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Mabel fieberte der Probe am Abend entgegen, da sie dann einen plausiblen Grund hatte, Higher Barton für ein paar Stunden zu verlassen. Ihr fiel es sichtlich schwer, Abigail gegenüber die Contenance zu bewahren und sich nicht anmerken zu lassen, dass sie Bescheid wusste.

Mabel war eine halbe Stunde vor Beginn der Probe im Gemeindesaal. Wie erhofft, war Eric Cardell schon anwesend, und Mabel zeigte ihm die drei ausgebesserten Kostüme. Der Regisseur warf einen kurzen Blick darauf, offenbar verstand er nichts von Nadelarbeiten, und murmelte: „Sehr schön, danke. Ich bin für deine Hilfe sehr dankbar.“

Mabel gab sich einen Ruck und fragte: „Sagen Sie … ähm … sag mal, Eric, diese Sarah Miller … sie war keine von hier?“

„Nein, und das hätte mir eine Lehre sein sollen“, gab Eric zur Antwort, seufzte und eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. „Die Leute von Lower Barton hängen nämlich an ihrer Geschichte und würden niemals ohne triftigen Grund Knall auf Fall verschwinden.“

„Ist es denn sicher, dass Sarah einfach abgehauen ist?“, hakte Mabel nach. „Vielleicht traten Umstände ein, die sie veranlassten zu gehen.“

Eric wirkte verärgert. „Es ist zwar nett, dass du versuchst, sie in Schutz zu nehmen, Mabel, Sarah hätte mich trotzdem informieren können, selbst wenn sie kurzfristig abreisen musste. Wozu gibt es schließlich Handys? Außerdem hat sie ihrer Wirtin gesagt, dass sie nicht wiederkommen würde.“

„Das hat sie gesagt? Ihrer Wirtin?“ Mabel sah ihre Chance. „Wo hat Sarah denn gewohnt?“

Eric wirkte nicht misstrauisch ob Mabels Fragen, sondern antwortete: „Bei Catherine Bowder, einer Witwe, die in der Talland Street eine Bed-and-Breakfast-Pension betreibt. Wir haben uns alle gewundert, warum Sarah sich nicht eine kleine Wohnung gemietet hat, wäre doch viel günstiger gewesen.“ Er seufzte und zuckte mit den Schultern. „Nun, wahrscheinlich hatte sie von Anfang an vorgehabt, nur kurze Zeit zu bleiben, da lohnte sich die Anmietung einer Wohnung natürlich nicht.“

„Wie lange war Sarah eigentlich in Lower Barton?“ Mabel hoffte, es würde noch niemand vom Ensemble kommen, denn Eric Cardell war in einer gesprächigen Stimmung, die sie ohne Zuhörer ausnutzen musste.

„Lass mich überlegen …“ Nachdenklich legte er einen Finger auf seine Nasenspitze. „Zum ersten Mal sah ich Sarah Anfang März. Es war auf der Straße, und sie fiel mir sofort auf, da sie eine große Ähnlichkeit mit Mary Lerrick hat. Obwohl ich nicht der Typ bin, der Frauen auf der Straße anspricht, musste ich es in diesem Fall einfach tun. Das Wunder geschah tatsächlich – Sarah meinte, sie hätte Schauspielerfahrung und war bereit, gleich am Abend zu einer Probe zu kommen. Nach wenigen Minuten wusste ich, dass ich mit ihr die neue Hauptdarstellerin gefunden habe. Sarah glich Mary Lerrick nicht nur auf eine fast schon unheimliche Art und Weise, sie spielte auch noch, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Nie zuvor hat ein Mädchen der Rolle so viel Leben und Realität eingehaucht. Sie meinte, dass sie erst wenige Tage, bevor ich sie angesprochen hatte, nach Lower Barton gekommen sei.“

„Erwähnte Sarah, woher sie kam und was sie hier wollte?“ Atemlos harrte Mabel seiner Antwort, aber Eric schüttelte nur den Kopf.

„Nee, aber frag doch mal Rachel. Ich hatte den Eindruck, die beiden Mädchen hätten sich angefreundet. Steckten jedenfalls andauernd die Köpfe zusammen, wenngleich Rachel wenig Freizeit hat. Rachel kümmert sich um ihren Vater und ihre Geschwistern, seit …“

„Ich weiß darüber Bescheid“, unterbrach Mabel rasch, denn die Tür öffnete sich und Jennifer Crown trat in den Saal. Mabel wollte nicht, dass die junge Frau von ihrem Interesse an Sarah etwas mitbekam.

