrat einen Coffeeshop und kaufte sich einen Milchkaffee zum Mitnehmen. Sie hatte jetzt keine Ruhe, um sich an einen der Tische zu setzen. In Gedanken versunken ging sie die Fußgängerzone zum Parkhaus entlang, dabei nippte sie immer wieder an dem brühend heißen Kaffee.

„Fragen Sie Ihre Cousine …“ Die Worte hallten in Mabels Kopf nach. Der Verdacht, Sarah könne jemanden erpresst haben, nahm immer größere Gestalt an. Und dieser Jemand schien Abigail Tremaine zu sein. Was konnte das Mädchen gewusst haben, das Abigail schaden konnte? Deren Verhältnis zu Justin Parker konnte es nicht sein. In einer solch privaten Angelegenheit war sicher keiner der renommiertesten Anwälte Cornwalls involviert. Nein, es musste etwas Größeres sein, etwas, von dem ihre Cousine nicht wollte, dass es ans Tageslicht kam. Obwohl alles gegen Abigail sprach, wehrte Mabel sich vehement dagegen, ihre Cousine als Mörderin in Betracht zu ziehen.

Zurück im Hotel erwartete Mabel eine Nachricht, die ihr John Shaw überreichte.

„Es wurde für Sie angerufen, Miss“, sagte er. „Ich habe es notiert.“

Komm zurück nach Higher Barton. Es ist ein Skandal, wenn meine einzige noch lebende Verwandte im Hotel wohnt. Abigail. Mabel seufzte. Für Abigail war es bezeichnend, dass sie auf ihren Ruf bedacht war. Sie wollte Mabels Rückkehr nicht, weil sie mit ihr zusammen sein wollte, sondern weil die Leute reden könnten. Trotzdem würde Mabel der Aufforderung folgen. Ihre neusten Erkenntnisse machten es erforderlich, auf Higher Barton zu sein, denn nur dort konnte sie herauszufinden, was Sarah Miller und Abigail verband. John Shaw war zwar etwas pikiert, als Mabel die Rechnung verlangte und so rasch wieder auszog, half ihr aber, das Gepäck zum Wagen zu tragen. Mabel wollte gerade einsteigen, als Victor Daniels die High Street entlangkam. Mabel konnte ihm nicht ausweichen, denn der Tierarzt hatte sie bereits entdeckt.

„Die kleine Lucky können Sie jetzt holen, wenn Sie sie noch wollen“, sagte er brummend und sah auf einen imaginären Punkt irgendwo hinter Mabel.

„Lucky?“ Mabel brauchte einen Moment, um sich an die Katze zu erinnern. Richtig, sie hatte ja versprochen, das Tier zur weiteren Pflege nach Higher Barton zu nehmen.

„Dann ist sie wieder gesund?“, fragte sie.

„Hab’ vorhin den Draht entfernt, sie kann jetzt wieder alles fressen.“ Victor sah sie immer noch nicht an. „Hat verdammtes Glück gehabt, die Kleine. Sie haben ihr das Leben gerettet.“

„Victor …“ Mabel trat einen Schritt vor und legte eine Hand auf seinen Unterarm, die er nicht abschüttelte. „Ich verstehe, dass Sie sauer sind, und ich wollte Sie nicht beleidigen. Sie müssen aber zugegeben, wie irritierend Ihre Behauptung, Sie würden Michael Hampton nicht kennen, ist. Immerhin habe ich Sie und den jungen Mann erst vor ein paar Tagen zusammen gesehen.“

Victor Daniels ging auf Mabels Worte nicht ein, stattdessen knurrte er: „Hab’ versucht, ’ne neue Haushälterin zu finden. Sie wollten mir dabei doch helfen.“

Sie sah Victor entschuldigend an.

„Es tut mir leid, ich hatte dafür noch keine Zeit“, antwortete Mabel ausweichend. Tatsächlich hatte sie ihr Versprechen, dem Tierarzt zu helfen, eine Haushälterin zu finden, völlig vergessen. Kein Wunder, bei all dem, was in den letzten Tagen geschehen war.