Auf so dünnen High Heels, dass Mabel sich unwillkürlich fragte, wie man darin laufen konnte, ohne sich die Köchel zu brechen, trippelte Jennifer mit einem hochnäsigen Blick auf Eric zu. Mabel zog sich soweit zurück, dass es den Anschein hatte, sie beschäftige sich mit einem Kostüm, sie aber noch jedes Wort hören konnte.

„Wie du siehst, habe ich es mir überlegt.“ Jennifers Stimme klang sehr selbstbewusst. „Selbstverständlich lasse ich die Aufführung nicht platzen und werde die Mary spielen. Ich verlange allerdings, dass neue Plakate mit meinem Foto gedruckt und sofort aufgehängt werden.“

„Das ist unmöglich!“ Hilflos hob Eric die Hände. „Die Aufführung ist in drei Wochen, allein das Drucken dauert acht bis zehn Tage, und bis sie dann verteilt sind …“

„Nun, wenn du nicht willst.“ Jennifer zuckte mit den Schultern und drehte sich zum Gehen. Mabel wurde es über ihre Arroganz beinahe übel. „Ich habe meinen guten Willen bewiesen, an mir liegt es also nicht, wenn die ganze Stadt über dich lacht.“

„Warte!“ Mit einem Schritt war Eric neben Jennifer und hielt sie am Arm fest. „Also gut, du sollst neue Plakate haben. Mail mir nachher ein gutes Foto von dir im Kostüm, ich werde es gleich ins Layout einarbeiten und gebe es noch heute an die Druckerei.“

Jennifer nickte zufrieden, strich eine Strähne ihres langen Haares aus der Stirn und stöckelte zu einem der Stühle, die bereits in einem Halbkreis aufgestellt waren. Aus ihrer Handtasche holte sie einen Taschenspiegel, betrachtete ihr Gesicht und zog sich die Lippen in einem hellen Rosa nach. In diesem Moment trafen die anderen Schauspieler ein, grüßten freundlich Eric und Mabel und bemerkten dann Jennifer. Der Blick, den sich zwei ältere Frauen zuwarfen, sprach Bände: Jennifer war also wieder mit im Ensemble, und die Aufführung damit gerettet. Ungeduldig wartete Mabel auf Rachel Wilmington, aber erst als Eric mit der Probe bereits begonnen hatte, öffnete sich die Tür, und Rachel drückte sich herein.

„’Tschuldigung“, murmelte sie und setzte sich unweit von Mabel auf einen freien Platz in der hintersten Reihe. Das Mädchen wirkte gehetzt, ein paar Haarsträhnen hingen unordentlich aus ihrem Knoten, und auf ihrem beigefarbenen T-Shirt prangte ein brauner Soßenfleck.

Eric Cardell ließ die Szene, in der Mary Lerrick auf das Schafott geführt wird, von Jennifer proben.

„… und hiermit erkläre ich euch allen, dass ich unschuldig bin!“, rief Mary beziehungsweise Jennifer und blickte in die Runde. „Ihr macht einen großen Fehler …“

Wenngleich Jennifers Stimme noch immer etwas affektiert klang, machte sie ihre Sache gut, und Mabel folgte gebannt der Szene. Alex, der den Henker spielte, legte eine Schlinge um Jennifers Hals und zog sie leicht zu. Mabel lief es eiskalt den Rücken hinunter, als sie Alex’ große Hände mit den kurzen, dicken Fingern betrachtete. So war auch Sarah gestorben. Jemand hatte ihr einen Strick um den Hals gelegt und zugezogen …

„He, was ist mir dir?“ Der Mann neben ihr stupste sie in die Seite. „Geht es dir nicht gut?“

Mabel hatte nicht bemerkt, dass sie während der bedrückenden Szene laut gestöhnt hatte. Sie warf dem Mann einen entschuldigenden Blick zu.

„Ich sehe die Szene zum ersten Mal“, erklärte sie und bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln. „Sie wirkt so lebensecht, als ob …“

Der Mann beugte sich näher zu ihr und flüsterte: „Ja, Jennifer macht das ganz gut, wenngleich Sarah besser war. Wie die auf dem Schafott stand … da bekam man wirklich eine Gänsehaut am ganzen Körper und man vergaß beinahe, dass alles nur ein Spiel war.“

„Ruhe dahinten!“ Laut donnerte Erics Stimme durch den Saal, und Mabel und der Mann fuhren erschrocken auseinander. „Hugh, wir proben jetzt die Festnahme.“

Der Mann neben Mabel, Hugh, erhob sich und mit ihm rund ein Dutzend anderer. Dieser Probelauf verlief ebenfalls reibungslos, ebenso wie die folgenden Szenen. Mabel zollte Eric Respekt, denn die Abläufe waren gut organisiert und durchdacht. Die zwei Stunden der Probe verflogen rasch und ohne einen nennenswerten Vorfall. Am Ende ging sie mit Rachel, die nur eine kleine Statistenrolle hatte und als Zuschauerin bei der Hinrichtung von Mary Lerrick fungierte, erneut in den Raum, in dem die Kostüme lagerten. Mabel überlegte, ob sie das Mädchen auf ihren Vater ansprechen sollte, unterließ es jedoch, denn das hätte Rachel nur verschreckt. Stattdessen fragte sie: „Du hast nichts von Sarah gehört?“

Rachel zögerte erst, schüttelte dann aber den Kopf. Mit einem traurigen Blick sagte sie: „Sie wird sich bei mir melden, sobald sie geklärt hat, was sie klären wollte.“

Mabel horchte auf. „Dann gab es etwas, was Sarah beschäftigte? Warum ist sie eigentlich nach Lower Barton gekommen? Sie war doch nicht aus dieser Gegend, nicht wahr?“

Skeptisch blickte Rachel Mabel an, und diese befürchtete, das Mädchen würde erneut fragen, was sie das eigentlich anginge. Rachel war heute aber offenbar in einer solch niedergedrückten Stimmung, dass sie leise antwortete: „Ich weiß es nicht. Wenn ich Sarah danach fragte, dann meint sie immer, ich solle mir nicht meinen Kopf über ihre Angelegenheiten zerbrechen.“ Rachel zuckte mit den Schultern. „So ist sie eben. Wenn man zu sehr in sie dringt, dann entzieht sie sich einem. Sie will nicht, dass man ihr nachschnüffelt. Ich habe das akzeptiert, im Gegensatz zu anderen.“

„Michael zum Beispiel?“

„Michael!“ Rachel rümpfte verächtlich die Nase. „Über den und sein Süßholzgeraspel hat Sarah nur gelacht. Seine Nachstellungen sind ihr gehörig auf die Nerven gegangen.“

„Für einen so gutaussehenden Mann wie Michael muss es ein herber Schlag gewesen sein, von Sarah abgewiesen zu werden“, hakte Mabel nach. „Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich sauer auf sie war.“

„Sauer ist kein Ausdruck.“ Rachel lachte freudlos. „Michael war richtig wütend. Einmal hat er Sarah sogar angeschrien, sie würde es noch bereuen, ihn abgewiesen zu haben.“

„Er hat sie bedroht?“ Mabels Herzschlag beschleunigte sich. „Glaubst du, Michael wäre fähig, Sarah etwas anzutun?“

Rachel erbleichte. „Sarah ist nichts passiert!“, rief sie laut. „Auch wenn Michael oft große Töne spuckt, er würde Sarah doch niemals etwas antun.“

„Jennifer Crown hat auch ihre Gründe, Sarah nicht zu mögen“, erinnerte Mabel, in deren Kopf sich einzelne Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammensetzten. „Du sagtest, Michael und Jennifer waren einst ein Paar. Was, wenn sie sich wieder zusammengetan haben und …“

„Hören Sie auf!“ Rachels Stimme überschlug sich, und sie starrte Mabel aus weit aufgerissenen Augen an. „Was wollen Sie eigentlich von mir? Sie kennen Sarah doch gar nicht! Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe? Warum lasst ihr alle mich nicht einfach in Ruhe?“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Hektisch griff sie nach ihrer Sweaterjacke, die sie vorher achtlos in ein Regal gelegt hatte. Ein Ärmel verfing sich an einer Kante, und Rachel zog heftig an der Jacke. Dabei fiel ein länglicher Briefumschlag zu Boden. Bevor Rachel reagieren konnte, hatte sich Mabel bereits gebückt und den Umschlag aufgehoben. Obwohl sie ihre Lesebrille nicht aufhatte, konnte sie die Adresse gut lesen, da sie in einer großen und geraden Schrift geschrieben war: Sarah Miller, 16 Campbell Street, St Pauls, Bristol, BS2.