Zum ersten Mal suchten Victors Augen ihren Blick.

„Muss Ihnen was sagen.“ Es war ihm offensichtlich peinlich, denn er trat von einem Fuß auf den anderen. „Wegen Michael Hampton … Sie haben recht. Ich kenne ihn, nun ja, erst seit ein paar Tagen, aber …“

Mabel wusste nicht warum, aber sie spürte, dass Victor Daniels dem jungen Mann nichts angetan hatte. Er war zwar brummig und ziemlich kauzig, ein Mensch jedoch, der derart liebevoll mit Tieren umging, war kein Mörder.

„Ja?“ Mabel sah ihn erwartungsvoll an.

„Nicht hier.“ Victor sah sich um. „Wollen Sie mit zu mir kommen? Hab’ Lust auf einen Tee, vielleicht wären Sie so freundlich ...?“

Mabel schmunzelte, das war typisch Victor, sie selbst konnte aber auch eine gute Tasse Tee gebrauchen. Die Fahrt nach Higher Barton konnte warten, denn eigentlich brannte Mabel darauf, Victor von ihren neusten Erkenntnissen zu berichten. Sie würde sich seine Erklärung, was Michael Hampton anging, anhören und dann entscheiden, ob sie dem Tierarzt wieder Vertrauen schenken konnte.

Nachdem Mabel in Victors Küche das gröbste Chaos beseitigt und Teewasser aufgesetzt hatte, räumte sie das Wohnzimmer auf, damit sie sich an den Tisch setzen konnten.

„Keine Widerrede, Victor“, sagte sie bestimmend. „Ich bringe Ihnen schon nichts durcheinander, in diesem Chaos ist es unmöglich, miteinander zu plaudern.“

Victor ließ sie hantieren, beobachtete aber jeden ihrer Handgriffe. Nach zehn Minuten befand sich das Wohnzimmer in einem Zustand wie wahrscheinlich seit Wochen nicht mehr, und Mabel holte die Teekanne und zwei Tassen aus Küche. Vergeblich suchte sie in den Schränken nach Keksen, aber eigentlich hatte sie gar keinen Hunger. Nachdem sie sich und Victor eingeschenkt hatte, kam er gleich zur Sache.

„Also, Mabel, ich bin Ihnen, was Michael Hampton angeht, eine Erklärung schuldig. Ihr Verdacht, ich könne etwas mit dem Unfall zu tun haben, hat mich schockiert.“

Mabel sah ihn schweigend an. Victor stand auf, ging zu einer Kommode und holte ein Fotoalbum heraus. Er blätterte in den Seiten, dann reichte er Mabel das Album. Sie blickte auf das Bild eines jungen, hübschen Mädchens, das aus hellblauen Augen in die Kamera strahlte.

„Meine Nichte Carol“, sagte Victor. „Die Tochter meiner jüngeren Schwester. Lebt in York und ist gerade siebzehn geworden.“

Mabel nickte, konnte sich aber nicht zusammenreimen, was Victors Nichte mit Michael Hampton zu tun haben könnte.

„Letztes Weihnachten hat Carol mich besucht. Ihre Eltern, also meine Schwester und ihr Mann, die haben eine Kreuzfahrt in die Karibik gewonnen, bei einem Preisausschreiben.“ Victor schmunzelte. „Hab’ in meinem ganzen Leben noch nie etwas gewonnen, aber kaum macht meine kleine Schwester bei so was mit, gewinnt sie gleich den Hauptpreis. Also, Carol konnte nicht mit, sie wollte auch nicht auf so ein spießiges Schiff mit lauter alten Leuten, wie sie sich ausdrückte, und so hat sie ihren alten Onkel besucht. Wir haben uns vorher kaum gesehen, ist doch eine weite Reise von York nach Cornwall. Carol will später Tiermedizin studieren, darum war es ganz gut, dass sie mal eine Zeit lang hier war.“

Langsam begann Mabel zu verstehen, worauf Victor hinauswollte. Leise fragte sie: „Und dann hat Ihre Nichte Michael Hampton kennengelernt?“

Er nickte grimmig. „Weiß nicht wo, aber plötzlich zog sie mit dem Typen rum. Hab’ ihr gesagt, dass sie für so etwas noch viel zu jung sei, sie wollte aber nicht hören. Meinte, sie wäre alt genug, um sich zu verlieben. Nun …“, Victor hob die Hände und seufzte, „dieser Scheißkerl hat sie geschwängert und sitzengelassen. Will natürlich nichts mehr davon wissen und meint, Carol wäre mit jedem ins Bett gestiegen.“

„Das ist ja schrecklich! Darüber haben Sie mit ihm auf der Straße gestritten.“

Victor nickte. „Wollte ihm sagen, dass er nicht so einfach davonkommt, zumindest Alimente muss er zahlen, wenn das Kind mal da ist. Er hat mich aber nur ausgelacht.“

„Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt, sondern geleugnet, Michael Hampton überhaupt zu kennen?“

Eine leichte Röte flog über Victors Wangen.

„Tja, spricht nicht gerade für mich, die Sache, oder? Schließlich wurde das Mädchen meiner Obhut anvertraut, und ich bringe sie schwanger ihren Eltern zurück. Die sind natürlich stinksauer, meine Schwester macht mir die Hölle heiß und nennt mich einen alten Trottel. Bin nicht gerade stolz darauf, dass ich auf Carol nicht besser aufgepasst habe.“

„Verständlich“, erwiderte Mabel und nickte. „Ich verstehe, dass Sie auf Michael nicht gut zu sprechen sind.“

Victors buschige Augenbrauen zogen sich über seiner Nasenwurzel zusammen.

„Mit dem Unfall hab’ ich nichts zu tun. Warum hätte ich ihm was tun sollen? Ich brauche ihn lebend, um beweisen zu können, dass er der Vater ist. Dann kann er zahlen. Oder vielmehr seine Eltern, die mir übrigens die Tür vor der Nase zugeknallt haben, als ich mit ihnen sprechen wollte.“

Mabel war geneigt, dem Tierarzt zu glauben, ein Rest Skepsis blieb jedoch. Victors Erklärung klang einleuchtend, Mabel konnte auch verstehen, dass er sich Vorwürfe machte, nicht bemerkt zu haben, dass seine Nichte sich mit Michael einließ, dennoch blieb Mabel zurückhaltend. So sehr es ihr auch unter den Nägeln brannte, jemandem von ihren Vermutungen über Sarah Miller und Abigail zu erzählen – Victor Daniels konnte sie im Moment nicht vollständig vertrauen. Mabel musste erst feststellen, inwieweit seine Ausführungen der Wahrheit entsprachen.

„Der Unfall ist trotzdem seltsam“, sagte Mabel und fixierte Victors Gesicht, in dem sich nichts regte. Er zuckte lediglich mit den Schultern.

„Wir wissen ja, wie die jungen Leute sind – sie trinken zu viel und fahren zu schnell.“

„Michael hatte nur ein Bier getrunken“, unterbrach ihn Mabel. „Außerdem war er ein guter Fahrer, und die Straße war trocken und an der Stelle, wo er den Unfall hatte, schnurgerade.“

Victor sah sie erstaunt an.

„Sie waren dort?“

Eigentlich hatte Mabel Victor das nicht verraten wollen, da es ihr aber nun herausgerutscht war, nickte sie.

„Ich kann mir nicht vorstellen, warum der junge Mann verunglückt ist. Sie müssen zugeben, Victor, die Sache ist äußerst seltsam.“

Victor schlug sich auf den Oberschenkel und rief laut: „Seltsam? Ich würde sagen, sie stinkt zum Himmel! Aber ich, meine liebe Mabel, habe damit nichts zu tun. Nicht das Geringste! Wie ich vorhin erklärte habe, hoffe ich, dass Michael überlebt, damit er die Verantwortung für sein Kind übernehmen kann.“