„Geben Sie das her!“ Mit einem Ruck riss Rachel ihr den Brief aus der Hand. „Das geht Sie gar nichts an!“

Mabel wusste, wann es besser war zu schweigen. Sie hielt Rachel nicht zurück, als diese regelrecht aus dem Raum flüchtete. An der Tür rief sie Mabel über die Schulter zu: „Sie finden ja allein raus. Ziehen Sie einfach die Tür hinter sich ins Schloss.“

Kaum war Rachel verschwunden, wühlte Mabel in ihrer Handtasche nach einem Kugelschreiber und einem Zettel. Sie fand einen Kassenbon von TESCO und schrieb die Adresse auf die Rückseite, bevor sie sie vergaß. Sarah lebte also in Bristol. Vielmehr – sie hatte dort gelebt, und Rachel hatte ihr einen Brief geschrieben, den sie offenbar noch heute in den Postkasten werfen wollte. Mabel wusste nicht, was sie mit dieser Information anfangen sollte, vielleicht würde sie aber wichtig sein.

Sie beschloss, als Nächstes Sarahs Pensionswirtin aufzusuchen. Vielleicht würde sie dort weitere Hinweise auf Sarahs Leben und den Grund, warum sie nach Cornwall gekommen war, finden.

Catherine Bowder war eine ältere kleine und pummelige Frau mit einem flotten hellrot gefärbten Kurzhaarschnitt. Zu Mabels Überraschung lag das Bed-and-Breakfast-Cottage in der Talland Street nur drei Häuser von Dr. Daniels Praxis entfernt.

Nachdem Mabel sich nach Sarah Miller erkundigte hatte, bat Catherine Bowder sie herein und bot ihr einen Holunder-beerwein an.

„Habe ich selbst gemacht“, sagte Mrs Bowder mit einem Augenzwinkern. „Selbstverständlich nur für den Eigenbedarf, sonst wäre es ja ungesetzlich.“

Mabel lehnte mit der Begründung, sie müsse fahren, dankend ab.

„Sarah Miller …“ Kopfschüttelnd schenkte sich Mrs Bowder ein Glas von dem dunkelroten Wein ein, nippte daran und fuhr dann fort: „War ein nettes Mädchen, ja, das war sie. Etwas schrill vielleicht, aber so sind die jungen Leute von heute eben.“

„Was meinen Sie genau mit schrill?“, hakte Mabel nach.

„Nun, ihre Kleidung war … wie sagt man … flippig. Wissen Sie, so mit Löchern in den Hosen. Also, in unserer Jugend hätten wir das geflickt oder weggeworfen, heute geben die Leute eine Menge Geld für kaputte Klamotten aus. Sarah hat immer gesagt, was sie denkt, und nie ein Blatt vor den Mund genommen.“

Mabel horchte auf. „Hat es zwischen ihr und anderen Gästen Ärger gegeben?“

Catharine Bowder schüttelte den Kopf. „Nein, Sarah war mein einziger Gast. Wissen Sie, um die Jahreszeit ist hier nicht so viel los. Die meisten Gäste kommen erst ab Pfingsten, so habe ich Sarah auch einen Sonderpreis machen können. Sie wusste nicht, wie lange sie bleibt. Das Mädchen hat mir auch nicht den Eindruck gemacht, als wäre es mit Reichtum gesegnet, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Mabel nickte und fragte: „Hat sie je erwähnt, woher sie kam und was sie nach Lower Barton führte?“

„Nicht dass ich mich erinnern könnte.“ Mrs Bowder schenkte sich ein zweites Glas Wein ein und sah Mabel an. „Nicht doch einen Schluck? Er schmeckt wirklich köstlich.“

Mabel wehrte lächelnd ab. „Ich möchte meinen Führerschein nicht riskieren, danke“, sagte sie und kam wieder auf Sarah zu sprechen. „Wann haben Sie das Mädchen zum letzten Mal gesehen?“

„Am letzten Freitag, ich erinnere mich genau. In der Nacht kam sie sehr spät zurück in die Pension, es war beinahe vier Uhr morgens. Nicht dass ich meinen Gästen hinterher spioniere, aber manchmal schlafe ich schlecht. Deshalb habe ich die Haustür gehört, und da nur Sarah hier wohnte, konnte es niemand anderes sein. Am Samstag kam sie nicht zum Frühstück herunter, was mich nicht wunderte, weil sie so lange aus war. Hab’ mich nur gefragt, wo sie war, denn Lower Barton bietet für junge Leute nicht gerade viel Abwechslung, verstehen Sie? Kein Kino oder gar eine Disko. In Polperro oder Looe ist auch nicht viel los, man muss schon rüber nach Plymouth fahren, um sich zu amüsieren.“

„Vielleicht war Sarah dort?“, warf Mabel ein.

Ein erneutes Kopfschütteln. „Ich denke nicht, denn sie hatte ja kein eigenes Auto. Und es hat sie auch niemand abgeholt oder heimgebracht, denn das hätte ich mitbekommen, also …“ Catherine Bowder brach ab und wurde leicht verlegen, „ich meine, ich hätte gehört, wenn ein Wagen vor dem Haus gehalten hätte. Hier ist nämlich in der Nacht nie etwas los.“

Mabel juckte es in den Fingern, nun doch nach einem Glas Wein zu fragen, um ihre Aufregung zu verbergen. Sie war jedoch vernünftig genug, es bleiben zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit, in dieser Gegend in eine Polizeikontrolle zu geraten, war zwar gering, sie brauchte ihren Führerschein aber noch und wollte nichts riskieren.

„Wann war Sarah Miller dann fort?“, fragte sie.

„Gegen Abend. Vergangenen Samstag war ich drüben in Fowey bei einer Bekannten. Ich fuhr am späten Vormittag los und als ich gegen sechs Uhr am Abend wieder hier war, fand ich auf der Anrichte im Frühstückszimmer einen Umschlag vor. Darin steckte das Geld für die Miete, die Sarah mir noch schuldete, und eine kurze Nachricht, dass sie leider kurzfristig abreisen musste. Als ich in ihr Zimmer hochging, stellte ich fest, dass ihre Sachen weg waren. Sie hat ohnehin nicht viel gehabt, nicht mehr als eine Sporttasche voll, mit der sie hier ankam.“

Mabel nickte nachdenklich. Im Laufe des Samstages könnte Sarah Miller sich mit jemandem getroffen haben, und dieser Jemand hatte sie dann – aus welchem Grund auch immer – nach Higher Barton gelockt, um sie dort zu ermorden. So passte es zumindest einigermaßen ins Bild. Wenn Sarah jedoch bereits um sechs Uhr die Pension verlassen hatte – wo war sie die nächsten Stunden gewesen? Mabel interessierte brennend die Zeit nach der Theaterprobe, denn Rachel hatte erwähnt, dass am Samstagabend eine Probe stattgefunden hatte. Im Herrenhaus konnte Sarah nicht gewesen sein, denn Abigail feierte ja ihren Geburtstag und hatte gesagt, es wäre keine junge Frau unter den Gästen gewesen. Außer – und diesen Gedanken wagte Mabel nicht weiterzudenken – Abigail sagte nicht die Wahrheit. Welchen Grund hätte sie, die Anwesenheit von Sarah Miller zu leugnen? Und warum hatte das Mädchen Mary Lerricks Kostüm nach der Probe anbehalten oder es in den frühen Morgenstunden erneut angezogen?

„Geht es Ihnen gut?“ Besorgt sah Catherine Bowder Mabel an, die wieder einmal nicht gemerkt hatte, dass sie laut geseufzt hatte. „Sind Sie eigentlich eine Verwandte von Sarah oder warum wollen Sie das alles über das Mädchen wissen?“

Mabel, die diese Frage erwartet hatte, antwortete unbefangen: „Ach, ich helfe Eric Cardell, der das Theaterstück ›Verrat in Lower Barton‹ inszeniert, und so erfuhr ich, dass seine Hauptdarstellerin von einem Tag auf den anderen Tag verschwand.“ Sie sah Mrs Bowder mit offenem Blick an und lächelte. „Sie wissen ja, wie das ist. Wenn man älter wird, hat man irgendwie zu viel Zeit, und ich dachte, vielleicht kann ich Mr Cardell helfen, Sarah zu finden. Sie wäre nämlich eine bessere Hauptdarstellerin als Jennifer Crown, die die Rolle sehr überzogen und melodramatisch verkörpert.“

Als Mabel den Namen der jungen Schauspielerin erwähnte, fiel ein Schatten über Catherines Bowders Gesicht. Plötzlich schien sie es eilig zu haben, denn sie deutete zur Tür.

„Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen, Miss Clarence, ich habe zu tun.“ Ihre Stimme klang plötzlich kühl und sie wich Mabels Blick aus. Erst als Mabel bereits vor dem Haus stand und sich bei Mrs Bowder bedanken wollte, sagte diese: „Jennifer Crown ist übrigens meine Enkelin. Ich halte sie für eine ganz hervorragende Schauspielerin und fand es von Eric äußerst respektlos, sie einfach aus der Rolle zu werfen, als Sarah kam.“

Ohne einen Abschiedsgruß schloss sie die Tür und ließ Mabel verwirrt zurück.

Sie bereute ihre Worte über Jennifer, verständlich, dass Mrs Bowder ihre Enkelin verteidigte. Wahrscheinlich würde morgen die ganze Gruppe wissen, dass sie Nachforschungen über Sarah Millers Verschwinden anstellte. Plötzlich bekam die Aussage von Catherine Bowder einen anderen Blickwinkel. Die Pensionswirtin hatte sich über Sarah zwar freundlich geäußert, Mabel bezweifelte jedoch, dass Mrs Bowder Sarah sonderlich gemocht hatte, da Sarah ihrer Enkelin die Rolle fortnahm. Mabel hatte keine Kinder, geschweige denn Enkelkinder, sie konnte sich jedoch gut vorstellen, wie Mrs Bowder sich gefühlt haben musste. Sie musste es doch unheimlich geärgert haben, dass Jennifer ausgebootet worden war, und dann noch von einem Mädchen, das unter ihrem Dach wohnte. Ihr deswegen aber gleich einen Mord zuzutrauen, hielt Mabel allerdings für überzogen. Obwohl … Mabel erinnerte sich an Mrs Bowders untersetzte Statur, und als sie den Wein eingeschenkt hatte, waren ihr die kräftigen Hände aufgefallen. Sie schüttelte sich wie ein junger Hund, der ins Wasser gefallen war. Die Motive, die Mabel bisher für einen Mord an Sarah Miller in Erfahrung bringen konnte, waren mehr als dürftig: Michael Hampton aus verschmähter Liebe, Jennifer Crown aus Neid, Catherine Bowder, weil sie ihre Enkelin wieder in erster Reihe sehen wollte, und Abigail … Mabel schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, als könne sie damit ihre Gedanken verscheuchen. Es gab keinen, nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass Sarah Miller mit Higher Barton etwas zu tun gehabt hatte oder dass sie und Abigail sich kannten. Hier sah sie nun wirklich Gespenster.

Warum wurde sie dann im Haus deiner Cousine erdrosselt? Die leise Stimme in Mabels Hinterkopf wurde immer lauter und ließ sich nicht leugnen. Die Sache wurde immer verzwickter, und Mabel immer entschlossener, der Sache auf den Grund zu gehen.

Da sie ihr Auto auf dem Parkplatz des Supermarktes am Ortsrand geparkt hatte, ging Mabel langsam die Talland Street hinunter. Dabei war sie derart in Gedanken versunken, dass sie Victor Daniels erst bemerkte, als er seinen Jeep neben ihr stoppte.

„Miss Mabel, wollten Sie mich besuchen?“

Mabel zuckte erschrocken zusammen.

„Oh, Victor … ich habe Sie nicht gesehen …“

Er lächelte, und Mabel schaute genauer hin. Ja, tatsächlich – Victor Daniels lächelte und sah damit weit weniger griesgrämig aus, als Mabel ihn je zuvor gesehen hatte.

Er stieg aus und fragte: „Sicher wollen Sie wissen, wie es unserer kleinen Patientin geht.“

„Patientin?“ Mabel wusste nicht gleich, von wem er sprach, dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. „Ach so, ja, die kleine Katze. Wird sie es denn schaffen?“

Daniels deutete auf sein Haus.

„Seit gestern frisst sie selbstständig. Kommen Sie rein, dann können Sie sich persönlich überzeugen.“

Mabel zögerte. Abigail wartete bestimmt mit dem Abendessen auf sie. Andererseits – sie fühlte sich im Moment nicht in der Lage, ihrer Cousine unbefangen gegenübertreten zu können.

„Gerne, Victor, ich sollte nur kurz auf Higher Barton anrufen und Bescheid geben, damit mit dem Essen nicht auf mich gewartet wird.“

Mabel spürte, wie sie ruhiger wurde und die Ereignisse und Erkenntnisse des Tages von ihr abfielen. Wenn sie gewusst hätte, was sich zur selben Zeit am anderen Ende von Lower Barton zutrug, wäre es mit der Ruhe nicht weit her gewesen.