„Könnte Carol …?“ Sofort nachdem sie die beiden Worte ausgesprochen hatte, verengten sich Victors Augen und er sagte zornig: „Zu so etwas ist meine Nichte nicht fähig, außerdem ist sie in York.“ Er lachte bitter. „Als ich vor ein paar Tagen mit ihr telefonierte, musste ich leider feststellen, dass Carol diesen Mistkerl immer noch liebt und sich die Augen nach ihm ausweint.“

„Keinesfalls wollte ich Ihre Nichte verdächtigen.“ Mabel sah ihn entschuldigend an, trank dann ihre Tasse aus und stand auf. „Danke für den Tee, Victor.“

Er grinste. „Warum danken Sie mir? Sie haben ihn schließlich gemacht.“

„Auch wieder wahr“, entgegnete Mabel. „Sie sollten wirklich zusehen, bald eine neue Haushälterin zu finden.“

„Wir sollten mit dem Anwalt in Truro sprechen“, sagte er plötzlich zusammenhangslos.

„Das habe ich bereits getan“, antwortete Mabel. „Ich war heute Vormittag in Truro, der Anwalt unterliegt jedoch der Schweigepflicht und war nicht bereit, irgendwelche Auskünfte zu geben.“

In Victors Augen glomm Erstaunen.

„Sie sind allein nach Truro gefahren? Den ganzen Weg?“

„Warum nicht?“, gab Mabel barsch zurück. „Ich bin ja schließlich auch von London nach Cornwall gefahren, und diese Strecke ist ja wohl um einiges weiter als von hier nach Truro.“

„Na, wie das geendet hat, wissen wir ja.“ Diese Spitze konnte Victor sich nicht verkneifen. Mabel lag schon eine entsprechende Antwort auf der Zunge, als sein Telefon klingelte. Victor lauschte in den Hörer, seine Miene verzog sich sorgenvoll, dann sagte er: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin in zwanzig Minuten da.“

„Ein Notfall?“, fragte Mabel.

„Ja, eine Stute ist gestürzt und scheint sich ein Bein gebrochen zu haben.“ Victor zog seine Jacke über und eilte zur Tür. „Es tut mir leid, unser Gespräch derart abrupt beenden zu müssen, aber …“

„Das Tier geht vor“, warf Mabel schnell ein. „Ich hoffe, Sie können die Stute retten.“ Mabel wusste, was ein Beinbruch bei einem Pferd bedeutete. Oft blieb hier nur noch die Möglichkeit des Gnadenschusses.

Victor nahm seine Tasche, die immer griffbereit in der Diele stand und eilte zu seinem Jeep. Während er einstieg tippte er sich kurz an seine Kappe und rief: „Wegen des Anwaltes … da sprechen wir noch mal … Ich bin sicher, wir werden was erfahren können.“

Mabel nickte zwar, ihr Misstrauen gegenüber Victor wuchs jedoch. Deutlich erinnerte sie sich, wie der Tierarzt sich verhalten hatte, als sie in Sarahs Zimmer Trengoves Visitenkarte fand. Obwohl Victor gemeint hatte, jeder in Cornwall kannte den Namen des Anwaltes, hatte sie bereits damals gespürt, dass Victor mehr mit ihm verband, als dass er nur seinen Namen kannte. Seine Bemerkung, er sei sich sicher, etwas in Erfahrung bringen zu können, machte Mabel nun erst recht stutzig. Obwohl Victors Erklärung, warum er mit Michael Hampton in Streit geraten war, plausibel klang, trug sein Verhalten, was Trengove anging, nicht dazu bei, dass sie ihm wieder vertrauen konnte. Victor verschwieg eindeutig etwas – etwas, was in diesem Fall von Wichtigkeit war. Mabel wusste, wenn sie ihn direkt danach fragen würde, erhielte sie wieder nur eine ausweichende, wahrscheinlich sogar einleuchtend klingende Erklärung. Während sie dem Tierarzt nachsah, als er in seinem Jeep davonfuhr, bedauerte sie, sich derart in ihm getäuscht zu haben. Sie würde sehr vorsichtig sein müssen.